Der Wald im Widerstand – Eine ökokritische Perspektive auf die Karpatenliteratur

Alexander Kratochvil
Livestream-Vortrag im Literaturhaus Berlin

Aktueller Anlass – Vorbemerkung
Als Verena und ich letztes Jahr über ein Vortragsthema für die diesjährige Brücke aus Papier sprachen, lag es aus gegebenem Anlass (Veranstaltungsort Iwano-Frankiwsk) nahe, die Literatur über die Karpaten in den Mittelpunkt zu rücken. Das war im wort-wörtlich naheliegend, denn trotz einer scheinbar peripheren Lage befindet sich die Karpatenregion kurioserweise geographisch in der Mitte Europas – worüber z.B. Jurij Andruchowytsch oder Taras Prochasko in Prosa und Essays kunstvoll geschrieben haben. Andererseits begünstigte die relative Unzugänglichkeit der Ostkarpaten – im Zusammenspiel mit ästhetischen und ideologischen Aspekten der Aufklärung und Romantik – die Entdeckung dieser Landschaft im 19. Jahrhundert als ästhetisch attraktive, wilde, fremdartige Landschaft mit ebenso fremdartigen „Ureinwohnern“; übrigens ganz ähnlich wie die Entdeckung der Hohen Tatra oder der Alpen. Ursprünglich hatte ich die Absicht, in meiner Präsentation einen Blick auf die vielsprachigen Texte über und aus den Karpaten zu werfen und zwar exemplarisch anhand der Grenzgängerfigur des Karpatenräubers. In dieser Figur findet sich eine Vielzahl von Charakteristika der Region personifiziert, anschaulich in den Romanen z.B. von Hnat Chotkevyč, Karl Emil Franzos, Ivan Olbrachts oder Bela Illies.

Nun kam alles anders – neben der Pandemie gab es da noch die katastrophalen Überschwemmungen im Juni in der Region Iwano-Frankiwsk, wobei hunderte Menschen verletzt wurden und evakuiert werden mussten. In dem Zusammenhang wird regelmäßig nach den Gründen von größeren oder kleineren Überschwemmungen gefragt, es werden dann genannt: extreme Wetterbedingung, die übermäßige Abholzung, viel Regen, der vom Boden nicht mehr aufgenommen werden kann. Und so wurde auch meine ursprüngliche Idee sozusagen fortgespült. Aufgetaucht ist dagegen die Frage, ob man die aktuellen Ereignisse und die mit ihnen verknüpften Umweltthemen in den literarischen Texten der Region wiederfindet. Anders gesagt: Gibt es neben den Geschichten, die die Karpaten als magischen, wilden Ort mit unberührter Natur und einem archaischen Menschenschlag darstellen, auch Narrative, die ökologische und ökonomische Fragen aufwerfen. Gibt es literarische Erzählungen, die die Holzwirtschaft, überhaupt die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Berge im Spannungsfeld von Tradition und Moderne reflektieren zum Beispiel als Narrative der Umweltzerstörung und Abholzung der Wälder. Und – es wird Sie nun wahrscheinlich nicht überraschen – es gibt solche Erzählungen, die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt ab Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem ökonomischen und sozialen Wandel in den Karpaten das wechselseitige Verhältnis von Mensch und Natur ansprechen – also auch Probleme der Rodung und den Kahlschlag der Wälder thematisieren.

Bevor ich zu den Texten selbst komme, und worauf sich die im Titel genannte ökologische Perspektive beruht, und weshalb man z.B. vom Wald im Widerstand bei diesen Geschichten sprechen kann. Nun spielen Geschichten bekanntermaßen eine Schlüsselrolle in der Reflexion und Vermittlung aller Themen und Bereiche, die unser Dasein als Menschen betreffen. Sie strukturieren unser Leben in Erzählungen über Kindheit und Jugend, Erwachsenwerden etc.; Geschichten machen Ereignisse verstehbar, indem sie uns soziale, kulturelle, historische Kontexte anbieten. Sie ermöglichen, unsere Erfahrungen in diese Kontexte einzuordnen und sie als Lebenserfahrungen in unserem Gedächtnis zu speichern. Damit sind Geschichten auch Orientierungshilfen in den Räumen und Zeiten, in denen wir uns bewegen. Gegenwärtig bewegen wir uns in einer globalen Welt, die mit vielschichtigen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und biologischen Akteuren – wenn man zu den Akteuren auch Viren und ähnliches rechnet, was seit diesem Jahr getrost machen kann – in ökologischen Zusammenhängen verstrickt ist. Dieses Aufeinanderbezogensein, die Dialektik von Natur und menschlicher Tätigkeit, Kultur im weitesten Sinn – führte zur Feststellung, dass wir uns in einem neuen Erdzeitalter befinden, dem Anthropozän. Sie kennen den Begriff und das damit verbundene Konzept sicherlich, deshalb nur wenige Worte dazu: Der Begriff Anthropozän wurde im Jahr 2000 erstmals in die Umweltwissenschaften eingeführt, bezeichnet nichts weniger als ein neues Erdzeitalter, in dem die Aktivitäten der Menschheit im globalen Ausmaß die biologischen, physikalischen und geologischen Systeme der Erde massiv und nachhaltig beeinflussen. Der Begriff wird inzwischen in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen und öffentlichkeitswirksamen medialen Diskursen verwendet. Kritik an der Idee des Anthropozäns gibt es natürlich auch, und diese bezieht sich auf die Grundlage des Konzepts, das in einem Zivilisationsmodells der Moderne verankert ist, das von Machbarkeitsprinzipien und ökonomischen resp. von kolonialen – kolonialisierenden Interessen geprägt sei.

Man sieht trotz dieser etwas holzschnittartigen Ausführungen, dass die Debatten über das Anthropozän und damit zusammenhängender Umweltkonzepte jedenfalls engagiert sind, im besten Sinne des Wortes, und auch von Wissenschaftlern gesellschaftliche Positionierung fordert – wie wir es zuletzt im Zusammenhang mit der Pandemie sehen konnten – und dass dieses Engagement und die Positionierung als Korrektive resp. Ergänzungen zu Politik und Wirtschaft fungieren sollen.

Im Zusammenhang mit dem Anthropozän lässt sich auch jene wissenschaftliche Forschung verstehen, die im Zuge der Ökologiedebatten seit den ausgehenden 1970ern entstanden ist. Diese Richtung teilte sich trotz aller deklarierten Interdisziplinarität einerseits in Umweltgeschichte, andererseits in Ecocriticism, der in der Literaturwissenschaft verwurzelt ist. Ecocriticsm ist an der Schnittstelle von Ökologie, Literatur und Ethik angesiedelt. Ausgehend vom Bewusstsein der gegenwärtigen ökologischen Krise untersucht er, mit welchen Mitteln und Funktionen literarische und andere Texte sowie Medien überhaupt problematische Aspekte der Wechselbeziehung zwischen Mensch gemachter Welt und der natürlichen Welt thematisiert werden. Fragestellung des Ecocriticsm nehmen die Art und Weise in den Blick, wie Natur als Landschaft oder Umwelt, oder wie nichtmenschliche Lebewesen in literarischen Werken präsentiert werden. In einem weiteren Schritt kann dann gefragt werden, wie mit literarischen und anderen medialen Inszenierungen, die Ausbeutung von Naturressourcen offenlegt, und zudem soziale und ethnische Problemlagen damit verknüpft werden.

Ecocriticism bietet nun keine neue Literaturtheorie an, da er über keine einheitliche Begrifflichkeit in der Analyse und den Interpretationstools verfügt; Ecocriticism lässt sich am ehesten mit verwandten Richtungen wie Gender studies oder postkoloniale Studien vergleichen, die auch aus Postmoderne und Poststrukturalismus hervorgegangen sind. Diese Richtungen beziehen sich auf bestimmte Fragestellung und/ oder soziokulturelle Konstellation und sind oft einem politischen Anliegen oder sogar engagierten Projekt verpflichtet. In literarischen Texten schließt dies eine – wie ich es nennen möchte – Verantwortungsästhetik jenseits erzieherischer oder propagandistischer Interessen ein. Dabei geht es um eine Herausforderung etablierter ästhetischer, soziokultureller und politischer Normen und Werte, d.h. Verantwortungsästhetik provoziert counter narratives. Diese implizieren Widerstand gegen eine Konzeptualisierung von Natur, als das „Andere“, „Wilde“ resp. „das zu Zivilisierende“ wie es in der Aufklärung und Moderne herausgebildet wurden und bis heute weiter tradiert wird.

Und hiermit möchte ich zur ukrainischen Literatur und zum Widerstand des Waldes und der Schriftsteller kommen. Exemplarisch sollen Texte von Olha Kobyljans’ka (1863-1938) und Ivan Franko (1856-1916) vorgestellt werden, eine Autorin und ein Autor, die zum festen Kanon der ukrainischen Literatur seit über 100 Jahren gehören.

Natürlich finden sich ökologische und soziale Verflechtungen von Mensch und Karpatenwald schon in früheren Darstellungen, etwa in dem Reisebeschreibung „Neuste physikalisch-politische Reisen durch die Dacischen und Sarmatischen oder nördlichen Karpathen“ (1790-1796) des Professors der Lemberger Universität, Balthasar Hacquet, die neben einer Beschreibung der Geographie, Geologie und Biologie der Region auch ethnographische Beobachtungen zu den Huzulen enthält. In seiner Darstellung schwingt deutlich die aufklärerische, deutsch-österreichische Kulturmission der Region mit; von ukrainischer Seite gibt es z.B. einen Reisebericht aus den Karpaten von Jakiv Holovac’kyj aus dem Jahr 1839, der als Mitbegründer der westukrainischen Literatur kanonisiert ist. Auch Ivan Franko hat sich früh in vielerlei Hinsicht – ethnographisch, linguistisch, soziologisch, historisch mit den Karpaten und ihren Bewohner in etwa hundert Beiträgen unterschiedlicher Genres und Textsorten beschäftigt – schließlich stammt er selbst aus einem Dorf im Karpatenvorland. In seiner Erzählung „Wälder und Weiden“ (1883) werden die Enteignungen der Gemeinschaftsweiden, die Privatisierung und Verstaatlichung der Wälder und vor allem der Widerstand der Bauern dagegen in den Mittelpunkt gerückt. Die Erzählung ist eine höchst ironische Darstellung juristischer Intrigen und Korruption in der staatlichen Verwaltung, sowie menschlicher Schlechtigkeiten, gegen die die Landbevölkerung keine Chance hat. Der Text „Wälder und Weiden“ beruht auf zahlreichen realen Vorkommnissen, in denen Bauern sich nicht mehr anders gegen staatliche Willkür zu wehren wussten, als quasi den Wald zu besetzen, um umfangreiche Rodungen zu verhindern. Es gibt mehrere Vorkommnisse solcher Wald-Besetzungen auf den ostgalizischen Gütern des Grafen Ladislaus Badeni (der Vater des bekannten österreichischen Politikers Kasimir Felix Badeni). Bei solchen Auseinandersetzungen waren oft auch Tote zu beklagen, besonders wenn das Militär eingesetzt wurde. Eine andere Erzählung Frankos, „Der Holzfäller“ (1886), steht ebenso in diesem Kontext. In dieser mythisierenden Prosa marschiert der Holzfäller wie eine heidnische Waldgottheit mit seiner Axt aus dem Wald heraus, um die Bergbewohner als Sozialrevolutionäre zu rekrutieren (der Text ist im gewissen Sinn die Prosaversion des sozialrevolutionären Gedichts Die Steinhauer, 1876).

In dem Zusammenhang ist aufschlussreich was im repräsentativen „Kronprinzenwerk des Erzherzogs Rudolf“, erschienen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zu den Karpatenwäldern geschrieben steht; dort werden diese ganz im Geiste einer Dichotomie von Kultur und Natur, Zivilisation und Wildnis als besonders sehenswert dargestellt und bebildert, Zitat:

„In den östlichen, beinahe ausschließlich mit Wäldern und Forsten bedeckten Karpaten, tief im Gebirge […] findet man noch echte Urwälder, welche ihre Unzugänglichkeit und besonders das Fehlen geeigneter wilder Floßwässer vor den Angriffen des Menschen schützte und bis auf unsere Tage bewahrte. Durch Wälder, die schon mehr oder weniger forstmäßig genutzt wurden, gelangt man allmählich in eine Wildnis, die wirklich ergreifend ist.“

Solche Prosa findet man auch in Reiseführern oder Erzählungen und sie zeugt von einer gewissen Stereotypisierung der Wahrnehmung der Region. Zugleich wird jedoch der moderne Zivilisationsauftrag als vorrangig hervorgehoben, das Recht der Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Sinne des modernen Wachstums-Dogmas – Zitat: „Sehenswert ist ein solcher Urwald, aber sein Wert als Nutzwald ist sehr gering und darum schwindet er und muß endlich den bewirtschafteten Forsten weichen“. Dazu wurde die Verkehrsinfrastruktur ausgebaut, um den raschen Transport vor allem des Holzes über große Entfernungen nicht nur auf dem Wasser-, sondern auch auf Landweg zu ermöglichen. Die ursprünglich mit großen Urwäldern aus Mischwald bedeckten Hänge der letzten waldreichen Gebirge Europas wurden gründlich abgeholzt und bestenfalls mit schnellwachsenden Nadelhölzern aufgeforstet. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert haben sich nur in einigen Teilen der östlichen Karpaten größere Flächen Urwalds als Überreste erhalten.

Das Zusammenspiel von hoch problematischen ökonomischen und sozialen Konstellationen Galiziens im ausgehenden 19. Jahrhundert wird in vielen Texten von Franko thematisiert. Hinzu kommt sein Gespür für die Natur, und zwar nicht nur im Sinne einer neoromantischen Zivilisationsmüdigkeit, bei der Natur oder die Waldeinsamkeit zur Projektionsfläche von Icherkundungen dient, sondern in einer durchaus ökologischen Sichtweise. Diese legt jene Mechanismen offen, die die sozialen und ökonomischen Probleme in den Karpaten zu einer ökologischen Schieflage und Umweltzerstörung führen. Im Vorwort seines historischen Romans „Sachar Berkut“, wird eine solche ökologische Sichtweise deutlich, Zitat:

„In der Gegend von Tuchla ist es heutzutage traurig und unwirtlich. Zwar bespülen noch immer der Stryj und der Opir die kieselumsäumten grünen Ufer, zwar sprießen im Frühling wie vorher Gras und Blumen auf den Wiesen, und der Königsadler zieht seine Kreise in der durchsichtigen azurblauen Luft, aber wie hat sich alles übrige verändert, der Wald, die Dörfer und die Menschen! Einst bedeckten dichte, undurchdringliche Wälder fast den ganzen Hang, von den Flüssen im Tal bis zu den Bergweiden; jetzt sind sie wie Schnee in der Sonne zusammengeschmolzen, sind gelichtet, mitunter ganz verschwunden. Große Flecke liegen kahl. Nur hier und da steht eine verkrüppelte Tanne oder ein kümmerlicher Wacholderstrauch zwischen verkohlten Baumstümpfen. Früher herrschte hier eine tiefe Stille-, kein Laut war zu hören außer der Trembita eines Hirten von einer fernen Bergweite, dem Brüllen eines Auerochsen oder dem Röhren eines Hirsches aus dem Dickicht. Jetzt gellen die Schreie der Hirten über die Weideplätze, in der Waldestiefe und in den Schluchten lärmen Holzfäller, Sägewerker und Zimmerleute, die unausgesetzt die Schönheit der Tuchlaer Berge zerwühlen und benagen wie ein Wurm. In große Stücke zersägt, treiben die jahrhundertealten Tannen und Fichten stromabwärts zu den neuen Dampfsägewerken, oder sie werden gleich an Ort und Stelle zu Balken und Brettern zerschnitten.“

Die Bilder von abgeholzten, kahlen Berghängen drängen sich auf wie wir sie alle kennen (Folie), und es sind anscheinend die gleichen Bilder heute wie vor 150 Jahren, als die Abholzung der einst unwegsamen Karpaten-Urwälder im großen Stil begann. Und auch die damit verbundene Umweltschäden sind seitdem bekannt, die Wasserverknappung einerseits und andererseits Überschwemmungen, magere Schafweiden und Erosion, alles was wiederum auf die lokale Bevölkerung zurückwirkt.

Eine ganz ähnliche Passage wie die eben zitierte mit dem Sägewerk findet sich in Olha Kobyl‘janskas Geschichte „Die Schlacht“ publiziert 1901. In diesem Text wird ausführlich von der Abholzung eines ganzen Berges über mehrere Jahre hinweg erzählt: ausgehendend von der Erkundung und den Vorbereitungen einschließlich der Verlegung von Schienen für den Transport von Arbeitern und Material durch die „Rollbahn“, über das Heer von gedungenen, nicht aus der Regionen stammenden Holzfällern, dann die Rodung unter brutalen Bedingungen, als Folge die totale Vernichtung eines Ökosystems mit Flora und Fauna, Wasser und Geländeformation, der Abtransport der Stämme und ihre Verwertung im nahen Sägewerk.

Ein paar Worte zur Autorin und zum Kontext: Olha Kobyljans’ja war auf Grund ihrer Herkunft eine bilinguale Autorin, die in Czernowitz lebte, auf Deutsch und Ukrainisch schrieb; einige ihrer Texte übersetzte sie in beide Sprachen selbst hin und her, ihre wichtigsten ukrainischen Werke/ Romane sind aber leider auf Deutsch nicht zugänglich, dazu gehören auch Texte, die für ökokritische Lektüren aufschlussreich wären. Die Erzählung „Die Schlacht“ ist interessanterweise zuerst auf Deutsch in Deutschland erschienen. Interessant ist dies nicht nur in werkbiographischer Hinsicht, sondern auch aus einer ökokritischen Perspektive: Lässt man die Romantik mit ihrer spezifischen Naturwahrnehmung einmal beiseite, kann man seit Mitte des 19. Jahrhunderts von einem kritischen Diskurs über das Wechselspiel von Natur und einer modernen Umwelt in Belletristik, Sachbuch und Publizistik sprechen, denken Sie im deutschsprachigen Raum z.B. an Adalbert Stifters „Bunte Steine“ (1853) oder „Hochwald“ (1844), sowie an Wilhelm Raabes Roman „Pfisters Mühle“. Dies sind Werke, die in gegenwärtigen ökokritischen Studien als „protoökologische Kritik der Modernisierung“ (Goodbody 1998, 33f) gelesen werden, oder an Hermann Hesses „Peter Camenzind“ und seinem „Abschied vom Urwald und den Bergen“; besonders hervorheben möchte in diesem Kontext freilich den dänischen Schriftsteller und Botaniker Jens Peter Jacobsen, der von Kobyljans’ka sehr geschätzt wurde und dessen populäre Novelle „Hier sollten Rosen blühen“ von ihr ins Ukrainische übersetzt wurde. Auch vor diesem Hintergrund – denke ich – dass Kobyl’janska ihre Erzählung über die Zerstörung der Karpatenwälder auf Deutsch verfasste und sich so mit ihrer Kritik resp. ihrer impliziten Verantwortungsästhetik leicht in den damaligen kritischen Naturdiskurs einschreibt. Aber lassen wir den Text selbst sprechen, ein Zitat vom Anfang der Erzählung:

„Und eine Üppigkeit in der Vegetation, eine Farbenpracht der Flora und auf den Bergen ein Reichtum von Grün von fast erdrückender Gewalt!

Kniehohes braungrünes Moos wucherte dort unberührt in sanften Wellen aus dem halbfeuchten Boden der Urwaldungen. Daraus hervor – nicht allzu dicht – stiegen Tannen deren Alter hätte erraten werden können, deren Umfang und Schönheit aber stumm machte. Ihre staatlichen Kronen wurden vom Gewölbe gestreift und duldeten über sich nur den Gold Glanz des Sonnenlichts…“

Wenn Sie noch an das vorige Zitat von Ivan Franko zurückdenken, haben wir hier nun einen anderen Zugang zur Natur. Dieser wird über die Erzählhaltung deutlich, die aus der Perspektive des Waldes, seiner Flora und Fauna und auch aus seiner geologischen und hydrologischen Beschaffenheit spricht. Der Standort und Blickwinkel des Erzählens entscheiden darüber, wie der Leser den Stoff wahrnimmt. Die Darstellungsweise der Natur in literarischen Texten spielt daher eine wichtige Rolle in Interpretationsansätzen des Ecocriticism. Die Präsentation der Natur resp. hier der Bäume als handlungstragende Akteure und nicht als Rahmung, Kulisse oder Projektionsfläche für den Menschen ist ein wesentlicher Orientierungspunkt. Eine solche Erzählweise lässt sich als Versuch der Autorin Kobyljans‘ka lesen, die Bäume, den ganzen Wald zu retten, indem man ihnen Stimme gibt – es geht darum die sprichwörtliche Stille des Waldes zu zerreißen; oder anders gesagt, durch eine nicht mensch-zentrierte personale Erzählweise mit dem Wald als Perspektivfigur belebt man den Wald. Merkmal einer solchen nicht mensch-zentrierten Erzählweise ist auch, dass die Handlung durch die Interaktion zwischen Natur und Mensch strukturiert wird. Der Wald ist in der Handlung nicht mehr einfach ausbeutbare Ressource, die sich der Mensch nach Belieben nehmen kann. Ein solches Erzählen soll in einem etwas längeren Zitat illustriert werden:

„Der Angriff begann. Mit einem wilden Hurrageschrei führten ihn die Söldlinge aus. Sie kletterten mit katzenartiger Gewandtheit auf den ersten Berg, als wollte einer dem anderen zuvorkommen oder als wäre es eine Heldenthat fürs ganze Leben, derjenige zu sein, dessen Hand die Axt an den Urwald anlegte! – Aber sie trafen auf Widerstand, das trügerische braungrüne Moos gab unter ihren plündernden Händen nach, und sie rutschten herab. Die kieselige Erde bröckelte unter ihren Füßen, und sie rissen sich die Hände wund, wenn sie sich festhalten wollten.

Aus dem in Fetzen herausgerissenen, an der Wurzel feuchten Mose krochen allerlei das Sonnenlicht meidende Insekten und liefen ihnen über die Hände. Als sie einen festliegenden morschen Baum in wilder Kampfeslust herunterrollen wollten und es ihnen nur gelang, ihn ins Schwanken zu bringen, wandten sich aufgescheuchte Schlangen hervor und zischten sie an. Viele der Söldner, die nur leichte Sandalen trugen, wurden gebissen.

Stachelige Heckenrosenbüsche, deren Zweige in großen Ruten bogenförmig aufgewuchert waren, verflochten mit anderen Sträuchern und unzerreißbaren, efeuartigen Pflanzen und Disteln, bildeten undurchdringliche Wände. Üppige, hellgrüne Farre spreizen sich fächerartig in schwellender Schönheit in die Breite und Höhe, und Giftschwämme von schreiend roter Farbe drängten sich vor. […] Unförmige bucklige Spinnen hatten Netze von Baum zu Baum gezogen, und diese legten sich gleich Schleiern vor die Augen – während Ameisenhaufen aus trockenen, rötlichen Fichtennadeln aufgebaut, sich wie kleine Hügel vom Boden erhoben, und der Fuß wie an Glasglocken herabglitt.“

Der Urwald als Ökosystem mit Fauna, Flora ebenso mit seinem Gestein- und Bodenformationen erscheint im Widerstand. Man kann hier nachvollziehen, wie nichtmenschliche Akteure als handlungstragende Elemente auftreten, während die menschlichen Akteure aus der Perspektive des Urwaldes erscheinen – wie es im Text heißt: „mit rohen Gesichter, in zerrissenen, schmierigen Arbeitskitteln“. Sie gehören mit ihrer Bewaffnung, Hacken und Eisenketten, nicht hierher und der Wald und seine Lebewesen distanzieren sich, etwa ein Adler schlägt beleidigt und voller Zorn mit den Flügeln um sich und erhebt sich stolz in die Höhe.

Auch in anderen Passagen wird die eingängige Dezentrierung der menschlichen Perspektive spürbar, z.B. in dem Kommentar der inzwischen gefällten und zum Sägewerk transportierten Bäume:

„Im Thale waltete reges Leben. Eine große Dampfsäge war im Betriebe. Ziegelrote Schlote von imposanter Größe erhoben sich vom Boden und spien schwarze Rauchwolken unter den Himmel – während im Fabrikgebäude ein Getöse herrschte, ein Brausen und Zischen, dass alle anderen Laute übertönt wurden. […] Als sie [die Baumstämme] am Fabrikeingange vorbei gerollt wurden, vernahmen sie die Worte des Sägemeisters, mit denen er einen Gast belehrte: ‚Die Waldungen wurden der Firma O / C vom Religionsfond gekauft. Man sägt schon sieben Jahre und hat noch drei Jahre zu sägen. Täglich werden siebenhundert Stämme zerschnittenen…‘

Siebenhundert Stämme täglich! – Wie ergreifend deutlich dies klang! Siebenhundert ihrer Genossen täglich vernichtet, die jeder von ihnen Jahrzehnte, ja, zu Hunderten von Jahren gebraucht hatten, um sich zu diesem Umfang zu entwickeln!“

Diese Textstelle – gelesen aus einer ökokritischen Perspektive – unterstreicht noch einmal wie sehr Modernisierung verknüpft ist mit dem nicht hinterfragten Recht des Menschen der gnadenlosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Ich möchte hier nur noch den Aspekt der angeblichen Sprachlosigkeit der Natur hinweisen, aus der der moderne Mensch implizit sein Anderssein gegenüber der Natur schließt und sein Verhalten ihr gegenüber nicht hinterfragt. Dadurch, dass Kobyljans‘ka dem Urwald resp. die Bäume als eigenen Sprachraum konstituiert, macht sie eine Gegenerzählung zum naturwissenschaftlich-technischen Diskurs der Moderne auf, der den Prozess fortschreitender Ausbeutung und Verwüstung legitimierend begleitet.

An dieser Stelle könnte man gut überleiten zur Situation in den Karpaten gut 120 Jahre später, also heute. In einem Essay über engagierte Literatur schrieb Italo Calvino: „Literatur ist notwendig für Politik, insbesondere damit sie dem eine Stimme gibt, das keine Stimme hat, dass sie dem einen Namen gibt, das keinen Namen hat, und insbesondere dem, was die Sprache der Politik ausgrenzt oder versucht auszugrenzen.“ Ergänzend kann man sagen, zu dieser Ausgrenzung gehört auch die Natur. Ausgrenzung beruht auf Anderssein und Differenz, Kategorien, die in der Ökologie eine wichtige Rolle spielen und die auch im Ecocriticsm zentral sind. In literarischen Texten scheint die Aufhebung der Hierarchie zwischen menschlicher und nicht menschlicher Umwelt ein probates Mittel zu sein, dass nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame von Natur – Mensch – Kultur in unkonventioneller Form inszenieren kann. Ein wichtiger Aspekt ist Empathie mit nichtmenschlichen Lebewesen, die mit literarischen Mitteln, z.B. mit intertextuellen Bausteinen aus Märchen, Folklore und Sagen verknüpft sein kann. Die Empathie wiederum bringt uns zur Verantwortungsästhetik wie man sie z.B. in Kobyljans’kas Text findet. Literatur kann als ein Symbolsystem, die emotionale Seite des Menschen ansprechen und Empathie erzeugen – Verantwortungsästhetik wird somit zum Schlüssel eines „Befreiungsdiskurses“ (Serenella Iovino). Befreiung vor allem als Anerkennung der Rechte des ausgebeuteten Anderen – von anderen Menschen zu anderen Lebewesen (Flora und Fauna) als das Nicht-Menschlichen, und die „Anerkennung des Rechts des Anderen würde damit auch Prämisse einer weiterentwickelten Kultur“ (Iovino). Und hier komme ich zu jener Verflechtung sozialer und ökologischer Schieflagen zurück, die bereits in Texten ukrainischer Autorinnen und Autoren vor mehr als hundert Jahren thematisiert wird. In der heutigen Lektüre von Koblyjans‘kas Erzählung wird das Nichtmenschliche nicht nur zu einem beunruhigenden Spiegel des Menschlichen, sondern – und das ist ebenso beunruhigend – es macht durch die Dichotomie Natur – Kultur, durch die Ausgrenzung des narrativen Potenzials und der Geschichte nichtmenschlicher Lebewesen in unserer Umwelt auf einer weiteren Ebene auch eine Krise der Imagination im modernen Denken deutlich – als drehte man sich im Kreis, man kann nicht anders denken als im System der Modernisierung mit ständig neuer Modernisierung auf die Schäden der Modernisierung zu reagieren; dagegen ermöglichen Geschichten und Interpretationen von Geschichten ein Über- und Neudenken des Naturverständnisses und befreien als Gedankenexperimente die Imagination.