Zehn Merkwürdigkeiten der ukrainischen Avantgarde (1910-1930)

OLEH KOZAREW

A.d.Ü.: Bei den Gedichten handelt es sich um leicht bearbeitete Interlinearübersetzungen, es soll vor allem der Inhalt wiedergegeben werden.

1. Hundert Jahre danach
Mein Name ist Oleh Kozarew, ich bin ukrainischer Schriftsteller, Journalist, Essayist und Übersetzer. Heute begeben wir uns gemeinsam etwa hundert Jahre zurück – in eine Zeit, als sich in der Kultur, vor allem in der Literatur, avantgardistische Experimente entfalteten. Die Avantgarde der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine internationale Strömung. Dennoch hatte sie in jedem Land ihre Besonderheiten, über die woanders wenig bekannt ist. Daher möchte ich über die ukrainische Avantgarde berichten, vor allem über die Lyrik der ukrainischen Avantgarde. Und weil es nicht möglich ist, die ganze Geschichte im Detail zu referieren, möchte ich einige bemerkenswerte und auch etwas kuriose Sujets vorstellen, die exemplarisch zeigen, was sich in der Avantgarde abspielte.

Am bekanntesten und sichtbarsten waren die bildenden Künstler der ukrainischen Avantgarde – diejenigen, die in der Ukraine lebten und arbeiteten oder mit ihr verbunden waren. Zum Beispiel Oleksandra Ekster oder Oleksandr Archypenko. Mit dem ukrainischen Kontext eng verbunden war auch der in Kiew geborene Kazimir Malevič. In der Ukraine drehte Dziga Vertov seinen beispielhaften Experimentalfilm Der Mann mit der Kamera. Der in der Nähe von Kiew geborene Regisseur Eugène Deslaw, der eigentlich Jevhen Slabčenko hieß und seine avantgardistischen Ideen in Frankreich und Spanien realisierte, sah sich immer als Mittler zwischen dem ukrainischen und dem westeuropäischen Film.

In der ukrainischen Literatur entwickelten sich als avantgardistische Strömungen vor allem der Futurismus und der Konstruktivismus, in geringerem Maße der Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus und Scientismus.

In der Lyrik begann die Avantgarde während des Ersten Weltkriegs und endete kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Ende war teilweise durch die sowjetische Zensur bedingt, teilweise dadurch, dass die kaleidoskopische, halsbrecherische, karnevaleske Realität in der Kultur und Gesellschaft Europas der Zwischenkriegszeit zu Ermüdungserscheinungen führte. Interessanterweise kehrt die ukrainische literarische Avantgarde erst jetzt, fast hundert Jahre später, als aktives kulturelles Phänomen zurück – genau in der Zeit, in der ein neuer Krieg in Europa begonnen hat – die Aggression Russlands gegen die Ukraine. Ein trauriges Zusammentreffen, ein „Zeitportal“: 2014 erscheint die erste mehr oder weniger vollständige Anthologie der ukrainischen Avantgarde-Lyrik. Im Jahr darauf wird dort, wo Mychajl’ Semenko, der 1937 erschossene führende Vertreter des Futurismus begraben liegt, eine Gedenktafel angebracht und die Verwandten der ukrainischen Lyrikerin Ljubov Jakymčuk, die das umkämpfte Gebiet verlassen mussten, ziehen in das Dorf Kybynci, wo Semenko geboren wurde.

2. Valer’jan Poliščuk und ein Bett für die Liebe
Der Lyriker Valer’jan Poliščuk (1897-1937) führte ein intensives Leben. Zu Zeiten des Krieges, der nach der Revolution von 1917 im ehemaligen Russischen Reich ausbrach, war Poliščuk eine Weile als Propagandist der Armee der Ukrainischen Volksrepublik tätig, geriet in die Gefangenschaft der Weißen Armee und floh, indem er aus dem Fenster des Hotels sprang, in dem man ihn eingesperrt hatte.
Als der Großteil der Ukraine vom Sowjetregime beherrscht war, wurde Poliščuk zu einem überaus produktiven Schriftsteller, er stand an der Spitze der literarischen Gruppierung Avantgarde, die mit einigen Einschränkungen als konstruktivistisch bezeichnet werden kann, und gab die gleichnamige Zeitschrift in Charkiw heraus. Dabei fand er noch Zeit für ein Leben in der Boheme und auch dafür, mit den Kindern des Hauses, in dem er lebte, eine Vorstellung für ein nahegelegenes Roma-Lager zu organisieren.

Valer’jan Poliščuk war vielleicht der erste ukrainische Lyriker, der offiziell im Zuge eines Ermittlungsverfahrens wegen Pornografie angeklagt war. Dabei enthält aus heutiger Sicht sein Werk überhaupt nichts Pornografisches. Manchmal finden sich recht zurückhaltende erotische Motive und eine gewisse Betonung der Körperlichkeit, aber ohne Details. Ein Beispiel ist etwa ein Poem über Masturbation als Revolte gegen die Determiniertheit eines „richtigen“ Sexuallebens, das allerdings recht sanft und traditionell geschrieben ist. Was die Moralisten der 1920er-Jahre vor allem beschäftigte, war das Motto „Es lebe der öffentliche Kuss auf die nackte Brust!“ in der Zeitschrift Avantgarde sowie eine Notiz in derselben Zeitschrift darüber, dass Poliščuk zusammen mit dem konstruktivistischen Künstler Vasyl Jermylov ein spezielles Bett für Sex entwickelte. Allerdings war in dem Gesamturteil, das Poliščuk von einem sowjetischen Pseudogericht verkündet wurde, von Pornografie keine Rede mehr. Er war wegen der Beteiligung an einer nicht existierenden aufständischen Organisation angeklagt – seltsamerweise waren den sowjetischen Ermittlern zufolge fast ausschließlich Schriftsteller daran beteiligt. Poliščuk wurde 1937 im karelischen Waldgebiet Sandarmoch erschossen, wo auch Tausende andere den stalinistischen Repressionen zum Opfer fielen.

3. Zirkus
Die einzige weibliche Vertreterin der ukrainischen Avantgarde scheint Raїsa Trojanker (1909-1945) gewesen zu sein. Warum es in der experimentellen ukrainischen Literatur so wenige Frauen gegeben hat, lässt sich nur schwer beantworten – ein gutes Thema für weitere Forschungen. Raїsa Trojanker wurde in der zentralukrainischen Stadt Uman in eine sehr konservative religiöse jüdische Familie hineingeboren. Damals gab es dort eine große jüdische Gemeinde, ein klassisches Schtetl; heute ist Uman ein wichtiger Wallfahrtsort der Chassiden. Man kann sich vorstellen, was für ein Schock es für Raїsas Familie war, als sie mit etwa fünfzehn Jahren von Zuhause weglief, zusammen mit dem Tigerdompteur eines Wanderzirkusses. Das war nicht einfach nur eine Romanze – Raїsa Trojanker wurde selbst Dompteurin und behielt als Erinnerung an die Arbeit im Zirkus eine Narbe auf dem Oberschenkel.

Nachdem sie ihre Tiger dressiert hatte, fuhr sie nach Charkiw, der damaligen Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik, wo sie begann, ihre Gedichte zu publizieren. Diese sind stilistisch sehr unterschiedlich und sie glänzen nicht immer. Eine Zeitlang stand sie den Konstruktivisten der Avantgarde nahe und schrieb eine Reihe entsprechender Gedichte.

Baut Häuser!
Feste Häuser!
Schlanke Wolkenkratzer.
Wir brauchen keine Gehöfte,
Engen Haziendas
Auch keine kleinen Ranchos
Gieriger Eigentümer.
Ich lieb ein Zimmer
Hoch und jung.
Ein weites Zimmer,
Ein breites Fenster,
Das Haus
– die Kommune
Das Haus – die Kommune.
Lieb ich schon lang.

Dieses Gedicht erinnert an die 1920er- und 1930er-Jahre, als die Ukraine ein Zentrum der konstruktivistischen Architektur war. Eine glänzende Umsetzung dieses Stils zeigen das Deržprom-Gebäude in Charkiw und das Dnipro-Kraftwerk DniproHES (ehemals Dniprel’stan) in Zaporižžja. In der damaligen Architekturszene gab es zahlreiche Vertreter, die gerne experimentierten. Einige entwickelten die Idee des „kollektiven Lebens“. Die radikalsten von ihnen schlugen vor, auf individuelle Schlafzimmer in den Wohnhäusern zu verzichten, was allerdings in der Architektur der Ukraine keine Umsetzung fand. Dafür wurde am Stadtrand von Charkiw der Bezirk „Neu-Charkiw“ gebaut, in dem viele Häuser keine Küche hatten. Diese sollten durch kollektive „Fabrik-Küchen“ ersetzt werden, die für jeden Wohnblock vorgesehen waren. Sozusagen die „Kommune-Häuser“ aus dem Gedicht. Aber aus den groß angelegten „Fabrik-Küchen“ wurde nichts, und die Menschen, die heute in dem Bezirk wohnen, können einfach nicht verstehen, warum sie keine Küche haben und versuchen, sich im Flur eine einzurichten.

Ein wichtiges Thema für Raїsa Trojanker war die Emanzipation der Frau. Dieses Thema war in der Avantgarde generell verbreitet, besonders früh aber in der ukrainischen Literatur. Trojanker erfuhr die Ungerechtigkeit des patriarchalen Diskurses am eigenen Leib. So finden sich in einem Exemplar ihres Buches, das in der persönlichen Bibliothek eines ukrainischen Kritikers erhalten geblieben ist, Bleistiftnotizen: Bei fast jedem Gedicht versuchte der Kritiker nachzuvollziehen, mit welchem tatsächlichen oder potenziellen Liebhaber der Lyrikerin der Text in Verbindung stand. Trojankers reiches Liebesleben fand weitaus größere Aufmerksamkeit als vergleichbare Abenteuer ihrer männlichen Kollegen.

Raїsa Trojanker zeigte eine feine Intuition bei der jeweiligen Wahl ihres Wohnortes. Sie verließ die Ukraine kurz bevor sich die stalinistischen Repressionen in den 1930er-Jahren deutlich verschärften. Später lebte sie dann in Russland. Zunächst in Leningrad, das sie 1934 verließ, als der Stadt eine Welle an Repressionen bevorstand. Den Rest ihres Lebens verbrachte sie eher still und unauffällig im hohen Norden des Landes, in Murmansk. Aber während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie als Frontkorrespondentin. Sie lotete die Grenze des Möglichen aus, das war ihr letztes Abenteuer.

4. Auf Stalin sitzend
Die Einstellung der Avantgardisten zum Alkohol war nicht ganz eindeutig. Einerseits bot der Rausch Raum für Spiel, Provokationen und Täuschungen. Andererseits ist das ein traditionelles und automatisches Vergnügen, oft ohne intellektuelle Grundlage. Jedenfalls konsumierten die Avantgardisten im Alltag oft Alkohol, was sich manchmal auch in ihren Texten widerspiegelte, beispielsweise in den Aufrufen, gegen Alkoholmissbrauch zu kämpfen – Alltagsagitation war ein Lieblingsgenre der Avantgarde, vor allem des späten Futurismus. Zum Teil beeinflusste das Trinken auch das Schicksal der Autoren.

Oleksa Vlyz’ko (1908-1934) war ein Lyriker, dem es gelang, in einigen seiner Gedichte Romantiker zu sein und in den anderen Futurist. Der Futurismus war die beliebteste Strömung der ukrainischen literarischen Avantgarde der 1920er-Jahre und die Romantik die Grundlage des nationalen Lyrikkanons. Schon diese Verbindung garantierte Vlyz’ko eine gewisse Aufmerksamkeit. Persönliche Qualitäten spielten auch eine Rolle: Vlyz’ko war ein beeindruckender, provokanter Mensch. Obwohl er schon als Kind das Gehör verloren hatte, war er außergewöhnlich kommunikativ und offen, betrunken neigte er zu zweifelhaften Abenteuern und dazu, Konflikte heraufzubeschwören. So kletterte er 1930 in Odessa im Rausch auf eine Lenin-Büste. Erstaunlich für die Sowjetunion zur damaligen Zeit war, dass dieser Vorfall keine Folgen hatte. Aber kurze Zeit später brüstete sich Vlyz’ko damit, auch noch auf eine Stalin-Büste klettern zu wollen. Es ist nicht bekannt, ob er dieses Happening wirklich realisiert hat, aber eine Notiz dazu fand sich bei einem anderen Futuristen, Geo Škurupij, und es war einer der Anklagepunkte gegen Vlyz’ko nach seiner Verhaftung. Er wurde 1934 erschossen. Bezeichnenderweise hatte er sieben Jahre zuvor seinen eigenen Tod mystifiziert, indem er an verschiedene Zeitungen die Mitteilung schickte, dass der Lyriker Oleksa Vlyz’ko im Dnipro ertrunken sei. Eine vergleichbare Mystifizierung veranstaltete auch der führende Futurist Mychajl’ Semenko, der später ebenfalls erschossen wurde.

5. Die Futuristen verspotten
Die Avantgarde, besonders die futuristische Strömung, ist ohne Mystifizierungen, Parodien und Scherze schwer vorstellbar. Wie oben beschrieben, verkündeten die Futuristen gern ihren eigenen Tod. Aber neben vorgetäuschten Toden liebten sie auch vorgetäuschte Geburten. So tauchte in den 1920er-Jahren ein nicht existierender Lyriker namens Edvard Stricha auf. Seine Gedichte verfasste der ehemalige Sozialrevolutionär und Schriftsteller Kostjantyn Burevij (eigentlich Sopljakov, 1888-1934). Der imaginäre Edvard Stricha schrieb als quasi Bekehrter unter den Futuristen für die futuristische Zeitschrift Die neue Generation. Seine Gedichte waren zugleich Futurismus und eine Parodie auf den Futurismus. Stricha ahmte Stil und Manier der Futuristen perfekt nach und führte damit ihre Rhetorik und poetischen Verfahren gleichzeitig ad absurdum.

Stricha parodierte die ständig und recht penetrant postulierte These der Futuristen von der „Dekonstruktion der Kunst“, derer sie sich bedienten, um den Kultstatus der Kunst zu zerstören. Als den Futuristen klar wurde, dass man sie einfach verspottete, führte das zu einem Skandal. Mychajl’ Semenko verkündete den Tod von Edvard Stricha, der aber publizierte immer neue Parodien in Zeitschriften der Konkurrenz. Die Geschichte mit Stricha wird oft als Beispiel für die „Naivität“ der Avantgarde im Allgemeinen angeführt, dabei könnte man sie eher als ein Beispiel für – deklarative oder versteckte – Parodie und Eigenparodie – betrachten, ein integraler Bestandteil der avantgardistischen Experimente, selbst in ihren ernsthaftesten Ausprägungen. Wegen dieser Parodien wurde die Existenz von Edvard Stricha lange für bare Münze genommen.

6. Wie man hinter Gittern Avantgardist bleibt
Es fällt auf, dass das Leben der meisten Autoren, von denen bisher die Rede war, hinter Gittern endete, in Stalins Gefängnissen und Lagern. Und das liegt nicht daran, dass ich besonders darauf abziele, nur von den Verhafteten und Erschossenen zu berichten. Leider belegt die Statistik, dass dies sehr häufig vorkam – Fakten, die vielleicht in Deutschland nicht so bekannt sind, aber viel über das Sowjetregime aussagen. Von den 36 Lyrikerinnen und Lyrikern, die in der von Julija Stachivs’ka und mir herausgegebenen Anthologie Lyrik der ukrainischen Avantgarde vertreten sind, wurden 15 erschossen oder starben in Gefangenschaft. 15 von 36! Drei haben überlebt und sind zurückgekehrt. Zu den 18, die nicht verhaftet wurden, gehören fünf, die in der Zwischenkriegszeit in der Westukraine, in Galizien lebten. Diese Region gehörte damals zu Polen, deshalb konnten sie den stalinistischen Repressionen rein geografisch bedingt nicht zum Opfer fallen.

Einer derjenigen, die verhaftet, aber nicht umgebracht wurden, war der Futurist Andrij Čužyj (eigentlich Storožuk, 1897-1989). Sein Futurismus zeichnete sich durch eine gewisse Weichheit und Kindlichkeit aus. Nehmen wir ein beliebtes Genre der Futuristen – das lyrische „Selbstporträt“. Gewöhnlich wiesen diese Selbstporträts vor allem abgehackte Phrasen, absurde Sprache und exotische Bilder auf. Čužyj hingegen erzählt in seinem Selbstporträt von einem jungen Mann, der 43 Silberfäden im Kopf hat, „und er ist 24“, nicht ohne hinzuzufügen, dass das Foto des jungen Mannes „euer Geschenk an die Zukunft sein wird“. Čužyj bediente das interessante Genre der visuellen Prosa – der Text seines Romans Der Bär jagt die Sonne ist in Form heiterer, einfacher Bilder angeordnet.
Bei seiner Rückkehr aus den sowjetischen Lagern war Andrij Čužyj erstaunlicherweise kein gebrochener Mann. Vielmehr hatte er sich seinen wundersamen, naiv-fröhlichen Blick auf die Welt bewahrt. Seine Gefangenschaft betitelte er als „Akademie der Lebenserfahrung“. Aus dieser Zeit ist ein Gedicht erhalten, in dem der Erzähler die Zwangsarbeit erwähnt, das Holzfällen, während dem die Gefangenen von im Norden Russlands vorkommenden aggressiven Insekten gestochen werden. Der Erzähler bittet sie höflich, nicht zu stechen und die Insekten erfüllen ihm diese Bitte.

Hier ein Ausschnitt aus einem anderen Text, geschrieben in einem Zwangsarbeiterlager im Norden Russlands:

 […] Und neulich nicht weit von dem Ort, wo ich die Kühe
und Kälber weidete, fiel ins Weiße Meer – versank die Große Sonne
wie in einer Wiege.
Nach Ansicht der Kälber, zu denen ich mich gesellte, war die Sonne
müde und wollte schlafen.
Ich spielte ihr auf meiner Flöte ein Wiegenlied und sie
schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen trieb ich die Kälber auf die Weide und sah,
wie die Sonne aus dem Meer aufstieg, sich mit dem warmen Wind trockenrieb.
Sie lächelte den Kälbern und mir fröhlich zu und ging
ihres Weges zur Arbeit.

In seinem Grundton und einigen Besonderheiten im Aufbau überschreitet das Gedicht die Grenzen der avantgardistischen und erst recht der futuristischen Ästhetik. Aber die völlige Destruktion einer „normalen“ Weltsicht des Subjekts, eine ins Absurde führende „Lebensbejahung trotz allem“ in Verbindung mit einem wahrhaft hellen, meditativen emotionalen Grundton lassen den Text dennoch recht radikal erscheinen, insbesondere in Bezug auf die allgemeine Tradition der Lagerlyrik in der UdSSR.

7. Avantgardisten in die Klassik
Aber es gab auch Avantgardisten, die mehr Glück gehabt haben. Zwei von ihnen gehörten später sogar zu den führenden Klassikern der offiziellen ukrainischen Sowjetliteratur. Das war zum einen Pavlo Tyčyna. In seiner Jugend ein feinsinniger modernistischer Lyriker, experimentierte er in einigen Anthologien mit dem futuristischen und expressionistischen Stil. Seine Gedichte hatten auch deswegen eine besondere Überzeugungskraft, weil er in ihnen häufig Ereignisse der Revolution und des Bürgerkrieges schilderte.

Zieh dich an zur Erschießung! – schrie jemand und klopfte an
die Tür.
Ich erwachte. Der Wind stieß das Fenster auf.
Es grünte und der Himmel
klarte auf. Und hoch oben über der Stadt spielte ein riesiger Flügel …
Und ich verstand – das Osterfest war gekommen.

Während der Zeit des repressiven staatlichen Drucks auf die Literatur orientierte sich Pavlo Tyčyna recht schnell um und begann, treu ergebene Agitationslyrik im Stil des sozialistischen Realismus zu schreiben. Er verfasste sogar den Text der Hymne der Sowjetukraine.

Zum Dank ermöglichte ihm der Sowjetstaat ein sorgenfreies Leben. Er erhielt verschiedene Posten, zum Beispiel als Bildungsminister und Sprecher des ukrainischen Pseudoparlaments. Die Reise ins Land des sozialistischen Realismus wurde für Pavlo Tyčyna zu einer Sackgasse – nicht einmal in der Tauwetterperiode unter Chruschtschow kehrte er von dort zurück.

Was man von Mykola Bažan, in seiner Jugend auch zum Teil ein Futurist, zum Teil ein Expressionist, nicht behaupten kann. Seine frühe Lyrik ist manchmal reines Lautspiel.

Ebenso wie Tyčyna orientierte sich Bažan später um und erfüllte die Aufträge der sowjetischen Zensur. Von ihm stammen die Zeilen eines bekannten Gedichtes über Stalin: „Ein Mann steht im gestirnten Kreml, ein Mann in einem grauen Mantel …“

Nach dem Tod des Diktators redigierte er die von Tyčyna verfasste Hymne der Sowjetukraine und entfernte alles, was an Stalin erinnerte. Als liberalere Zeiten anbrachen, betätigte sich Bažan nicht länger als Agitator und schrieb noch eine Reihe interessanter Texte.

8. Ländlicher Futurismus
Bekanntlich war die Avantgarde, und hier besonders der Futurismus, eine zutiefst urbane Kunstrichtung. Die experimentellen Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schilderten mit Vorliebe Straßenbahnen, die U-Bahn, Fabriken, das Kino, technische Erfindungen und Ähnliches. Allerdings kann man, wie die ukrainische Avantgarde erfahren hat, auch auf dem Lande Material für futuristische Werke finden.

Oleksandr Korž (1903-1984), der aus einem Dorf in der Nähe von Charkiw stammte, war einige Jahre lang Mitglied der futuristischen Organisation Neue Generation und schrieb Gedichte über die bolschewistische Revolution und die Industrie. Irgendwann jedoch besann sich Korž, genauer gesagt, der Erzähler in seinem Gedicht:

[…]
Von nun an werfe ich der Stadt kühn hin:
Du bist nicht mein Gott!
Die Stadt zu besingen ist grad so modern,
Singt nur, wer da möchte.
Ich aber
Bin ab heute noch treuer
Den Steppen.
Als wäre ich gestern geboren –
So lieb ist mir die Welt
Es schallt
Über die Steppen weit:
Dem Traktor
Sende ich meinen Gruß.
Voll Freude vernehm’ ich im grünen Wald
Das heisere Rufen des Kuckucks.
Ihr Dichterfreunde,
Beton und Granit und Eisen sind
Ohne die Steppe –
Null. […]

Interessanterweise wurde Oleksandr Korž später zum Anhänger einer sehr traditionellen Lyrik und schrieb sogar ein Poem über Puschkin. Ähnlich verhielt es sich mit vielen Avantgardisten – in ihrer Jugend kämpften sie gegen die klassische Literatur und später übersetzten sie Dante und erforschten Gogol oder die Romantik …

Unerwartete rustikale Motive finden sich auch bei dem Hauptvertreter der ukrainischen Futuristen Mychajl’ Semenko, zum Beispiel in seiner Dorflandschaft:

О
АО
АОО
ПАВЛО [PAVLO]
ПОПАСИ [WEIDE]
КОРООВУ [DIE KUH]

Dies bestätigt die These, dass die Avantgarde nicht einfach nur eine künstlerische Reaktion auf die urbane und industrielle Revolution war, sondern ein spezifischer Zugang zu einem kulturellen Feld, der sich unabhängig von äußeren Kontexten und Umständen aktivieren ließ.

9. Die ukrainischen Avantgardisten und Deutschland
Man würde stark übertreiben, wenn man behauptete, dass der kulturelle Austausch zwischen der Ukraine und Deutschland in den 1910er- bis 1930er-Jahren besonders rege gewesen sei. Dennoch spielte Deutschland für die Ukrainer zu der Zeit eine wichtige Rolle. Schließlich hatte Deutschland 1918 die ukrainische Unabhängigkeit anerkannt, wenn auch größtenteils nur formal. Außerdem hatten die deutschen Truppen bei der zeitweiligen Befreiung der Ukraine vom Sowjetregime eine Schlüsselrolle gespielt. Nach der Niederlage im Krieg um die Unabhängigkeit wanderten viele Ukrainer nach Deutschland aus. Diese Tendenz setzte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort: In Deutschland agierte die bedeutende ukrainische Literaturorganisation MUR, und in München befand sich die Ukrainische Freie Universität. Heute lebt und arbeitet dort zum Beispiel die herausragende ukrainische Lyrikerin Emma Andijevs’ka, deren Werk übrigens an die Traditionen des Surrealismus anknüpft … In den Jahren 1910 bis 1930 kamen Informationen über neue kulturelle Tendenzen oft aus Deutschland. Die ukrainischen Konstruktivisten verfolgten die Entwicklung des Bauhauses, der deutsche Film war für Vertov und Dovženko von Bedeutung und in der futuristischen Zeitschrift Neue Generation erschienen Übersetzungen deutscher Artikel und literarischer Texte.

Im literarischen Werk der ukrainischen Avantgardisten ist Deutschland vor allem aus zwei Gründen präsent. Da waren zum einen die linken Aufstände wie der Ruhraufstand oder der Hamburger Aufstand. Sie aktivierten sowohl die sowjetische Propaganda als auch die linksorientierten Lyriker und weckten Träume von einer Revolution in Deutschland als einer wichtigen Etappe auf dem Weg zur Weltrevolution. Hier ein Beispiel für diesen Diskurs, ein Gedicht des Futuristen Geo Škurupij:

[…] Und die Kolonne zieht voran
zur Ruhr, nach Rom, zum Louvre,
und die Kolonne nimmt aufs Bajonett
das weltweite Spiel Roulette …

Und als der Sommer rollte auf Schienen
durch die Steppe mit der Sonne,
küsste der Rotarmist seiner ohnmächtigen Frau
den Schoß den Zement …

Zum anderen waren da die Reisen. In den 1920er-Jahren konnten sich einige der ukrainischen Lyriker nach Deutschland aufmachen. Aus den Memoiren wissen wir, dass viele diese Reisen nutzten, um Kleidung zu kaufen, die in der UdSSR immer Mangelware war. Aber vor allem interessierten sich die sowjetischen Gäste für die zeitgenössische deutsche Kultur, beobachteten das Alltagsleben, natürlich nicht ohne den gebotenen Skeptizismus gegenüber der „bürgerlichen Ordnung“, wie in diesem Gedicht von Mychajl’ Semenko:

Es leuchten die abendlichen Straßen in bunten Lichtern,
es klatscht in die Hände der verzauberte Provinzler:
ach wie schön! Berlin bei Nacht und bei Tag
hält wach in den Schaufenstern das verlockende Kapital.

Man hört nicht die Schläge in den Handelsvierteln,
nur Rauschen und Brausen, der Rhythmus vibriert.
Die Stadt hat am Tag ihren Kram ausgelegt
und abends, da brennt sie demonstrativ …

Svjatoslav Hordyns’kyj aus Lwiw, das damals zu Polen gehörte, hat in seinem Gedicht über die Überquerung der deutschen Grenze die Kapitalisten nicht ironisiert. Aber auch bei ihm finden sich politisch-metaphorische ironische Anspielungen, zumal er in den 1930er-Jahren schon in ein ganz anderes Deutschland fuhr:

Dann grinste ich böse und kaufte, schon in Sicherheit,
„Würstchen“ und „Bier“ aus dem Fenster im Flur
Und guckte, wie mich enthusiastisch
Das neue Deutschland begrüßte
Mit den ausgestreckten Händen der Signalmasten.

10. Zwischen Kommunisten und Nationalisten
Politische Einflüsse waren in der Avantgarde immer präsent. Als radikale Literaten befanden sich die Avantgardisten stets zwischen Hammer und Amboss des Kommunismus und Nationalismus und manchmal noch extremerer Bewegungen. Wobei die ukrainischen Avantgardisten anders als beispielsweise ihre italienischen Kollegen keine Sympathien für den Faschismus hegten. Insgesamt vertraten die Futuristen, Konstruktivisten und die anderen Experimentatoren der ukrainischen Literatur der 1910er- bis 1930er-Jahre vor allem linke Ansichten. Unter ihnen waren Kommunisten, aber noch mehr „Borotbisten“, also ukrainische Sozialrevolutionäre, die an das geistige Erbe der „Narodniki“ des 19. Jahrhunderts anknüpften. Im Bürgerkrieg nach der Revolution von 1917 fanden sie sich nicht selten auf verschiedenen Seiten der Barrikaden wieder. Am Ende waren zu Beginn oder Mitte der 1920er-Jahre die meisten von ihnen auf die eine oder andere Weise Anhänger eines spezifischen ukrainischen „Nationalkommunismus“.

Für die Sowjetregierung war die Avantgarde grundsätzlich kein akzeptables Phänomen. Die Avantgardekunst war zu verspielt, zu experimentell, unvorhersehbar und unkontrollierbar, ganz unabhängig von der ideellen Treue ihrer Autoren. Letztendlich waren die Ansichten vieler Schriftsteller und bildender Künstler sogar manchmal radikaler als die Konzepte von Lenin, Stalin oder Trotzki. Deshalb verfügte die Sowjetmacht zu Beginn der 1930er-Jahre keine politische, sondern eine ästhetische Zensur, was recht schnell zu einem faktischen Verbot der Avantgarde führte und wovon auch Strömungen wie der Modernismus oder Neoklassizismus betroffen waren. Allerdings wurden für die Konstruktion des neuen sowjetischen Literaturstils, des sozialistischen Realismus, einige Charakteristika der Avantgarde, vor allem des Konstruktivismus, verwendet, wie zum Beispiel das unbedingte positive Pathos, ein emotional extrem aufgeladener Hintergrund, Stärke- und Schöpferkult sowie eine verstärkte Anwendung von Kontrasten.

Die Werke der Avantgarde und ihre Protagonisten wurden in der Sowjetukraine nach den 1930er-Jahren entweder verboten, vernichtet, in spezielle Lager verbannt oder totgeschwiegen. Nur ein geringer Teil avantgardistischer Kunst, oft von der Zensur „bearbeitet“, kam nach Stalins Tod wieder ans Licht. Als 1990 das Ende der sowjetischen Zensur gekommen war, war die Avantgarde wieder „nicht hoffähig“. Sowohl die Kulturpolitik, oder vielmehr die Versuche einer Kulturpolitik, als auch die Interessen der Forschung sowie der Leserinnen und Leser gingen eher in zwei andere Richtungen: entweder in eine national-demokratische bzw. nationalistische oder eine nostalgisch-postsowjetische. Die Avantgarde passte wieder einmal in keinen dieser Diskurse. Sie war verwirrend und clownesk, zu kommunistisch oder sonst auf andere Weise nicht gängig. Die Politik und die ausnahmslos politisch ernste Sichtweise auf die Literatur standen einem Kennenlernen der eigentlichen literarischen Texte abermals im Weg.
Glücklicherweise wird die ukrainische literarische Avantgarde seit der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre und vor allem in den 2010er-Jahren endlich vermehrt herausgegeben und besprochen. Ich hoffe, dass auch interessierte Leserinnen und Leser in Deutschland irgendwann die Möglichkeit haben werden, einen tieferen Einblick in dieses Phänomen zu bekommen, als es mein Vortrag beziehungsweise die kurzen Anekdoten oder, wie Geo Škurupij gesagt hätte, dieses „Schaufenster“ leisten konnte.

Übersetzung: Lydia Nagel