Schreibt über uns, schreibt unbedingt, bittet sie. Vergesst nicht, dass wir hier sind, vergesst uns nicht.
Ich glaube, sie spricht Russisch. Aber ich bin nicht sicher, vielleicht ist es Ukrainisch. Seit einiger Zeit kann ich mich dabei ertappen, dass mein Gehirn manchmal ausgeschaltet bleibt, wenn es um die Unterscheidung zwischen diesen beiden Sprachen geht. Ein Gesetz der Kriegszeit. Man erkennt die Unseren reflexartig an Farben. An Blau und Gelb, versteht sich.
Ich antworte ihr, dass wir sie auf gar keinen Fall, niemals vergessen werden. Wir vergessen sie nicht und denken immer an sie. Manche beten sogar. Sie leben in einer ganz besonderen Stadt. Eine eigenartigere gibt es in diesem Land derzeit nicht. “Ihr habt es euch nicht ausgesucht”, sage ich, “aber es ist wohl kein Vergnügen, ein ganzes Jahr an der Frontlinie zu leben. Ihr habt es euch nicht ausgesucht, es ist so gekommen. Wie können wir euch vergessen, wenn das alles ausgerechnet euch zugestoßen ist und ihr hier seid, an diesem Ort?”
Die Stadt heißt Mariupol, und wir brauchten etwa sechs Stunden, um aus einem nicht so weit entfernten Saporischschja hierher zu kommen. Irgendwann ähnelt die Landstraße eher einer Militärstraße. Man kann nicht schneller als 30 km pro Stunde fahren. Der Straßenbelag in der berüchtigten ukrainischen Qualität, dazu noch durch gepanzertes Kriegsgerät endgültig kaputt gemacht.
Und dann noch die Checkpoints. Zunächst muss man dort nur langsam fahren, zwischen den Sperren aus Stahlbeton schlängelnd. In größerer Nähe zum Oblast Donezk muss man schon anhalten – zur Ausweiskontrolle und wohl auch zur Gesichtskontrolle. Aber wir sehen nicht wie Separatisten aus, Gott sei Dank. Alle Soldaten an allen Checkpoints haben immer gelächelt, als sie gehört haben, dass wir nach Mariupol fahren, um dort ein Konzert zu geben. Es ist ein ziemlich beklemmendes Gefühl, Soldaten mit menschlichem Antlitz zu sehen. Denn es gab dort ganz verschiedene Typen – von “Studenten” mit Bandanas und Hipster-Brillen bis zu rassigen Kosaken knapp an die Fünfzig.
Und jeder von ihnen, der hörte, dass wir nach Mariupol fahren, um dort ein Konzert zu geben, war sofort entwaffnet und lächelte uns an. Ich kann mich kaum beherrschen, um eine noch schlimmere Formulierung zu verwenden: “lächelte wie ein Kind”. Was für eine Musikrichtung spielen Sie denn, fragten einige. Ich antwortete “Rock”; wir wollten ihnen – Gott behüte! – den zweifelhaften Begriff “psychedelischer Post-Rock” doch ersparen. An einem Checkpoint reagierte man begeistert, als ich “Punk-Jazz” sagte.
Selbst die örtlichen Verkehrspolizisten, schon aus dem Gebiet Donezk, verdammt, ließen uns einfach weiterfahren, nachdem sie uns für einen ganz offensichtlichen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung nur milde gerügt hatten. Keine Andeutung von Schmiergeldzahlung oder gar einem Strafzettel, obwohl wir wirklich einen verdient hätten. Als sie hörten, dass wir nach Mariupol mit einem Konzertprogramm fahren, wechselten sie sogar ins Ukrainische (hier hatte ich die Unterscheidungsfunktion in meinem Gehirn eingeschaltet), und winkten uns durch.
Als wäre eine Reise nach Mariupol von sich aus ein solch gottgefälliges Unterfangen, dass dir alle ungewollten Sünden sofort vergeben werden und alle um dich herum – das Militär und die Polizei – dir mit allen Kräften und in ihrer Gewalt stehenden Strukturen helfen, dort anzukommen, es rechtzeitig zu erreichen.
Wir ratterten in die Stadt hinein und erfuhren schon in den Vororten, dass unser Konzert nicht um 19 Uhr, wie wir dachten, sondern bereits um 18 Uhr anfängt. Also hatten wir gar keine Chance, es rechtzeitig zum Beginn zu schaffen. Mit der Anstrengung aller Kräfte, die uns am elften Tag unserer Tour noch geblieben waren, gelang es aber, mit einer halbstündigen Verspätung anzufangen. Mariupol würde es uns verzeihen und geduldig warten.
Wir fingen um 18.35 Uhr an. Vor uns stehen zwei Monitorlautsprecher statt der erforderlichen mindestens sechs, jeder kann sich selbst nur gemischt mit den anderen hören, also recht miserabel. Die Hälfte der Technik funktioniert nicht, Mareks Mikrofon verteilt immer wieder Stromschläge, es ist lebensgefährlich in dieses Mikro zu singen. Wir sind gezwungen, eine “halbakustische Version” zu spielen. Den Kontakt mit dem Saal gibt es aber ab den ersten Sekunden, kein Aufwärmen, sofort das Getöse und das Gejubel. Das gibt es nur in Mariupol, weil sie so lange gewartet haben. Nur in Mariupol ruft man nach “Moskau” drei Mal “Ruhm der Ukraine!” Ich antworte wie es sich gehört. Es ist nicht ganz Rock und nicht ganz psychedelischer Post-Rock, hier darf man so was.
… Am Morgen hat sich das bestätigt, was wir am Abend und in der Nacht bereits geahnt haben.
Dass diese Stadt tatsächlich am Meer liegt. Dass sie wirklich eine südliche und mancherorts sehr schöne Stadt ist – dekadent und fast kolonial, mit Akazien, Platanen, Villen griechischer Händler und Fischertavernen. Dazu noch dieses ganz seltsame Gemisch aus Industrie-, Eisenbahn- und Strandlandschaft, das uns in den Strahlen der gnadenlosen asowschen Sonne überwältigt. Da wird es für einen unglaublich kurzen Augenblick klar, warum sie Mariupol doch nicht einnehmen konnten. Genauer gesagt: Warum es sich ihnen nicht ergeben hat.
Ich danke Diana, Kostj und Bohdan.
Übersetzung: Juri Durkot
[1] Am ATOwschen Meer ist ein Wortspiel, ATO=AntiTerrorOperation, der Ausdruck hat sich in der Ukraine für den Kampf gegen Separatisten eingebürgert, und Mariupol liegt am Asowschen Meer.