Charkiw: Unter Bomben. Poltawa: Evakuiert

Andrej Krasnjaschtschich

Wie im Film

Borodin schreibt: »Wie geht’s deinem Humor?« Der ist vorhanden, ist aber vorsichtig geworden. Vater dagegen scherzt. Und duscht sogar kalt.

Mutter betet. Vater schweigt, um sie nicht zu stören. Wenn ich nicht hinschaue, betet er auch. Ich blättere den Newsticker durch, um nicht daran zu denken, dass es jeden Augenblick losgehen kann, aber trotzdem denke ich daran und stelle es mir vor.

Auf einem gespendeten Glas mit Eingemachtem: »Nach dem Krieg will ich das Glas zurück! Oma Uljana.« Und der Name des Dorfs.

Ich lese die Nachrufe auf russische Offiziere. »Ungeachtet dass …«, Kommasetzung Fehlanzeige. »Gestern wurden vier Oberstleutnante beerdigt.« Ich lese die Berichte unserer Leute – auf Russisch. Nicht ein einziger Fehler. Und auch der Stil gefällt mir.

Die Russen glauben ernsthaft, dass Stepan Bandera lebt. In unserem Zoo hat man einen Panther umgetauft. Er heißt jetzt Stepan Panthera.

Auch wir haben vieles nicht gewusst – Menschen wie der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow, der Journalist Podoljak oder der Geheimdienstexperte Arestowitsch waren uns bislang kaum bekannt. Oder die Chefs der Militärverwaltungen in Mykolajiw und Charkiw Witalij Kim und Oleh Synyehubov. Oder was für ein Typ Mensch Selenskyj ist. Ich bin froh, dass ich für ihn gestimmt habe.

Ein Video im Telegram-Kanal »Trucha«: In einer Feuerpause geht jemand raus zum Teppichklopfen. Was weiter passiert, wird nicht gezeigt.

Im Supermarkt bin ich der einzige mit Maske. Die Leute nehmen es gelassen zur Kenntnis. Die haben hier schon Saboteure und Plünderer gesehen. Und Getötete.

Meine Muttersprache ist Russisch, aber ich habe kein Problem damit, »Paljanyzja« – die Bezeichnung für ein traditionelles ukrainisches Weißbrot – richtig auszusprechen. Als Kind habe ich in Poltawa oft am traditionellen slawischen Weihnachtssingen, dem koljaduwannja, teilgenommen. Bei Oma und Opa in den Winterferien. »Koljad-koljad-koljadnizja, mit Honig schmeckt Paljanyzja. Ohne Honig nicht so sehr, Tantchen, gib nen Fünfer mir!« Das war das einzige Gedicht auf Ukrainisch, das ich kannte, denn wegen eines Sehfehlers war ich vom Fach Ukrainische Sprache und Literatur befreit, ebenso wie vom Fach »Arbeit«, vom Sport und von der militärischen Grundausbildung. Wie sich jetzt herausstellt, war dieses Gedicht das Wichtigste. Wie damals schon, wenn auch aus anderen Gründen.

Nadja hat gemalt. Während eines Alarms laufen Menschen in einen Keller. Dazu der Kommentar:
»Wir beeilen uns, weil Mama die Stiefel mit den Handschuhen verwechselt hat
Und Oma hat einen Pfanne auf dem Kopf!
Aber ich
bin normal angezogen.«
Ein richtiges Gedicht.

Wenn es kracht, dass die Fenster klirren, sagt Vater: »Das ist unsere Luftabwehr.« Ich denke nicht lang darüber nach, ob das stimmt. Mutter jedenfalls scheinen diese Worte zu beruhigen. Aber vielleicht tut sie nur so, genauso wie ich.

Mutter hört schlecht. Aber die Explosionen hört sie. Sogar dann, wenn es gar keine gibt.

Wenn nicht gerade Luftalarm ist und es nicht knallt, machen wir, was man nicht machen darf: Pläne. Dass wir im Sommer nach Figuriwka fahren werden. Figuriwka ist das Sport- und Erholungsheim meiner Charkiwer Universität in der Nähe von Tschuhujiw. Dort ist längst alles kaputt.

Meldungen im »Molnija«-Chat auf Viber: »Alarm in Saporischschja!«, »Alarm in Krementschuk!«, »Alarm in Neapel!« Halt, da stimmt was nicht. Noch mal zurück: »Alarm in Nikopol!«

Nadja isst nicht auf, sie lässt immer etwas auf dem Teller übrig. Und nötigt es meiner Frau auf. Füttert sie sogar. »Ich mag nicht.« – »Noch ein Löffelchen.« – »Ich mag nicht.« – »Komm schon. Damit Putin verreckt.« – »Hast du das irgendwo gelesen?« – »Hab ich mir selber ausgedacht.« Egal, es hängt sowieso in der Luft.
Wenn er doch einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen würde. Anstatt der Menschen hier.

In den Apotheken gibt es nichts fürs Herz. Auch die Lager sind leer. Die Hamsterkäufer haben alles mitgehen lassen. Sogar den Baldrian. Meine Schwester sagt, in Poltawa auch.

Oleh erzählt: Als er Wasser holen will, warten am Hauseingang zwei und wollen rein. Angeblich sollen sie irgendwo das Internet reparieren. Sie zeigen ihre Papiere. Er glaubt ihnen nicht, misstraut ihren asozialen Visagen. Also schreibt er an alle im Haus-Chat. Als keiner antwortet, schickt er die Typen weg. Eine halbe Stunde später schreibt einer im Chat: »Die sind für uns.«

Der Unterricht hat wieder angefangen. Online. Das Aufsatzthema: »Wie sich mein Leben seit Beginn des Krieges verändert hat.« Wenn es nicht zu schmerzhaft ist, davon zu erzählen.

»Am 23. Februar habe ich abends wie immer meine Hausaufgaben gemacht und bin ins Bett gegangen. Aber als ich am Morgen aufgewacht bin, habe ich begriffen, dass ich verschlafen habe und der Wecker mich nicht geweckt hat. Normalerweise stehe ich um 6:30 Uhr auf, damit ich es pünktlich zum Schulbus schaffe, der um 8:15 Uhr kommt. Als ich aufgewacht bin, war es aber schon 8:00 Uhr. Ich habe auf die Uhr geschaut und einen großen Schreck bekommen.«

»Erst sind wir bei jeder Sirene in den Keller runtergegangen. Da waren ich, Oma, Mama, meine Tante, meine Großtante und meine Großcousine. Manchmal auch ihre Katze. So sind die Tage vergangen. Bald sind wir nicht mehr in den Keller gegangen, sondern haben, wenn die Sirene losging, einfach das Licht ausgemacht.«

Bevor ich mich mit meiner Frau treffe, um ihr meine Einkäufe zu übergeben, suche ich ein Buch aus, das sie unserem Kind geben soll. »Robinson Crusoe.«

Für Neujahr hatten wir Zugtickets nach Odessa. Wir fuhren damals nicht, weil ich krank wurde. An meinem Geburtstag fuhren wir dann auch nicht nach Baturyn.
Für den 5. März hatten wir Fahrkarten nach Brody. Das galizische Jerusalem. Unweit davon die Burg Olesko. Und die Burg Pidhirzi. Wir hatten die Route schon geplant.

Meine Arbeit besteht jetzt darin, Lageberichte zu lesen. Über alles Bescheid zu wissen. Als ob es helfen würde, wenn ich alles weiß. Dabeisein.

Der »Luftalarm« im Telefon hat ein Update bekommen. Er brüllt jetzt lauter. Dafür sagte früher eine anonyme Frauenstimme: »Ende des Alarms«, jetzt dagegen ist es die beruhigende Stimme von Arestowitsch: »Ende des Alarms. Sie können zum normalen Leben zurückkehren. Alles wird gut.«

Das Wallpaper-Karussell im Telefon hat ein Update bekommen. Mein Hintergrundbild mit der Festung Tarakaniw ist verschwunden. Eine historische Ruine aus dem 19. Jahrhundert. Wir waren dort im letzten Herbst. Ich suche danach, versuche es wiederherzustellen. Charkiw sieht jetzt genauso aus. Ich lade eine Zeichnung von Nadja dazu: Sie selbst, lächelnd, umringt von vielen Katzen.

Wir fahren mit dem Auto. Mutter betrachtet die zerstörte Stadt und sagt: »Wie im Film. Und wir sind mittendrin.«

Gewehrsalven in dem Wohnviertel, in das Lena und Nadja zur Sicherheit umgezogen sind. Olehs Nachbarhaus ist getroffen worden: Anstelle einer Wohnung ist da jetzt ein Loch. Die Assistentin aus meinem Institut erzählt:
»Also, da kamen so ein paar Saboteure vorbei.
Erkennungsmerkmale: Der eine ziemlich klein, etwa so wie ich, nur schlanker, mit schwarzen Augen, vom Typ her ziemliches Gesindel, mit einer schwarzen Weste, so ähnlich wie eine schusssichere, aber eben doch keine, und mit schwarzem Käppi. Der andere hochgewachsen, sportlich gebaut, blonde Haare, helle, graublaue Augen, mit dunkelblauer Jacke.
Der Kleinere von den beiden will mir das Telefon wegnehmen.
Zum ersten Mal im Leben bin ich froh, nicht Mutter zu sein. Hier laufen doch ständig Kinder rum.
Sie sagen: Wir sind für die Ukraine.
Unsere Leute sagen so was nicht.
Sie fragen: In welcher Sprache redet ihr lieber?
Da haben wir gleich Verdacht geschöpft.
Die so: Wir müssen bei euch aufs Dach. Wir: Geht doch zur Hausverwaltung. Die so: Wenn ihr weiter in euren Kellern hocken wollt, bitte sehr. Dann wollten sie den Schlüssel zum Dach, wir haben versucht sie zu knipsen, da haben sie sofort ihre Makarows gezogen und uns bedroht. Jedenfalls haben wir sie weggeschickt, uns gleich in den Keller verzogen und die Tür verriegelt. Die von der Territorialverteidigung haben gesagt: Schließt euch im Keller ein und vermeidet jeden Kontakt.
Die Territorialverteidigung durchkämmt gerade das Viertel.«

Erst klang es zwar ungewohnt, aber mir hat das ukrainische »Trimaissja!« (»Halt durch!«) statt »Paka!« (»Tschüss!«) gleich sehr gut gefallen. Derzeit ist auch auf Russisch »Derschites!« (»Haltet durch!«) als Abschiedsformel häufig zu hören.

Andere Menschen

»Der siebenundzwanzigste Tag dauert an.« – »Der dreiunddreißigste Tag neigt sich dem Ende zu.« Ich erinnere mich nur an den 24. Februar, alle anderen Tage sind zu einer amorphen Masse verschmolzen. Die Sirene. Der Flur. Die Zwei-Wände-Regel.
Für Vater ist es ein Wahnsinns-Akt, die Treppe runterzugehen. Für Mutter auch. Bei der letzten Treppe fehlt das Geländer. Hab ich gar nicht gemerkt. Vater bleibt stehen.
Es wummert, nah und laut. Ohne Unterbrechung. Wir haben Angst, das Haus zu verlassen. Und Angst, darin zu bleiben. Wir gehen hinaus. Draußen sind die Explosionen noch stärker zu spüren.
Ein Haus ohne Ecke, die Wohnräume liegen offen. Da hängt ein Leuchter, dort steht eine Chiffoniere. Dekoration im Theater. Der Kampfhandlungen.
Der Markt »Skaska«, zu Deutsch: »Märchen«. In Schutt und Asche. Das »Märchen« ist aus. Der Supermarkt »Klass«, eingeschlagene Scheiben. Ich fotografiere nicht, ich merke es mir einfach. Das Charkiw, das wir verlassen, bleibt mir in diesem Zustand in Erinnerung.
Ich warte, bis es nachlässt. Sich der Krampf lockert. Die Ringstraße. Die Ausfahrt auf die Autobahn. Das erste Dorf. Dasselbe Gefühl wie eben, als ich durch die Stadt ging: Jeden Moment …
Die Gebietsgrenze. Eine Tankstelle. Wir stehen lang. Ich steige aus. Frühling. In Charkiw ist Winter. Ich hab’s rausgeschafft.

Die Warteschlange vor dem Bezirks-Exekutivkomitee.
»Katze.«
»Tier.«
»Putin.«
»Krieg.«
»Tod.«
Wir spielen, wer was womit assoziiert.
»Flugzeuge.«
»Putin.«
»Bomben.«
»Putin.«
Die junge Frau am Ende der Schlange verliert das Bewusstsein. Man hilft ihr auf, führt sie beiseite.

»Umgesiedelt«, evakuiert, das ist man in der Ukraine. Flüchtling ist man im Ausland.
»Ich bin nicht eva-kuiert, sondern nadja-kuiert. Und Mama, die ist lena-kuiert.«

Ich bin ja eigentlich kein »Umsiedler«: Poltawa ist die Stadt meiner Kindheit. Ich bin hier geboren. Hier sind meine Verwandten. Und doch bin ich jetzt »Umsiedler«, Evakuierter.

Arche Noah. Die lange Schlange für die Sozialhilfe. Zweitausend. Rentner kriegen drei. Auch aufgedonnerte Tussis sind darunter, als kämen sie gerade aus dem Restaurant. Kurz flammt mein Klassenbewusstsein auf und erlischt wieder. Wir sind hier alle gleich. Zumindest was den Gesichtsausdruck betrifft.

Das Bezirks-Exekutivkomitee ist das Reich der arroganten Paragraphenreiter. Aber nicht heute. Heute sind hier andere Menschen. So einen Umgang habe ich noch nie erlebt. Nirgends. So behutsam und fürsorglich. Als wären wir aus Kristall und könnten zerbrechen. Auch wir sind andere Menschen.

Ljudotschka ist in Lwiw. Sie erzählt genau dasselbe. Sie wartet im Krankenhaus auf ihren Mann, der operiert wird. Man kümmert sich um sie, bringt ihr Wasser. Jemand bringt eine Tüte mit Essen.
»Wir haben selbst was dabei, danke.«
»Nehmen Sie’s ruhig, dann haben Sie was zu Mittag.«
Unangenehm.

Es ist dir unangenehm, dich als »Umsiedler« zu fühlen. In einer fremden, behaglichen Wohnung zu sein. In einer Turnhalle mit hundert Menschen. Dass dir so viel Aufmerksamkeit zuteilwird. Einem erwachsenen, gesunden Menschen.
Es ist dir unangenehm, dir selbst einzugestehen, dass du hierher evakuiert wurdest, »Umsiedler« bist. Das anzuerkennen.

Noch unangenehmer ist dir, dass du weggefahren bist und andere geblieben sind. Freunde. Verwandte. Du bist im Paradies.
Sogar die Lageberichte liest du jetzt anders. Früher, von der Hölle aus betrachtet, erschienen sie optimistischer.

»Guten Morgen! Wie geht es dir?«
»Morgen.
Ganz ok.
Kein Gas.
Kein Strom.
Kein Internet.«

Ich bin kein Tourist. Für lange Zeit. Keine Wechselwäsche. Wir wählen jeder unsere Größe.
»Nimm nichts, was du nicht benötigst. Vielleicht kann es jemand anders brauchen.«
Früher hätten wir uns eingedeckt. Für lau.

Depeche Mode im Handy. »Walking in My Shoes«. Danke, Mensch, in dessen Schuhen ich jetzt gehe.

Einen »Umsiedler« erkennt man am Rucksack und den Plastiktüten in der Hand. Voller Hilfsgüter. Und am hastigen Gang. Ein »Umsiedler« bewegt sich schnell. Von einer Explosion zur nächsten.

Anstehen an der Supermarktkasse. Man sieht sofort, wer von hier ist und wer nicht. Im Einkaufswagen des Einheimischen finden sich keine Grundnahrungsmittel. Statt Milch Rjaschenka. Kümmelwecken. Eine Plastikschachtel mit Salzhering. Der Umsiedler dagegen kauft nur das Basispaket. Das, was man ihm in seiner Heimatstadt noch als humanitäre Hilfsgüter nach Hause gebracht hat. Brot, Nudeln, Dosenfleisch. Kartoffeln, Zwiebeln.
Manchmal ist es aber auch umgekehrt: Chips, Süßkram, Coca-Cola – auch das ist ein »Umsiedler«.

Wir haben einen Klempner gerufen. Den Nachbarn von unten. Er hat alles repariert. Und erklärt, wie alles funktioniert.
»Vielen Dank. Was bekommen Sie von uns?«
»Wie viel zahlen Sie denn für die Wohnung?«
»Nichts.«
»Dann will ich auch nichts. Sie haben ja schon danke gesagt.«
Die Wohnung gehört einer Kindheitsfreundin, die derzeit in Italien ist.

Ich denke, wenn ich es rausschaffe, werde ich viel spazieren gehen. Einfach überall rumlaufen. Ich sitze zu Hause und horche. Auf alles. Die Reifengeräusche draußen vor dem Fenster, die Flugzeuge. Jemand schlägt den Kühlschrank zu. Mein Magen knurrt.

Lena ist mit Nadja schon seit ein paar Wochen hier. Sie sagt, dass es vorübergeht.
Um fünf Uhr morgens lassen die Nachbarn von oben etwas fallen. Nadja und Lena springen auf und laufen los. Ich auch.

Die Evakuierten aus dem Donbass 2014: dreist und ausgelassen. Weil sie glücklich waren, dass sie es rausgeschafft hatten.
Jetzt bin ich dreist und ausgelassen. Aber still für mich.

Man sieht uns. Spricht uns Mut zu. Zeigt Mitleid. Versucht uns zu beruhigen. Dabei sind wir eigentlich Geflüchtete. Sind dem Krieg entkommen.
Ein freiwilliger Helfer aus Lwiw, der Medikamente von Arwe überbringt:
»Haltet durch. Alles wird gut.«
Er ist unterwegs nach Charkiw. In den Krieg.

Ich gehe zum Augenarzt. Zum Friseur. Treffe mich mit der Lehrerin, die ich beraten habe. Mit Bekannten, die ich in Charkiw seit Jahren nicht gesehen habe.
Halb Charkiw ist in Poltawa. Die andere Hälfte – zerstörte Gebäude – ist dort geblieben.

Die Katze schnurrt wieder. Einen Monat lang hat sie nicht geschnurrt. Nur gemaunzt. Wie wir alle.
Die Kinder, aus den Kellern hervorgeholt, leben als Erste wieder auf. Wir sehen ihnen und den Tieren zu. Aber der Krieg ist noch lange nicht zu Ende.
Und wird mit dem Ende nicht aufhören. Du wirst ihn weiter in dir tragen.

Nadja:
»Später werden wir uns an den Krieg erinnern wie an etwas aus der fernen Vergangenheit. Etwas, das wir durchlebt haben. Das wir durchleben.«

Den Bart, der mir im Lauf des Monats gewachsen ist, kürze ich mir immer nur ein wenig. Jeden Tag. Den Schnurrbart kürzer. Die Wangen. Die Koteletten. Das Kinn ein wenig. Bald werde ich mir wieder begegnen.

Jede Nacht schreien wir im Schlaf. An unsere Träume erinnern wir uns nicht. Meistens schreien wir: »Nein!«

Derzeit wird nicht alles berichtet, was vor sich geht. Vieles wird geheim gehalten. Was in mir vor sich geht, weiß ich auch nicht. Und von dem, was ich weiß, behalte ich viel für mich. Nach dem Sieg wird sowohl das eine als auch das andere ans Licht kommen.

Ich verstehe jetzt, woher der Stil kommt. In den Lageberichten der Telegram-Nachrichtenkanäle. Seit Beginn des Krieges lese ich nichts anderes.
Fakten und Zustandsmeldungen. Analysieren und reflektieren werden wir nach dem Sieg.
Derzeit analysieren und planen andere für uns. Wir fühlen und erleben nur.

»Gestern war ich ungezogen. Und ich habe verstanden, dass man im Krieg nicht streiten und keinen Rabatz machen darf. Damit man nicht so ist wie Putin.
In Kriegszeiten soll zumindest in der Familie Frieden sein.«

Die Vorlesungen haben wieder begonnen. Gestern habe ich den Studenten geschrieben.
Heute im Newsticker:
»Wadym Pawlenko, Student im dritten Jahr an der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw, sowie sein Vater starben bei dem Versuch, aus Isjum zu fliehen.«
Dazu ein Foto. Ich sehe ihn zum ersten Mal. Bisher hatten wir nur Fernunterricht, da steckten alle hinter irgendwelchen Profilbildern.
Er hatte sich schon zum zweiten Mal in meinen Kurs eingeschrieben. War jede Stunde anwesend. Stellte Fragen.

Sachen

Jura und Natascha sind nach Charkiw gefahren. Sachen holen. Viele Leute fahren immer mal wieder nach Charkiw. Ich nicht. Ich wachse in meine Wohnung hier in Poltawa hinein. Repariere sie nach und nach. Achte darauf, dass sie nicht auseinanderfällt. Mit der Zeit und wegen meiner Anwesenheit.
Das macht mir Spaß.
Ich habe mich von Charkiw verabschiedet. Das Charkiw, in dem ich gelebt habe und großgeworden bin, wo meine Tochter geboren wurde und ihre ersten Lebensjahre verbracht hat, existiert nicht mehr. Es wird ganz sicher wieder aufgebaut werden. Eine schöne Stadt sein. Neue Menschen werden an die Macht kommen, Menschen, die sich im Krieg bewährt haben. Die keine Diebe sind. Und Geschmack haben. Charkiw wird aufblühen. Es wird ein anderes Charkiw sein.
Ich werde an einem anderen Ort aufblühen. Einem Ort, den ich mein Zuhause nennen werde. Ich bin kein Umsiedler, sondern ein Hineinsiedler. Ich kann nicht in der Wohnung einer Kindheitsfreundin leben wie in einem Wohnheim. Ich habe mich hier dauerhaft einquartiert. Werde Ordnung halten und diese Wohnung lieben. So wie ich meine Charkiwer Wohnung geliebt habe.
Mit der Charkiwer Wohnung bin ich lange nicht warmgeworden. Nachdem ich eingezogen war, schlief ich die erste Zeit schlecht. Ich fühlte mich nicht zu Hause. Wusste nicht, wo hier mein Platz war. Aber irgendwann fand ich ihn und verließ die Wohnung tage-, ja wochenlang nicht. Rauszugehen, nur auf ein paar Schritte, war ein Problem. Selbst wenn ich zur Arbeit ging, drehte sich alles und mein Blutdruck stieg. So wohl fühlte ich mich, nun, da ich meinen Platz gefunden hatte. Der Platz und ich waren eins. Ich las Beckett, las Canetti, begriff, worüber sie schrieben. Sowohl Beckett als auch Canetti sind in der Charkiwer Wohnung zurückgeblieben. Ich sehne mich nicht nach ihnen, ich habe sie sehr gemocht, aber jetzt brauche ich sie nicht mehr. Was ich jetzt brauche, weiß ich nicht. Aber mir scheint, dass diese Luftmatratze, auf der ich schlafe, dieses harte Kissen – dass das jetzt ich bin. Diese Schränke ohne Bücher. Diese Gegenstände eines fremden Alltags, die sich über Jahre angesammelt haben. Und dieses Ich, mein wahres Ich. Genauso wahr, wie das Ich zwischen all den Büchern in meiner Charkiwer Wohnung.

Poltawa ist anders als Charkiw. Das habe ich schon immer gesagt. Geschrieben. Gespürt. In Charkiw gibt es die Straße des 23. August. In Poltawa die Straße des 23. September. Der Sieg wanderte damals von Charkiw nach Poltawa. Als Kind wunderte mich das: Warum hatte es so lang gedauert? Einen ganzen Monat. 150 Kilometer. Drei Stunden mit dem Bus. Aber schon damals spürte ich, dass Poltawa und Charkiw nicht das Gleiche sind.

Poltawa erkennt sich selbst nicht wieder. Halb Poltawa ist jetzt Charkiw. Aber ein Charkiw, dem du in Charkiw nicht alle Tage begegnest.

Ein Damen–T-Shirt aus dem Haus meiner Eltern. Damen-Shorts aus dem Haus meiner Tante in Poltawa. So kam ich in Poltawa an, nach einem Monat unter Bomben in Charkiw. Mit einem Paar Hosen. Das zweite hatte ich mir von meinem Vater geliehen. Wir haben fast dieselbe Größe. Meine Eltern hatten noch viele meiner Jugendsachen. Die sie nicht weggeworfen hatten. Sie kamen mir zupass. Ich war dabei mich zu häuten, die alte Haut hatte sich am 24. Februar und in den darauffolgenden Tagen zu lösen begonnen. Ich wusste nicht, wer ich war.
Das ist jetzt Geschichte. Die ersten drei Wochen flohen wir oder versteckten uns. Oder flohen, versteckten uns und flohen wieder. Saßen irgendwo mucksmäuschenstill. Kauerten uns einfach hin und warteten auf – nichts. Das Leben blieb stehen. Ich gehörte zu jenen, die sich versteckten und still dasaßen. Nach einem Monat flohen wir. Nach Poltawa.

Ich habe wieder begonnen zu schreiben. In kurzen Sätzen. Was ich fühle. Was ich sehe. Über meine Eltern. Meine Freunde. Es ist anders als das, was ich bisher geschrieben habe. Früher habe ich mir Dinge ausgedacht. Habe in Sätzen geschrieben, die so lang waren wie das Leben vor mir. Habe auf Tautologien geachtet, Wiederholungen gestrichen. Jetzt gefallen mir Wiederholungen. Jetzt sehe ich nichts Schlechtes darin.
Ich habe über all die Leute nachgedacht, die Non-Fiction geschrieben haben. Darüber, mit wem ich vergleichbar bin. Musste an Sluzki denken, an Alexijewitsch, Bukowski. Malaparte.
Mit ihnen bin ich nicht vergleichbar. Ich bin vergleichbar mit den Telegram-Kanälen, die ich lese. Schöngeistige Literatur kann ich nicht mehr lesen. Wahrscheinlich für lange Zeit. Canetti und Beckett sind vergangen.

Julia Anatoliiwna, Dozentin an unserem Lehrstuhl: „Andrej Petrowitsch, vielen Dank! Ihre Aufzeichnungen beschreiben schmerzhaft genau, was wir alle empfinden. Leider betrifft dies auch die Lektüre … Telegram-Kanäle und Tagesberichte sind das einzige, was ich lesen kann, damit ich mich ‚dazugehörig‘ fühle, alles andere – keine Chance.“

Übung macht den Meister. Ohne Fleiß kein Preis. Was wiederholt wird, wird irgendwann zum Ritual. Ritual und Mythos sind im Grunde dasselbe. Das bringe ich gerade meinen Studierenden bei. Ich erzähle ihnen von der soteriologischen Funktion des Mythos. „Wie bitte?“, fragen sie. Schwieriges Wort. „Rettend, psychotherapeutisch.“ Ich führe Beispiele an. Ein solches Beispiel bin ich jetzt selbst.

Und doch bin ich noch nicht geschlüpft. Ich werde gerade erst geboren. Beobachte mich selbst, wie ich mit fünfzig neu geboren werde. Bei meiner Neugeburt helfen mir die Sachen, die mich umgeben. Die anderen Menschen gehören. Die ich secondhand gekauft habe, die nach dem Tod anderer Menschen zurückgelassen oder abgegeben wurden. An diese Menschen denke ich nicht. Ich denke an mich selbst.
In die sékondy (so nennen wir die Second-Hand-Läden) gehe ich immer am letzten Tag, bevor eine neue Lieferung kommt, dann sind die Preise am niedrigsten. 34, 25 Hrywnja das Kilo. Ich kaufe viel. Verspielte, grellbunte Sachen, total untypisch für mich. Untypisch für den, der ich mal war. Eine deutsche Lederjeans. Ein Hawaiihemd. Einen Tirolerhut mit Feder. Ich wüsste nicht, wozu ich den jemals aufsetzen würde. Aber zu Hause werde ich mich damit im Spiegel betrachten.
Hemden, die mir nicht passen, gebe ich meinem Vater. Auch er ist ein Umsiedler.

Ich habe über mein Zuhause geschrieben. Mein Zuhause und meine Sachen. Oleh hat es gelesen und mir dies geschickt: „Eine fb-Bekannte hat dies über ihr Zuhause geschrieben – fand ich gut: ‚Julia Pilipchatina: Ich hatte die Möglichkeit, ein paar Sachen von zu Hause zu bekommen […]. Aber dann merkte ich, dass mir mein Zuhause – auch wenn es noch so weit weg ist – zusammen mit diesen Sachen noch viel wichtiger ist, als diese Sachen hier zu haben. Ich verstehe nicht, wie ich jemals meine Kleider und Bücher aus meinem Zuhause entfernen könnte – und wozu. Es geht doch jetzt um ganz andere Dinge. Stattdessen hab ich zwei Porzellanhaken gekauft. Für zu Hause. Verzweifelter Optimismus in Zeiten des Krieges.‘“
Einen Tag später schreibt Oleh im Privatchat: „Mir ist aufgefallen, dass ich nicht mal mehr genug Papier habe, um meinen Antrag auf Beurlaubung zu schreiben. Ich bin am Arsch.“ – „Nicht am Arsch, sondern ein freier Mensch.“ Wir sind Philologen, Papiermenschen. Freie Menschen, und bald auch Menschen ohne Beruf.

Ljudotschka schreibt: „Bücher habe ich keine mitgenommen. Dafür zwei Porträtfotos meiner Eltern, als sie noch jung waren. Für den Adoptivsohn Daniil das Foto seiner Mutter, eine Tasse, die schon 100 Jahre alt ist (von der Uroma) und Omas Clutch, die in den 50ern in Mode war … und dann noch einen (auch bald 100-jährigen) Fächer.“

Oleh machte sich bereit, Charkiw wieder zu verlassen. Ich wusste, dass ich nichts lesen würde, bat ihn aber trotzdem, mir ein paar von seinen Büchern mitzubringen. Wir berieten lange, welche seiner Bücher ich noch nicht gelesen hatte und haben wollte. Als er mich mit seiner Handykamera durch seine Hausbibliothek führte, musste ich daran denken, wie wir im letzten Herbst den gerade wiedereröffneten Charkiwer Zoo besucht hatten. Nadja hatte drei Eintrittskarten bekommen. Da es unter der Woche war, konnte Lena nicht mit. Leere Käfige. Ab und zu vielleicht mal ein Wolf oder ein paar Vögel. Die Exkursion hieß „Der Pfad des Tigers“. Einen Tiger gab es nicht. Der Zoo hatte aufgemacht, aber die Tiere waren noch nicht angekommen.
Oleh hat mir Das Fest des Ziegenbocks von Vargas Llosa sowie Joseph Conrads Herz der Finsternis mitgebracht. Was aber nichts ändert.

Vika Jelenska: „Zwei Monate vor Ausbruch des Krieges begann ich mir Sorgen zu machen, dass es Krieg geben würde. Die ganze Zeit über verspürte ich das Bedürfnis, einen riesigen Rucksack vollzupacken mit Seilen, Zelten, Äxten, eben all dem, was man (in meiner Vorstellung) in der Postapokalypse zum Überleben im Wald braucht. Mir war klar, dass mein Geld für all das niemals reichen würde, was mir nur noch mehr Angst machte.
Aber dann fragte mich mein Psychotherapeut, ob ich überhaupt weiß, wie man im Wald überlebt, und was mir normalerweise das Überleben sichert. Also packte ich alles wieder aus und nahm nur mein Notebook mit (was ich nicht bereut habe). Manchmal macht das menschliche Gehirn seltsame Sachen.“
Vika hat bei mir ihren Master gemacht. Eine „Klassikerin“. Das Fach „Klassik“ – altgriechische Sprache und Literatur, Latein – gibt es nicht mehr. Der Krieg hat es abgeschafft. Es gibt Kürzungen an der Uni, Fächer werden gestrichen. Auch wir sind bald gestrichen. Man hat uns schon gewarnt: Ab September wird es Kürzungen geben. Kein Altgriechisch mehr, das Oleh unterrichtet. Und meinen Mythos auch nicht mehr. Mythenkritik und Mythenpraxis. Den Namen für dieses Fach hab ich mir selbst ausgedacht.
Der Antrag, den Oleh schreiben wollte, und den wir alle geschrieben haben, war auf unbezahlten Urlaub.

Vika hat ihre Masterarbeit über den Roman Alexis Sorbas geschrieben. Jetzt schreibt sie: „Bei mir zu Hause habe ich Alexis Sorbas auf Griechisch liegen. Hatte vor dem Krieg noch mal darin gelesen. Wirklich schön geschrieben. Beinahe hätte ich es mitgenommen, als Gegenstand des täglichen Bedarfs, aber es passte nicht mehr rein.“ Vika ist jetzt in Kamjanez-Podilskyj. Oleh in Transkarpatien, in der Nähe von Berehowe.

Auf dem Poltawski Schljach, einer der Hauptverkehrsadern in Charkiw, ist eine Wölfin gesehen worden. Ganz ruhig und unbekümmert. Jemand hat ein Video mit Wildschweinen – einer Bache mit Jungtieren – in der Nähe vom Ruhmesdenkmal gepostet. Dann noch mal dieselben, vielleicht auch andere, an einer Tankstelle. Rotwild, wie es über einen Parkplatz läuft. Ganz junge Tiere, sechs Stück. Ein Hase, der auf dem Prospekt herumhopst. Ein melancholischer Habicht auf einem Kinderspielplatz im Plattenbauviertel Nowi Domi.

Oleh ist in Charkiw gewesen, Wintersachen holen. Er sagt: „Eine leere, fremde Stadt.“ In seiner Wohnung, im 11. Stock, gibt es jetzt Mäuse. Sie haben das Katzenfutter angeknabbert.

Übersetzung aus dem Russischen: David Drevs