Vater Mychajlo schrie laut auf und erwachte. Er atmete schwer und schien Fieber zu haben. Mit zitternder Hand tastete er auf dem Tisch nach seinem Zinnbecher. Die Dezembernacht war so dunkel wie das Kleid der verstorbenen Frau gestern. Der Priester warf einen Blick zum Fenster, das sich leicht grau in einer massiven Wand aus Dunkelheit abzeichnete. Offensichtlich war der Mond hinter den Wolken verschwunden, morgen würde es schneien.
„Es muss drei Uhr sein“, seufzte der Uschhoroder Priester und lauschte, ob er nicht die Glocken der Kathedrale hören würde, die als einzige in dieser Stadt die Zeit anschlugen. Schwer setzte er sich in seinem knarrenden Bett auf und hob langsam den Becher zum Mund. Er schluckte langsam und laut, als hätte sich ein Schleier über seine Kehle gelegt, den das eiskalte Wasser nur schwer durchdringen konnte.
Nachdem er gierig getrunken hatte, ließ er sich wieder auf das hohe Kissen zurücksinken und wischte sich die nassen Haarsträhnen weg, die an seiner Stirn klebten. Sein Haar war lang, wie das der einheimischen Bauern, und grau. Obwohl er erst 54 Jahre alt war, fühlte er sich schon als uralter Mann. Vielleicht, weil er keine Frau und Kinder hatte und ihn daher nichts mit der Welt verband. Außer den Büchern, diesen Schatzkammern der Weisheit, von sonderlichen Büchermenschen wie ihm. Aber je mehr er sich in die Wissenschaft vertiefte, desto mehr irritierte ihn das Leben um ihn herum, die Diskrepanz zwischen dem, was er las und dem, was er sah. Im Laufe der Jahre war er zum Misanthropen geworden, sein harter Charakter nahm immer schärfere Züge an und er konnte sich kaum noch beherrschen, wenn er die Ungebildetheit und Durchtriebenheit um sich herum sah.
„Diese Leute! Diese Misere! Herr, warum duldest du diesen Abschaum, der die Welt mit deinem Namen verwechselt hat und ihr alle Kraft aussaugt, wie ein Floh menschliches Blut saugt!“ Vater Mychajlo knirschte mit den Zähnen und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Vielleicht ließ das Fieber nach.
„Gut“, murmelte er und schloss die Augen, „dann kann ich ja noch ein bisschen dösen!“
Gestern hatte er einer Mutter von drei Kindern auf den neuen Friedhof in der Motscharjanska-Straße das letzte Geleit gegeben. Dort war er in dem kalten Wind auch bis auf die Knochen durchgefroren. Er dachte an die drei kleinen, in Lumpen gekleideten Kinder, an den schweigsamen, abgehärmten Vater, der ihm ein paar Münzen für die Beerdigung hingehalten hatte, an die paar grauen Gestalten, Verwandte oder Nachbarn, die wie Gespenster hinter dem alten Gaul herliefen, der den Schlitten mit dem Sarg nur mit Mühe durch den Schnee zog …
„Nein, nein! Ich muss an etwas Schönes denken! Sonst kann ich wieder nicht schlafen.“ – Er drehte sich auf die rechte Seite. – „Italien! Ja, das göttliche und sonnenverwöhnte Italien.“
In letzter Zeit schlief er immer mit diesen Erinnerungen ein. Die Erinnerung an die fünfzehn Monate, die er im Herzogtum Lucca verbracht hatte, war eine Art Leuchten in seinem Leben, eine fantastische Episode, so unglaublich, dass er schon fast nicht mehr glaubte, dass das wirklich passiert war. Ein magischer, flüchtiger Traum, den er immer wieder hatte ...
„Sehen Sie doch nur, Vater, wie die Sonne hier blendet“, lacht ihn Antonij Labanz an, der Bibliothekar und Archivar des Bischofs, der den Bischof gerade noch überreden konnte, ihn auf diese Reise in die Welt zu schicken. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, so wie die anderen Mitglieder ihrer Delegation. Der Herzog von Lucca hatte darauf bestanden, dass alle vier einen Bart haben und nur die priesterlichen Gewänder des Ostens tragen sollten.
„Sei gesegnet, Lucca!“ Die Küster, noch Schüler, Wassyl Talapkowytsch und Iwan Mykulytsch, blickten sich an.
Ja, sie hatten allen Grund zur Freude! Endlich, nach einer zweiwöchigen Reise von Wien über Venedig und Ferrara, hatten sie Lucca erreicht. Von der holprigen und anstrengenden Reise hatten alle blaue Flecken am Gesäß und an den Schultern.
„Blickt nicht in die Sonne, Brüder! Seht euch den Himmel an!“ Mychajlo deutete auf den unglaublich ultramarinblauen Himmel mit den weißen Schäfchenwolken, wie auf biblischen Gemälden. „Und die Luft! Hört mal, wie sie klingt!“
„Fast wie bei uns in den Bergen!“ Labanz saugte geräuschvoll die Luft ein, „Wenn bloß diese Hitze nicht wäre!“
Neben der Kutsche, an die sie sich in diesen zwei Wochen gewöhnt hatten wie an ihre Gebetsbücher, zogen sie ihre langen, dunklen Gewänder an und blickten auf die weiße Stadt, die zu ihren Füßen lag. Hier lebte in einem prächtigen Palast der Exzentriker, der in diesem katholischen Land eine Kirche nach östlichem Ritus gründen wollte. Der Herzog von Lucca zeichnete sich nicht nur durch Bildung und Frömmigkeit aus, sondern auch durch außergewöhnliche Taten. Die Zugehörigkeit zur königlichen Familie der Bourbonen, die in Frankreich herrschte, verlangte wohl auch von Karl Ludwig, dem Herzog von Lucca, historische Entscheidungen, die eines hohen Herrschers würdig waren. Aber sein Fürstentum, oder Herzogtum im lokalen Sprachgebrauch, war ein kleines in einem zersplitterten Italien. Da hatte ein ambitionierter Herrscher wenig Entfaltungsmöglichkeiten. Ja, der Herzog von Lucca konnte sein Leben genießen, aber das war auch schon alles.
Es gingen jedoch Gerüchte um, dass der Herzog nach dem Blutrecht griechische Besitztümer beanspruchte und sich daher für das östliche Christentum interessierte. Zunächst begann er, den orthodoxen Gottesdienst und sogar das Kirchenslawische zu studieren. Da der Vatikan jedoch die Einführung der Orthodoxie in der Toskana nicht zugelassen hätte, wandte der Herzog seine Aufmerksamkeit der griechisch-katholischen Kirche zu. Immerhin erkennen sie den Papst an, behalten aber ihren östlichen Ritus bei. Für den Herzog von Lucca war dies die ideale Variante.
Karl Ludwig Ferdinand von Bourbon verbrachte den Winter traditionell in Wien. In der Nähe der griechischen Kirche fand er die unierte Kirche der Heiligen Barbara. Hier traf er den Kirchenvorsteher Iwan Fohoraschij, der aus der Eparchie Mukatschewo stammte. Der Herzog erzählte ihm von seinem Wunsch und bat ihn, ihm mit den Geistlichen zu helfen, die bei sich aufzunehmen er bereit war.
Und so trafen ein halbes Jahr später vier Gesandte aus Transkarpatien in Lucca ein: ein Priester, ein Diakon und zwei Küster ...
„Lucca ... Deine blühenden Orangen und Zitronen, die hohen Häuser in den schmalen, engen Gassen, in denen man kaum aneinander vorbeikommt, die grünen Zypressen, die alten, mit Efeu bewachsenen Palazzi, die Weinberge und die Sträucher auf den Hügeln, Mönche in abgetragenen Sandalen, Frauen in großen schwarzen Filzhüten mit langen Straußenfedern daran, Männer, mit Gesichtern wie antike Bronzen, in Strohhüten, die von ihren Geliebten geflochten wurden ... Lucca, gab es dich wirklich in meinem Leben?“ – Lutschkaj öffnete die Augen. Der Schlaf wollte nicht kommen. Aber das hinderte ihn nicht daran, in eine süße Träumerei zu versinken ...
Der Herzog behandelte sie sehr freundlich. In seiner Sommerresidenz in Morla ließ er die Familienkapelle nach östlichem Ritus umgestalten. Zur Einweihung der griechisch-katholischen Kirche Mariä Himmelfahrt am sechsten August 1830 kam Karl Ludwig Ferdinand von Bourbon mit seiner Suite und zahlreichen Gästen.
Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden. Der Herzog war ein belesener Mensch, der fast alle europäischen Sprachen beherrschte, und er mochte den jungen, gebildeten Priester. Besonders erfreut war der Herrscher von Lucca über die Unbescholtenheit seiner Gäste aus den Karpaten im Vergleich zu den italienischen Priestern, die dem Wein, Essen und fleischlichen Genüssen zugetan waren.
Die Transkarpatier zeichneten sich durch ihre Bescheidenheit und Mäßigung aus. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen – einer geheimnisvollen und unbegreiflichen. Und das gefiel dem Herrscher. Nachdem Karl Ludwig Lutschkaj genauer unter die Lupe genommen hatte, ernannte er ihn zum Hofpriester, nahm ihn in seinen Kreis auf, lud ihn zu Feierlichkeiten und Empfängen ein, wo er in erlesener Gesellschaft war.
„War das wirklich wahr gewesen – diese französischen Gesandten, Suppe mit Parmesan, Harfenspiel, Unterhaltung bis Mitternacht? Ja, doch! So war es!“ – Vater Mychajlo setzte sich wieder im Bett auf. Die Uhr der Kathedrale schlug viermal. Warum bloß war er damals nach Hause gefahren?
Er erinnerte sich wieder an das bleiche Gesicht des Herzogs, als der ihm nach dem feierlichen Gottesdienst von der Revolution in Frankreich zugeflüstert hatte: „Der König wurde gestürzt, Vater!“ – Der Herzog konnte es kaum aussprechen und biss nervös auf seinen dünnen Schnurrbart. – „Das ist das Ende all unserer Pläne!“ Seine Familie stand in prächtigen Kleidern und unter Tränen hinter ihnen, und die Diener sahen so niedergeschlagen aus, als wären sie selbst Bourbonen.
Ach, warum nur hatte er sich damals so schnell auf die Reise gemacht! Er hätte die schlechten Zeiten einfach abwarten sollen, so wie die Bauern geduldig schlechtes Wetter abwarten. Denn irgendwann war die Revolution vorbei und der König kehrte nach Versailles zurück.
Aber er war bereits auf dem Weg nach Hause. Er wollte sich eigentlich nur über die Lage in Uschhorod informieren, seine Eltern besuchen und ihnen Geschenke bringen, aber er sollte für immer bleiben. Finita la commedia, Junge!
Im Februar erkrankte er plötzlich an Cholera und lag drei Monate im Fieber. Oder war es vielleicht gar nicht die Cholera gewesen? Er hatte sein Leben lang irgendwelche Wehwehchen. Der Herzog schrieb ihm Briefe, bat ihn, nach Lucca zurückzukommen, aber dieses italienische Leben schien Lutschkaj nur ein Traum gewesen zu sein, eine Art Trugbild, das seinem Leben einen anderen Sinn gab. So ähnlich wie Menschen, die dem Tod nahe waren, nach ihrer Genesung von der anderen Welt sprechen, die sich ihnen eröffnet hat.
Lutschkaj hustete, streckte sein dünnes Bein unter dem Federbett hervor und tastete nach dem Filzpantoffel. Er zündete eine Kerze an. Im Haus war es kalt, sein Atem dampfte. Er wickelte sich in sein Gewand und ging ins Nebenzimmer, das ihm als Arbeitszimmer diente. Hier lag der Sinn seines Lebens, sein einziges Kind, das er seit seiner Rückkehr aus Lucca gehegt und gepflegt hatte.
Italien hatte ihm die Augen für sein eigenes Land geöffnet. Als er dort war, wurde ihm klar, in welch geistige Wüste er hineingeboren worden war. „Die Ruthenen haben weder eine Grammatik noch Politik“, erinnerte er sich an den Brief eines Bekannten, noch vor der Reise geschrieben. Haben sie nicht, werden sie aber haben! So wahr er Mychajlo Pop hieß, oder jetzt – Lutschkaj!
In Lucca schrieb er seine Grammatica Slavo-Ruthena, dort vollendete er die Kirchenpredigten und kam auf die Idee, sie zu veröffentlichen. Schließlich haben unsere Leute in ihrer eigenen Sprache nichts zu lesen. Ohne Bücher gibt es keine Literatur, und ohne Literatur gibt es kein Volk. Stunde um Stunde saß er in der prächtigen Bibliothek des Herzogs, dort begann er auch seine Historia Carpato-Ruthenorum, an der er nun schon dreizehn Jahre arbeitete. Oh, ein solches Werk haben unsere Berge noch nicht gesehen!
Der Priester lächelte und öffnete die knarrende Tür. Er stellte die Kerze in ein Glas mit Weizenkörnern und setzte sich schwerfällig an den alten Tisch. Er schloss die Augen, flüsterte ein Gebet, bekreuzigte sich und schlug dann das in ein Tuch gewickelte Manuskript auf.
So viele Jahre Arbeit – lesen, denken, schreiben! Wie schwer es doch ist, so lange an etwas zu arbeiten! Man muss so entschlossen sein wie er, um nicht vom Weg abzuweichen. Aber er würde es schon noch allen zeigen! All die Tschurhowytschs, Andruchowytschs, Tschopejs, die ihn hassten und lächerlich machten, würden sich schämen. Gott sei Dank, kannte der Bischof ihr billiges Wesen. Komödianten! Tölpel! Dummköpfe!
Er nahm die Feder und tauchte sie ins Tintenfass. Langsam, über ein Blatt Papier gebeugt, begann er damit zu kratzen. Er hörte erst auf, als es dämmerte und die Kerze fast erloschen war.
Lutschkaj lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, gähnte laut und saß eine Minute lang reglos da, starrte auf das alte Spinnennetz in der oberen Ecke neben der Ikone des Heiligen Nikolaus.
„So webe auch ich mein Netz, ohne zu wissen, ob sich nicht wenigstens eine dürstende Seele darin verfangen wird.“
Dann schlurfte er zurück zu seinem Bett. Eine halbe Stunde könnte er noch dösen. Er schob seinen steifen Körper unter die Decke, gähnte noch einmal und schloss die Augen. In seiner Erinnerung suchte er nach einer warmen Episode, um sich für ein Weilchen darin zu verlieren, und flüsterte plötzlich auf Deutsch:
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!“
Er dachte daran, wie er Goethes Gedicht rezitiert hatte, als er auf einer alten, moosbewachsenen Steinbank in der Allee der Seufzer bei einem Wasserfall in Lucca saß. Eine Kurdame mit blassem, elegischem Gesicht, großen schwarzen Augen und einer Rose auf der Brust hörte diesem seltsamen bärtigen Padre so erstaunt zu, dass sie nicht einmal bemerkte, dass sie seine Hand genommen hatte …
„Si, mein Italien, ich komme zu dir“, flüsterte der Priester, und eine verräterische Träne rann über seine Wange auf das Kissen, aber er bewegte sich nicht einmal, um sie abzuwischen. Er war schon dort, in seinem sonnigen Italien ...
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel