Mariupol Dreams

Alexander Milstein

0. Das Bild habe ich vor meiner Reise nach Mariupol gemacht. Auf Russisch heißt Wellenbrecher wörtlich „Wellenschneider“ – wenn man also das bekannte Finger-Messer-Spiel spielte und die Wellen des Meeres bräche, könnte man sich die Finger wund schneiden. Wahrscheinlich hat sich in diesem Bild eine Art Unruhe vor der Fahrt widergespiegelt, vielleicht die beunruhigenden Nachrichten über die Möglichkeit von Kriegshandlungen im Meeresgebiet der Stadt Mariupol, jetzt weiß ich nicht mehr genau, was es war … jedenfalls ist mein Bild so geworden wie es ist, ich habe es „Concrete Dream“ betitelt.

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1. Am Mariupoler Strand zog ich mich um, ohne die Umkleidekabine benutzen zu müssen, indem ich ein Handtuch um die Hüften legte, einmal aber habe ich mein Handtuch im Hotelzimmer vergessen und habe das erst als ich aus dem Meer stieg begriffen, es war früher Morgen, das Meer lag in hundert Meter Entfernung von unserem Hotel, der Morgen war ziemlich kühl, der Wind scharf, so dass man sofort den Wunsch hatte, trockene Sachen anzuziehen, der Strand war schon voller Menschen, alles abgehärtete Liebhaber des frühen Badens, höchstwahrscheinlich Einheimische; ich begab mich in Richtung rechteckiger Kabine in genau dieser Farbe, habe keine, aber wirklich keine Zutrittsmöglichkeit entdeckt, umkreiste die Kabine, machte noch einen Kreis, betastete die eisernen rauen Wände, habe an einer Stelle etwas wie eine Narbe, hermetisch geschweißt, entdeckt … so musste ich an das Bild, das ich nicht in Mariupol, sondern in Pjatipol gemacht hatte, denken … folglich gab es in Mariupol eine passende Installation, noch knapper im Ausdruck als mein Bild, ich habe sie „ Mahnmal für den Eisernen Vorhang “ betitelt und wollte auch mein Bild so nennen … all das kam mir erst später in den Sinn, als ich die Treppe hochstieg, die zum Hotel „Poseidon“ führt, vorher, als ich am windigen düsteren Strand stand, als ich begriff, dass es keinen Eingang gibt – als ob es in Wirklichkeit keinen Ausgang gäbe, als ob ich auf der anderen Seite stünde … ich wähnte mich in diesem Augenblick in einem Traum und beschloss, den Bilderzyklus „Mariupol Dreams“ zu schaffen.

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2. Das Reißzeug. Das Erste, was ich im Zug nach dem Erwachen sah, waren die Umrisse von Zeichengeräten vor dem Hintergrund des roten Morgenhimmels, sie schienen mir so irreal, dass ich sie für einen Traum im Traum hielt. Erst später verstand ich, dass Mariupol auf diese Weise seine Besucher willkommen heißt, indem es den Reisenden die gigantischen Monster von Asowstal vor Augen führt. Der Zufall wollte es, dass ich an dem Tag, als die meisten von unserer Gruppe den älteren Bruder von Asowstal, das Werk Iljitsch, besuchten, in ganz anderer Richtung unterwegs war, ich traf mich mit Freunden, die nur für einen Tag in Mariupol waren, auf dem Weg nach Pestschanoje. Durch das Autofenster wurden uns die Reste der Schützengräben gezeigt, die im Strandsand ausgehoben worden waren.

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3. Dieses Bild hatte ich ursprünglich auf Papier mit Acrylfarben begonnen, etwas ging aber schief, und ich legte das angefangene Bild zur Seite. Vielleicht rette ich das Bild später noch, dachte ich mir, vorläufig aber werde ich es mit der Maus auf dem Bildschirm festhalten … vielleicht findet sich mal jemand, der die Choralsynagoge retten könnte, die allerdings auch so, ohne Dach, mit Himmel und Dschungeldickicht gefüllt, einen starken Eindruck macht. Der Kommentar „Der Eindruck des Aufeinanderlegens unterschiedlicher Welten“ klingt zwar banal, aber es sieht cool aus, auf Facebook habe ich unter dem Bild einen Link auf das entsprechende Foto gesetzt … nach ein paar Tagen verwandelte sich meine Synagogenskizze unvermutet in eine Darstellung der Häuser in der Münchener Galeriestraße, in jenen Winkel des Hofgartens, den de Chirico sein ganzes Leben lang darstellte, bei mir hat er sich zu einem auf dem Kopf stehenden wirren Labyrinth erweitert, danach blieb mir nur noch, de Chirico auf diesem Hintergrund zu zeichnen, ein Manichini in einer eisernen Kugel und den anderen in den hohlen Mond einzuschreiben sowie darunter die Unterschrift zu setzen: „Petanque mit de Chirico“. Da mein Album aber Mariupol gewidmet ist, und de Chirico wie es scheint nie in Mariupol gewesen ist, habe ich das Bild dem Zyklus nicht hinzugefügt. Dafür gibt es hier eine Hommage an einen anderen Künstler – den in Mariupol geborenen Archip Kuindschi.

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4. „Endlich die Kaiserstadt!“ – rief der Schriftsteller und Radiojournalist Hans Pleschinski aus, der im Flugzeug neben mir saß, sein Aufschrei ließ mich die Augen öffnen und ich sah durch das Flugzeugfenster das schief liegende Asowsche Meer. Es stellte sich aber heraus, dass es in Wirklichkeit der Attersee war und dass wir bald in Wien landen sollten.

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5. „Was ist das für ein Ungeheuer?“ – rief im Brief mein israelischer Freund, der Künstler, aus. – So stellen sich wahrscheinlich die Deutschen Juden vor!“ Wieso denn Ungeheuer? war meine Antwort. Das bin doch ich, nicht, dass ich dachte, ich wäre ein Apoll, aber für ein Ungeheuer würde ich mich nicht halten, ich fühlte mich gekränkt. In Mariupol erwähnte ich in einem Gespräch, dass ich in der Schule einmal eine 45-minütige Klassenarbeit in Gasmaske schreiben sollte. Ich habe zwar keinen Masterhut, dafür aber immerhin ein rotes Diplom mit Auszeichnung der Fakultät für Mechanik und Mathematik … damals wurde uns noch ein rautenförmiges Abzeichen ausgehändigt, eine Art Zwergenmütze … auch die Tefillin, einmal getragen, schon verinnerlicht … man weiß ja – wie außen so innen … so war das zumindest früher, vor der virtuellen Realität … tja, der VR-Helm ist eher einer Tauchermaske ähnlich, ist aber keine Maske, die tauchte erst gestern auf einem anderen Bild dieses Albums auf.

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6. Im Kulturpalast „Jugend“ las Anja Kampmann einen Auszug aus ihrem Roman „Wie hoch die Wasser steigen“, in der Passage wurden Tümmler erwähnt bzw. Schweinswale, eine Art Delphin, ich dachte, sie leben nur in Ozeanen, nach dem Googeln erfuhr ich, dass es sie auch im Asowschen Meer gibt, und dass sie dort auch entsprechend heißen – Asowka. Nach der Lesung waren wir alle in der Mariupoler Disko, auf dem Rückweg ins Hotel sah ich unter einem Baum am Gehsteig eine Asowka liegen. Im Unterschied zu dem Mann, den ich am Vorabend nach der Lesung im Palast der „Jugend“ gesehen hatte, bei der ich den Anfang meines Romans „Serpentine“ vorlas, in dem auf der Straße ein Mann liegt, stellte sich der Mann in Mariupol als lebendiger Mensch heraus … die Asowka hingegen ist nicht wieder lebendig geworden, und am nächsten Abend sah ich dieses gruselige Bild wieder, als ich denselben Weg ins Hotel ging. Warum aber nicht den Versuch unternehmen, die Asowka wenigstens auf dem Papier wiederzubeleben, ein kindlicher Versuch … sie gehören ja auch zu den Delphinen, die ich in meiner Kindheit so gerne im Meer treffen wollte, nach denen ich rief, indem ich mit meiner kleinen flachen Hand gegen die Meeresfläche schlug (ich hatte nämlich irgendwo gelesen, dass man sie auf diese Weise herbeirufen kann), die Delphine kamen aber erst, als ich mit meinem eigenen Sohn im Meer badete.

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7. Ich habe letztendlich keine Nixen im Asowschen Meer gesehen, die auf dem Bild also ist wohl aus dem Roman von Wladimir Rafejenko „Descartes’ Dämon“ aufgetaucht, in meinem Bewusstsein hat sich der Titel in den „Laplaсеschen Dämon“ verwandelt, weil für Voraussagen der Laplacesche Dämon, nicht der von Descartes, verantwortlich sei, und Rafejenkos Roman ist ja eine Roman-Vorhersage. Zu welchem Zweck auch immer, teilte ich das dem Autor mit, der zuckte mit den Schultern.

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8. Vom Archip-Kuindschi-Denkmal in seiner Heimatstadt inspiriert. Dabei sieht der in Stein gemeißelte Künstler viel jünger aus und hält nur einen Pinsel in der Hand.

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9. Bei Weitem, es ist nicht der Traum des Serienmörders Tschikatilo (der sowjetische Haarmann), wie jemand in einem Kommentar auf Facebook vermutete, ich denke, er wird durch die Wassermelone die Stufen zu ihr hauen und hat nicht vor, sie, die Prinzessin, mit der Axt totzuschlagen … überflüssig zu erwähnen, dass es reine Fiktion ist, obwohl mir die mündliche Erzählung der Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch den Anstoß zur Idee gab, die mir auch vorgeschlagen hat, die Geschichte bildhaft darzustellen, ich hingegen schlug ihr vor, ihre Geschichte schriftlich festzuhalten, ob sie das gemacht hat, weiß ich nicht, ich meinerseits habe das Bild jedenfalls gemacht, habe zwar etwas völlig anderes gemalt, aber immerhin).

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Übersetzung aus dem Russischen: Chrystyna Nazarkewitsch