Es fühlte sich anders an, als er erwartet hatte. So samtig das Fell der Rehe von weitem betrachtet aussah, so borstig fühlte es sich nun an, wenn er über den dicken Leib strich. Er roch an seinen Fingern das Tier. Ächzend zerrte er an den Vorderläufen, das Wild war auch schwerer, als er gedacht hätte. Sein Maul hatte sich geöffnet, die kleinen Zähne waren abgekaut und zu den Hälsen hin braun verfärbt, die Zunge grau. Die gebrochenen Augen schienen trüb, sie hatten keinen Ausdruck, nicht einmal den des Todes. Das Reh war noch nicht steif, durch das Schleifen lag sein Kopf nun überstreckt, die Nase zeigte auf den Rhododendron, als sei der immergrüne Strauch die letzte Sehnsucht des Tiers gewesen. Auf seinem weißen Bauch klebten Erde und Kot, das Fell war hier weicher.
Donald zog sich am Stamm des kleinen Nussbaums hoch, den er vor ein paar Jahren zu nah an die Grundstücksgrenze gesetzt hatte, und wie jedes Mal, wenn er das Bäumchen (immerhin schon höher als er) sah oder daran dachte, spürte er klammheimliche Freude über die Vorstellung, dass er sicher (und Nelly aller Voraussicht nach ebenfalls) nicht mehr leben würde, wenn die Nachbarn eines Tages merkten, dass der Baum sie störte. Seine Knie schmerzten vom Hocken, und die unteren Wirbel fühlten sich an wie zu weit auseinandergezogen. Das würde vorübergehen. Noch einmal heftete er seinen Blick auf den Kadaver zu seinen Füßen. Nie war er diesen Tieren, die er ein ganzes Menschenleben lang geliebt hatte, nahe gekommen, nie hatte er eines berührt, nicht einmal war er in einen Wildpark gegangen. Nur beobachtet hatte er die Rehe oft, wenn sie – mitten am Tag! – aus dem Wald getreten waren, um auf der Wiese zu äsen. Meistens blieben sie dort ungestört, und Donald mit seinem Fernglas auf dem Balkon konnten sie nicht wittern. Nie war etwas geschehen, außer dass sie dort ästen und irgendwann ihrer Wege gingen. Er wusste, dass er nur einen kleinen Ausschnitt ihres Lebens wahrnahm, dass sie auch kämpften und Junge bekamen, und häufig wehte der Knall einer Büchse aus dem Wald herüber. Er wusste, dass sie im Winter nachts in die Gärten sprangen und an den Sträuchern fraßen. Donald spürte, wie es warm wurde an seinem Bauch. Es war Zeit, ins Haus zu gehen.
„Kommst du endlich?“, rief Nelly, als sie hörte, wie im Flur sein Stock von der Wand glitt und auf den Steinboden schlug. Die Tür zum Esszimmer war angelehnt.
„Ich geh noch den Beutel wechseln“, rief er zurück und bog ab ins Bad. Während er die Klebefläche des Beutels langsam von seiner Haut abzog (und nicht mit dem empfohlenen Ruck), atmete er möglichst flach. Er konnte seinen eigenen Geruch kaum ertragen. Fünf Minuten später saß er mit seiner Frau am Frühstückstisch und erzählte ihr von seinem Fund.
„Du musst den Förster anrufen“, sagte sie.
„Den Jäger“, korrigierte er und nahm einen kleinen Schluck vom kalt gewordenen Milchkaffee.
Bis auf die grüne Jacke hatte Berka nichts von einem Jäger, er trug ordinäre Jeans und ausgelatschte Turnschuhe. Donald wiederholte ungefragt, er habe das Reh am Morgen tot im Garten gefunden und sofort angerufen. Berka zündete sich gerade eine Zigarette an. Hustend behauptete er, das Tier zu kennen. „Es war krank“, sagte er, „aber ich hatte keine Gelegenheit zum Abschuss. Ich komme heute Nachmittag mit dem Geländewagen und hole es ab, wenn es Ihnen recht ist.“
Donald nickte. Heute Nachmittag. Und bis dahin? Sollte er es nicht mit einer Plane zudecken?
„Passiert nichts.“
Wieder hustete der Mann, es schien seine erste Zigarette für den Tag zu sein, oder er hatte bereits einen schweren Raucherhusten. Donald schaute zuerst ihn an, dann das Reh. Er beschloss seine Frage, ob er den Kopf des Tieres behalten dürfe, auf den Nachmittag zu verschieben.
Den Abend verbrachte der alte Mann im Keller. Der abgetrennte Kopf wog schwer, jedes Mal, wenn er ihn anhob, staunte er wieder. Während er das Blut aus dem Halsansatz wusch und nachher lange spülen musste, bis die Klumpen im Ausguss verschwunden waren, sprach er murmelnd auf den toten Schädel ein, manchmal summte er ein zwei Takte. Er löste das Fell. Ohne Haut, die Kiefer bis zum Rachen entblößt, die Augen wie schwarze, kratzige Riesenmurmeln im rosigen Fleisch, sah der Kopf nicht mehr nach einem Reh aus, sondern beinahe nach einem Raubtier. Der Kadaver des Wildtiers würde untersucht werden, Berka hatte versprochen, ihn noch einmal anzurufen. Warum war es zu ihm gekommen? Warum hatte es sich in seinem Garten unter seinem Rhododendron zum Sterben hingelegt? Das Fleisch an dem Schädel fühlte sich trocken an. Donald entfernte alles Nötige, legte ihn in einen großen Kochtopf und füllte Wasser ein. Das armselige Gehörn stand doch weit aus dem Wasser, der Deckel ließ sich nicht richtig auflegen.
„Machst du wirklich ernst?“ fragte Nelly angewidert, als er mit dem Topf in die Küche kam.
„Mach ihn nicht auf“, bat er sie. Dann fügte er hinzu: „Ich mach es für die Kinder.“
Ihre Enkel waren sieben und neun.
Trotz Dunstabzugshaube hing bald ein Geruch nach Suppe in Küche und Esszimmer, Donald konnte spüren, wie er ihm aufs Zahnfleisch drückte. Spät abends brachte er den Topf zurück in den Keller. Das Fleisch löste sich in faserigen Streifen vom Knochen, an manchen Stellen jedoch saß es fest. Donald schnitt und schabte. Bald entschied er, dass er den Kopf am nächsten Tag ein zweites Mal kochen würde.
Am Morgen, während der Topf schon wieder auf dem Herd stand, fuhr Donald in die Stadt, um Wasserstoff zu kaufen. Er hatte tief und gut geschlafen, trotzdem fühlte er sich zitterig wie an seinen schlechtesten Tagen und schrammte um Haaresbreite am linken Pfeiler der engen Einfahrt vorbei. Langsam, wie eingeschüchtert, legte er die wenigen Kilometer bis zur Apotheke zurück. Erst auf dem Rückweg fiel ihm ein, dass Nelly ihm weitere Einkäufe aufgetragen hatte, nun würde sie selbst noch einmal losfahren müssen. Erstaunlicherweise schimpfte sie nicht einmal. Sie hatte den Topf vom Herd genommen, „zu früh“, sagte er. Sie zuckte nur die Achseln.
„Du riechst“, sagte sie leise, doch unfreundlich. So schnell er konnte, ging Donald ins Bad; er hatte nichts bemerkt. Nelly hatte recht, der Beutel war schlecht befestigt und somit undicht, er sah gleich den Fleck auf seinem Unterhemd. Obwohl er allein war, wurde er rot.
Das restliche Fleisch ließ sich nun leicht vom Knochen lösen. Im Oberkiefer fiel ein Zahn aus, Donald klebte ihn wieder ein. Er hatte sich Berkas Anweisungen genau eingeprägt. Ohne Haut und Fleisch, ohne Zunge, ohne Augen, lag nurmehr ein gewöhnlicher Schädel vor ihm; er musste sich anstrengen, um sich das Bild eines Rehs wieder vor Augen zu rufen, und dann war es bloß das des halb unter den Sträuchern verborgenen Kadavers. Nie zuvor hatte Donald sich vorgestellt, dass Rehe auch starben, dass sie nicht alle abgeschossen wurden, niemals hatte er sich gefragt, wo sie wohl starben. Es würde schwierig sein, den Schädel hinten abzusägen, wenn niemand ihn festhielt. Zuerst traute er sich nicht, dann spannte er ihn, in einen Lappen gewickelt, in den Schraubstock und wunderte sich, wie viel der Knochen aushielt, ohne auch nur zu knacken. Das Gehirn wollte er aufbewahren, um es den Kindern zu zeigen. Als er den Hinterkopf wegklappte und sah, was noch übrig war, entschied er sich anders. Am Mittag musste er sich hinlegen.
Kurz vor dem Abendbrot war Donald fertig. Sein Rehschädel war akkurat auf einer Grundplatte aus dunklem Holz montiert. Das Nasenbein hatte sich zusammen mit der Schnauze abgelöst und die braune Verfärbung an den Zahnhälsen hatte der mehrfachen Behandlung mit Wasserstoff widerstanden, doch davon abgesehen hatte er einen schönen Schädel, fast eine Jagdtrophäe. Wohin damit?
Nelly saß mit verweinten Augen auf der Kante des Fernsehsessels. „Ich hab mit dem Arzt telefoniert“, sagte sie. „Es ist weitergegangen.“
„Es ist fertig“, erwidert er und hielt ihr sein Werkstück hin. Sie wandte den Kopf ab.
„Das kannst du im Keller lassen. Häng es bloß nicht hier oben auf.“ Ihre Stimme klang brüchig.
Auf dem Balkon begann er schnell zu frösteln. Der Tag war schön, doch der Wind wehte kräftig und kalt. Donald fühlte sich noch halb durchdrungen vom Fertigerstolz, halb verletzt von Nellys brüsker Zurückweisung. Langsam erreichte ihn ihre Botschaft. Auf dem Nachbarrasen spielten die Kinder Fußball. Der eine wollte schießen, doch der im Tor stand, kam rausgelaufen und legte den Ball woanders hin. Der Schuss ging gegen die Hauswand. Laub wirbelte auf, die Kinder johlten und liefen in den Blätterregen. Donald winkte ihnen.
„He, soll ich euch was zeigen?“
Stillstand. Schweigen. Sie glotzten blöde. Der größte nahm den Ball und lief damit um die Hausecke, die anderen folgten ihm.
Mit seinen eigenen Enkeln ging es ihm genauso. Als sie am nächsten Tag zu Besuch waren, wollten sie die Trophäe nicht sehen. Sie fanden „so was eklig“. Abends rief auch noch seine Tochter an und schimpfte mit ihm. Sie nannte ihn einen Kindskopf. Als sie fragte, ob er den Verstand verloren hätte, platzte ihm der Kragen und er rief ins Telefon: „Dein Vater ist todkrank, warum fragst du nicht mal danach?“ Er bereute sein Verhalten sofort.
Der Schädel lag auf dem hohen alten Schrank im Flur. Nun nahm er ihn herunter. Er saß doch ein wenig schief auf der Holzplatte, manche Dinge gelangen dem alten Mann nicht mehr so wie früher. Hinten fehlte noch ein Aufhänger. Donald nahm eine Stoff-Einkaufstasche und steckte das Teil hinein. Nelly war beim Aqua-Jogging.
Als er das Haus verließ, dämmerte es. Mit Spaten und Tasche, den Stock in der Linken, ging er den Weg hinunter, an der großen Wiese entlang, auf der er all die Jahre so oft die Rehe beobachtet hatte. Sie war leer. Im Wald war es schon dunkel. Donald verließ den Weg. Es war nicht ungefährlich, im Dunkeln mitten in den Wald zu laufen, Gestrüpp und Ranken auf dem Boden konnten sich wie Schlingen um die Füße legen. Deshalb ging er nicht weit, bevor er anfing zu graben.
Später scharrte er mit dem Fuß Laub über die Stelle. Aus der Nähe würde man sie trotzdem sehen. Zu Hause rieb er den Spaten mit Küchenpapier ab. Darüber geriet er außer Atem. Als Nelly zurückkam, saß er keuchend auf der Gartenmauer. Das Licht der Autoscheinwerfer wischte hart über ihn hinweg, eine Sekunde später schien trübe die Außenleuchte. Im Rhododendron glommen die Augen einer Katze.
Zwei Tage später waren sie auf dem Weg ins Krankenhaus. Es begann wieder von vorn. Untersuchungen, Prognosen, Diagnosen, Therapievorschläge. Nelly saß neben ihm auf der Rückbank des Taxis, seine Tasche auf den Knien, als wäre sie es, die ging.
„Hat er noch mal angerufen?“ fragte Donald unvermittelt.
„Wer?“
„Berka.“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wer ist das?“