Schritt für Schritt ins Nichts ...
Die Kälte und Feuchtigkeit der Steinwände kann man geradezu auf der Haut spüren. Die Kleidung wärmt nicht, als hätte man gar nichts an. Die einzelnen Glühbirnen, die äußerst sparsam alle fünfzehn oder zwanzig Schritte unter dem Tunnelgewölbe baumeln, hellen die Dunkelheit kaum auf.
Mein Atmen, meine Schritte hallen laut. Meine Schläfen pochen so stark, dass mein Kopf gleich wie Dynamit explodieren wird.
Mit jedem Schritt vereist mein Inneres mehr und mehr vor Angst, als würde mich der Tod höchst persönlich mich erwarten.
Meine Atmung geht stoßweise, krampfhaft. Die Schritte werden chaotisch, stolpere wie ein Betrunkener auf nächtlicher Straße. Wie lange muss ich das noch aushalten? Wo zum Teufel endet dieser Tunnel? Ich will schreien, presse mir aber die Hand vor den Mund. Ich kämpfe mit mir.
Jemand kommt auf mich zu. Sein formloser Schatten huscht die Wände aus zerklüfteten Steinen entlang. Man kann durch ihn hindurchsehen, bemerkt ihn kaum. Er wird nur deutlicher, wenn der Fremde unter eine Glühbirnen tritt, dann verschwimmt er wieder.
In der Manteltasche steckt mein Revolver. Er ist die einzige Rettung, der Unbekannte nähert sich flink wie ein Tier. Es ist er selbst, nicht sein Schatten, der über die Steine gleitet ... Er hält ein langes Messer mit krummer Klinge in der Hand. Ich kann jetzt sogar sein Gesicht sehen, das zu einer teuflischen Fratze verzogen ist.
„Wer bist du? Wer bist du? Bleib stehen! Bleib stehen!!!“
Ein Schuss! Noch ein Schuss!
Sinnlos ... Die Kugeln gleiten durch ihn hindurch wie Nebelschwaden und schlagen dann funkensprühend in den Wänden ein. Das teuflische Grinsen taucht genau vor mir auf, das Messer eine Armlänge entfernt.
Noch ein Schuss. Aus allernächster Nähe ... auch er schlägt im Nirgendwo ein.
Ein Schrei gurgelt aus meiner Kehle - der letzte Versuch sich gegen Angst und Verzweiflung zu wehren.
Der Mann setzte sich in dem dunklen Zimmer im Bett auf. Der Traum war verflogen, aber er hinterließ einen stechenden Schmerz im Hinterkopf und kalten Schweiß auf der Stirn.
Das Licht einer Straßenlaterne schien durch das Fenster in den Raum. Es ergoss ich sanft auf den Schreibtisch und strömte weiter über den Holzboden. Irgendwo in einer dunklen Ecke war das Ticken einer Uhr zu hören. Die Nacht atmete Ruhe.
An der Tür ertönte ein leises Klopfen.
„Herr Wistowycz“, sagte gedämpft eine Frauenstimme, „ist alles in Ordnung?“
„Ja, Frau Novak“, atmete der Mann aus, „alles fein...“
„Sie haben geschrien, Herr Wistowycz...“, fügte sie kaum hörbar hinzu.
Er stand auf, nahm seine Kleidung von der Stuhllehne und zog sich rasch an. Dann ging er barfuß zur Tür, drehte den Schlüssel zweimal und öffnete sie.
Frau Novak, die Eigentümerin der Wohnung, in der er ein Zimmer gemietet hatte, war eine nicht all zu große, dunkelhaarige Frau, die nun eng in einen warmen Bademantel gewickelt, auf der Schwelle zu seinem Zimmer stand und ihn mit weit geöffneten Augen anschaute.
„Wieder so ein Albtraum?“
Wistowycz nickte.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe“, fügte er schuldbewusst hinzu.
Die Frau zuckte nur mit den Schultern.
„Gehen wir in die Küche, ich mache uns einen Tee, wenn wir beide schon wach sind“, schlug Frau Nowak vor, drehte sich um und verschwand im Halbdunkel des Korridors.
Wistowycz ging zurück ins Zimmer, tastete nach dem Schalter neben der Tür und schaltete das Licht ein. An der Wand zu seiner Rechten hing ein Spiegel, und ein großer Mann in einem zerknitterten, hastig angezogenen Hemd ohne Kragen blickte ihn an. Das Gesicht war müde, die Augen gerötet und die dünnen Lippen waren fest zusammengepresst und fast blutleer. Seine hohe Stirn durchfurchten mehrere Falten, die schief aufgezogenen Saiten ähnelten. Die Haut war blass, fast schon grau. Die Haare, die sonst nach hinten gekämmt waren, standen jetzt komisch in alle Richtungen ab.
Der Mann hatte eine kräftige Statur, wahrscheinlich war er früher sogar ein wenig korpulent gewesen. In den vier Jahren, die er an der Front verbracht hatte, hatte er einiges an Gewicht verloren. Das friedliche Leben in Wien war bisher auch nicht gerade luxuriös gewesen, und so hatte er sein früheres Gewicht nicht wieder erreicht.
Die Zeiger der Uhr zeigten zwei Uhr morgens. Ihm war jetzt nicht nach Tee zumute, aber er zog sein Hemd ordentlich an, schlüpfte in eine Weste, kämmte sein Haar mit ein wenig Brillantine ordentlich nach hinten. Er fischte eine Zigarette aus der Packung und rauchte mit sichtbarer Zufriedenheit. Durch den Zigarettenrauch fühlte er sich ein wenig besser: Die Hände hörten auf zu zittern und die Gedanken klärten sich.
Wistowycz steckte Streichhölzer und Zigarettenetui in seine Tasche und ging in die Küche. Der Primuskocher summte bereits, und der Kessel heizte langsam auf. Dann kam auch Frau Novak herein, bekleidet mit einer bequemen Bluse und einem Baumwollrock. Über den Schultern trug sie ein warmes Tuch. Ihr Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem festen Knoten gebunden.
Vladislava Novak stammt ursprünglich aus Mähren. Nachdem sie vor mehr als zwanzig Jahren einen großen Bauernhof, ein gutes Stück Land und ein schönes Haus in ihrer Heimat verkauft hatte, war sie mit ihrem Mann und ihrer Mutter nach Wien gezogen. Das Geld reichte gerade so, um eine Zweizimmerwohnung in einer Seitenstraße am Kolmarkt zu kaufen und in den ersten Wochen ein bescheidenes Leben in der Hauptstadt zu führen. All das machten sie zum Wohl ihres einzigen Sohns, dem zehnjährigen Peter, um ihm eine gute Zukunft zu ermöglichen. Es geschah gegen den Willen der Schwiegermutter, der alten Bohumila Brunová, die das Paar für diesen Schritt abgrundtief hasste. Sie hasste auch den „Scheiß-Peter“, das „verteufelte Wien“ und das „beschissene Deutsch“, das sie nie richtig verstand und auch nicht versuchte, wenigsten zwei Wörter geradeaus zu sprechen.
„Wenn dein Vater noch leben würde, hättest du nie gewagt, mir das anzutun!“, schrie sie ihre Tochter an. „Du Schlampe! Ich hätte dich noch in der Wiege erwürgen sollen!...“
Vladislava war sich ihrer Schuld bewusst, senkte den Blick und schrubbte den Boden, kochte und wusch ihre Wäsche. Sie nahm sich fest vor, diesen endlosen Strom an Beleidigungen zu ertragen, der sich über sie ergoss, während ihr Mann in der Arbeit war. Der junge und kräftige Jan Novak fand glücklicherweise schnell eine Stelle als Verladearbeiter am Staatsbahnhof. Wenn er müde und hungrig nach Hause kam, schwieg Bohumila, doch am nächsten Morgen, wenn sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sprudelte der Strom an Beschimpfungen mit frischer Kraft wieder.
„Das sind die verdammten deutschen Bücher“, beschimpfte sie Vladislava, „du hast sie als Kind zu oft gelesen hast, von denen bist du völlig durchgedreht ...“
Natürlich hatte ihre kleine Vlada viel gelesen, und so träumte sie von einem Leben wie in einem Roman: eine schöne Stadt, Menschen in teuren Kleidern, Theater, Kaffeehäuser ... Endlich war sie dort, wo sie all das zumindest sehen konnte, und so schluckte sie die Tränen und die Beleidigung und arbeitete. Am Nachmittag kam Peter von der Schule nach Hause, so dass sie sich mit ihm für eine Weile in der Küche einschließen konnte, um mit ihm zu essen und zu hören, wie sein Tag gelaufen war.
Ein paar Jahre lang schien alles gut zu gehen: Peter besuchte das Gymnasium, Jan wurde zum Vorarbeiter, und sie lernte, die alte Bohumila zum Schweigen zu bringen, wenn sie allzu ausfallend wurde.
Im Sommer 1914 meldeten die Zeitungen, dass der kaiserliche Thronfolger irgendwo in Sarajewo erschossen worden war, und einen Monat später wurde die Mobilisierung ausgerufen. Der Große Krieg begann.
Jan wurde im Winter des Jahres 15 zur Armee eingezogen, und Peter, der bereits ein großer, kräftiger junger Mann war, im Frühjahr des Jahres 16. Vladisłava blieb mit ihrer Mutter allein, die inzwischen ganz gebrechlich geworden war. Die alte Frau konnte ihre Tochter nicht mehr mit der gleichen Aufgeregtheit beschimpfen wie früher, aber ihr faltiges Gesicht trug nunn einen Ausdruck bösartiger Befriedigung. „Siehst du“, sagte sie, „ich habe dir doch gesagt, dass du eine Dummheit machst. Und ich habe dir gesagt, dass dein Wien einen Scheiß wert ist.“
Vladislava schwieg wieder. Eines Tages räumte sie ihre Siebensachen in ihr Zimmer, weil sie in dem anderen Zimmer einen Untermieter aufnehmen musste - sonst würden sie nicht über die Runden kommen.
Dann kam die furchtbare Nachricht: Jan war irgendwo in Galizien gefallen. Seltsamerweise weinte Vladislava nicht, als ob sie schon lange auf diesen Verlust vorbereitet gewesen wäre. Sie sammelte ihre Kräfte und wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes. Sie war überzeugt, dass Peter diesem Schicksal entgehen würde.
Der junge Leutnant Peter Novak war tatsächlich heil von der Front zurückgekehrt. Abgemagert und müde, mit der höchsten Stufe des Verdienstkreuzes auf seiner Uniform. Allerdings zog er die Uniform nie wieder an, und auch die Auszeichnung verstaute er in der untersten und hintersten Ablage.
Noch am selben Tag bat man den Mieter mit der Begründung auszuziehen, dass ein Kriegsheld hier wohnen würde. Der Mieter wehrte sich nicht.
Mehrere Wochen lang weigerte sich Peter, das Haus zu verlassen, und als er es schließlich doch verließ, war er für lange Zeit verschwunden. Er kehrte besser gelaunt zurück, aber mit einem wilden Funkeln im Blick. Er teilte mit, dass er allein leben wolle.
„Hast du eine Arbeit gefunden?"“, fragte Vladislava.
Peter winkte sie ab.
„Ich brauche keine Arbeit. Ich mache Börsengeschäfte. Davon kann man ganz gut leben...“
Als seine Schritte vor der Tür verhallt waren, weinte Vlada zum ersten Mal seit Jahren. Das Weinen ging in lautes Schluchzen über, als ob all die Bitterkeit und der Schmerz, die sie bisher geschluckt hatte, aus ihr herausbrachen. Erst nach einer guten Stunde beruhigte sie sich, sie war völlig erschöpft. An diesem Abend sah Bohumila sie zum ersten Mal mitfühlend an und versuchte sogar, ihre Tochter mehrere Tage lang nicht unnötig zu stören.
Wieder zogen vorübergehende Untermieter ein, die das zweite Zimmer belegten und wieder räumten. Bis vor sechs Monaten, als der Oberkommissar Adam Wistowycz einzog.
„Wi-sto-wycz,“ wiederholte Vladislava gedehnt, als er ihr seinen Ausweis hinhielt und die Miete für einige Monate im voraus, wie sie es gefordert hatte.
„Sie sind kein Österreicher.“
„Nein“, antwortete er und schaute aus dem Fenster seines neuen Zimmers.
Ihm gegenüber befand sich ein ähnliches Haus mit ähnlichen Fenstern. Darunter erstreckte sich eine graue Gasse mit Kopfsteinpflaster. „Ich bin aus Galizien.“
Bei dem Wort ‚Galizien‘ zuckte Vladislava zusammen. Jahrelang hatte sie es gehasst und es nie laut ausgesprochen, als ob es ein schrecklicher Fluch wäre. Ihr Mann lag in Galizien, und Vlada hatte sein Grab noch nie besucht.
„Frühstück und Abendessen rechne ich extra“, fuhr Frau Novak fort. „Die Waschen auch …“
Wistowycz nickte.
„Sie sind sehr liebenswürdig,“ sagte er.
Die Stimme des Polizisten war leise, aber angenehm. Seine Augen waren aufmerksam und durchdringend. Aber es waren seine Höflichkeit und seine guten Manieren, die die Hausherrin am meisten beeindruckten. Bisher hatte Vladislava gedacht, dass in diesem verfluchten Galizien nur blutrünstige Barbaren oder eine Art chthonischer Monster hausten.
Außerdem war ihr Mann nicht von Galiziern, sondern von einem unbekannten russischen Soldaten getötet worden. „Jan Novak ist während der Offensive heldenhaft gefallen“, hatte ihr der Zugkommandant geschrieben, „Ihr Mann war ein Beispiel für einen tapferen österreichischen Soldaten. Er wurde in der Nähe der Stadt Stanislau mit allen Ehren beigesetzt. Ich spreche Ihnen mein aufrichtiges Beileid aus. Ich teile Ihren Kummer...“. Sollten ich denn die Erde dafür hassen, dass sie den Leichnam von Jan aufgenommen hat? Nein, das ist doch Unsinn...
Nachdem sie dem entfernten und unbekannten Galizien ihren Frieden gemacht hatte, schien Vladislava erleichtert. Etwas Schweres fiel ihr von den Schultern, und sie konnte sich endlich ganz aufrichten.
Jetzt lächelte Vlada manchmal. Sie erinnerte sich sogar an ihre alten Freundinnen, die sie zuletzt vor dem Krieg gesehen hatte. Sie begann, sie sonntags zu besuchen, oder sie besuchten sie. Ihre Freundinnen mussten mit kaum verhohlenem Neid anerkennen, dass Vladislava trotz allem, was sie durchgemacht hatte, eine Schönheit geblieben war, und das schmeichelte ihr auch. Sie betrachtete sich im Spiegel und fragte sich, warum ihr rotblondes Haar nicht grau geworden war, ihre dunklen, großen Augen ihren Glanz nicht verloren hatten und ihre Haut nicht von Falten durchzogen war. Schließlich war sie eine Witwe und weit über dreißig!
Der Kessel kochte, und die Frau schaltete den Primuskocher aus und goss kochendes Wasser in eine Teekanne mit einem geflochtenem Strohhenkel. Der eigentliche Metallhenkel war irgendwann verloren gegangen, und ihr war eingefallen, eigenhändig einen neuen zu machen. Das Ergebnis war ganz gut gelungen. Der neue Henkel war vielleicht nicht so handlich, aber er sah besser aus als der vorige.
Dann stellte sie zwei saubere Tassen auf den Tisch und holte nach kurzem Überlegen noch eine halbleere Schnapsflasche und zwei Gläser aus dem Schrank.
„Ich glaube, Sie brauchen das jetzt nötiger als Tee“, sagte sie und warf einen sanften Blick auf Wistowycz. Es freute sie, dass er sich ein wenig herausgeputzt hatte.
„Ja, da hätte ich nichts dagegen“, lächelte er dankbar.
„Und Sie können mir eine Zigarette anbieten.“
„Mit Vergnügen...“
Wistowycz fischte das Zigarettenetui aus seiner Tasche, öffnete es und reichte es Vladislava. Als sie eine Zigarette genommen hatte, hielt er ihr ein brennendes Streichholz hin. Dann rauchte er selbst.
Frau Novak wusste, dass sie beide gerade jetzt eine brennende Erinnerung teilten. Vor ein paar Wochen war Wistowycz spät zurückgekehrt, aber sie hatte auf ihn gewartet, um das Abendessen warm zu servieren. Die Hausherrin war verärgert, denn sie hatten vereinbart, dass sie um acht Uhr das Essen auftragen würde, und nun war es bereits elf Uhr nachts. Da sie jedoch sah, dass er sich äußerst unwohl fühlte, hielt sie sich mit Vorwürfen zurück.
„Es ist lange her, dass sich jemand so um mich gekümmert hat, Frau Novak“, bemerkte Wistovycz lächelnd.
„Es ist lange her, dass ich mich so um jemanden gekümmert habe“, entgegnete Vladislava, überrascht von ihren eigenen Worten.
„Und ich möchte, dass du dich hier wirklich wie zu Hause fühlst“, hätte sie beinahe laut hinzugefügt. Stattdessen streckte sie die Hand aus und berührte seine raue Wange mit ihrer Hand. Zum äußersten verwirrt von ihrem Tun, fühlte sie, dass sie die Hand sofort zurückziehen, sich entschuldigen und weggehen sollten, aber stattdessen blieb ihre Handfläche auf seiner Wange wie ein Magnet auf Eisen. Als er aufstand und sie an sich zog, war sie erleichtert, dass sie diese Peinlichkeit nun beide teilen würden.
Das letzte Mal war sie vor zwei Jahren mit ihrem Mann zusammen gewesen, als Jan zu Weihnachten nach Hause durfte. Jetzt liegt Jan unter der Erde. Unter derselben Erde, über die dieser Mann schritt , der sie jetzt umarmt. Er streichelt ihre Brust, küsst ihren Hals, ihre Lippen, und sie erwidert es. Ihrer beiden Liebkosungen sind nervös, fahrig, als würde ein elektrischer Strom durch ihre Körper fließen...
Plötzlich hörten sie einen lauten Knall aus dem Korridor, als würde jemand mit einem Hammer auf Holz eindreschen. Vladislava stand für einen Moment wie betäubt da und stieß den Mann dann hastig zurück wie einen Betrunkenen.
„Das ist die Mama...“, schnaufte sie aus und zog ihre Bluse glatt. „Sie ruft mich.“
Die alte Bohumila klopfte tatsächlich mit ihrem Stock auf den Boden, wenn sie etwas brauchte. Und wenn ihre Tochter längere Zeit nicht kam, schlug sie immer lauter und chaotischer, soweit es ihr Alter erlaubte. Vladislava eilte aus der Küche, und der Untermieter musste allein und ohne großen Appetit zu Abendessen.
In stillschweigendem Einvernehmen vergaßen sie den Vorfall und hatten es seitdem nicht einmal geschafft, ganz und gar zum Du überzugehen.
“Ist es immer derselbe Traum?“, fragte Vladislava und schenkte Tee ein, um das unangenehme Schweigen zu brechen.
Sie legte ihre Zigarette auf den Rand einer Untertasse, die ihnen als Aschenbecher diente. Der Rauch kräuselte sich in einem dünnen Faden nach oben.
Wistowycz seufzte.
„Manchmal trage ich auch eine Uniform und schieße auf den Fremden mit einem Manlicher statt mit einem Revolver. Aber im Großen und Ganzen ist es eigentlich immer die gleiche verdammte Geschichte...“, sagte er und griff nach dem Schnaps. Er öffnete die Flasche, füllte zwei Gläser halbvoll und trank, ohne auf Vladislava zu warten, seines sofort aus.
„Ich weiß nicht viel über Dich“, sagte Frau Novak, „außer, dass Du ein guter Mensch bist.“
Wistowycz lachte.
„Du irrst dich, sagte er, „ du irrst Dich sogar sehr. Ich bin ein Schurke... Und mein Gewissen bringt mich um.“
„Ich täusche mich nicht“, widersprach sie, „wir sind alle schuldig, bewusst oder unbewusst. Aber nur die Gutmütigsten und Mutigsten sind bereit, ihre Schuld mit Qualen des Gewissens zu sühnen...“
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Alexander Kratochvil