Armer Yorick, reicher Yorick

ANDREJ KRASNJASCHTSCHICH

Ein bisschen bin ich, wie wir alle, in einer anderen Zeit hängengeblieben, in der man uns schon totgesagt hat: in den Neunzigern. Neunziger so im Sinn von „Spricht was dagegen, damit Geld zu machen?“. Schnell, gutgelaunt, ohne großen Aufwand, neureiche Schnösel eben. Ein Ding drehen, und wenn es klappt noch eines und noch eines, wer würde dazu schon nein sagen.
Die sowjetische Ideologie hatte eigentlich materiellen Verzicht gepredigt, Profitgier war die Sache der Bourgeois. Aber im Fernsehen, im Kino, im Trickfilm hörte man – aus dem Mund von negativen Helden zwar – verführerische Lieder: „Gebt mir zwei Soldi, gebt mir zwei Sous, dann verpfeif ich den Papa und die Mama dazu“, oder etwas wie „Bürger, bring dein Geld nicht auf die Bank! Versteck es nicht im Strumpf und auf dem Schrank! Gib es lieber mir direktemang … “, oder das beliebte „Dollars, Rubel, Franc und Pfund, ohne Geld läuft gar nichts rund“, in dem es später heißt „Dasein oder Nichtsein, das fragt sich der Hamlét, Na, mir kann das egal sein, davon wird der Kohl nicht fett.“ Wir waren, kurz gesagt, gut vorbereitet auf die Neunziger.
Außerdem ist unsere persönliche Biographie davon geprägt, dass Charkow eine Handelsstadt ist, eine Stadt der Krämer. Messen, Märkte, Ankauf-Verkauf. Wie es bei Boris Sluzki heißt: „Ich stamme aus Charkow, vom großen Basar, wo der Spucknapf das einzig Saubere war …“ (Sluzkis Schüler Brodsky konnte das übrigens auswendig, es war sein Lieblingsgedicht). Bei Sluzki geht es um die Zwischenkriegszeit und den Pferdemarkt; ich habe noch den Blagowestschenski-Basar in seiner Blütezeit erlebt, und nach dem Blagowestschenski, in den Neunzigern, kam die Zeit des Barabaschow-Markts.

Im Prinzip hat jede Stadt etwas von einem Basar, aber Charkow nahm sich auch selber im Zeichen des Marktes wahr, es war stolz auf sein Verkaufstalent, warum denn auch nicht? Natürlich, es gab auch andere Seiten: riesige Fabriken, eine Metro – eine der wenigen in der Sowjetunion, so etwas hatten nur eine Handvoll Millionenstädte zu bieten – und zweiundzwanzig Hochschulen zu Sowjetzeiten, wie in Kiew; die älteste Universität und den Titel der „ersten Hauptstadt“ der Sowjetukraine (der entsprechende Dünkel kam erst später auf, in den Neunzigern); die Apokalypse und Postapokalypse des Krieges, der die Stadt weitgehend ausradiert hatte – und trotzdem, Charkow definierte sich nicht dadurch.

Bei Sluzki ist der Markt ein ziemlich abscheuliches Wesen, aber es ist das einzige, was der sowjetischen Epoche widersteht. Oder was heißt widersteht, es lebt einfach nach seinen eigenen Gesetzen, nach Raubtier-, Händler-, Verbrechergesetzen, und das heißt, dass es vollkommen offen und zynisch klaut und bescheißt – und es scheißt auf die Sowjetmacht. Die Wahl zwischen diesen Welten, diesen zwei Monstern, ist zum Kotzen, aber tertium non datur, wie es aussieht, und dabei ist die antisowjetische Seite genauso wie die sowjetische, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Ewig zwischen Skylla und Charybdis, wie Odysseus mit fest geschlossenen Augen an den Mast gefesselt, wer soll das aushalten? Immerhin, manche haben es doch geschafft. Hamlet zum Beispiel?

Der Blagowestschenski – BlagBas genannt – bestach nicht nur mit Ankauf-Verkauf, nicht nur mit Delikatessen und Defizitposten, die in den sowjetischen Läden nicht zu finden waren. Und auch nicht mit seinem sagenhaften sprachlichen Reichtum („Also sprach der Pferdemarkt“, heißt ein Sluzki-Gedicht), obwohl der Mythos, die Seele der Stadt, in vieler Hinsicht genau von dort kommt, aus der Sprache.

In der Nähe des BlagBas gab es zum Beispiel auch das Flüsschen Lopan (darüber reißt so gut wie jeder Besucher der Stadt Witze, aber was soll’s, Charkow hat nun mal keinen richtigen Fluss), und im Lopan gab es nicht etwa Krebse, sondern Blutegel: Es war ein Kinderspiel, davon eine Handvoll zu fangen – die muntersten saugten sich von selber an den Fingern fest – und sie anschließend an eines der Krankenhäuser zu verkaufen. Womit wir wieder beim BlagBas wären.

Natürlich konnte man dort auch einfach so rumlaufen, ohne Geschäfte zu machen, man konnte beim Brunnen herumschlendern oder zwischen den Reihen, oder im überdachten Teil, konnte einen Blick aufs Geflügel werfen, dies und das beschnuppern, geröst ete Sonnenblumenkerne kosten, irgendwas finden, wer weiß. Oder klauen. Na gut, Basar bleibt trotzdem Basar.

Ich habe viele Leute dort kennengelernt, Freundschaften geschlossen. Mit dem Zigeunerjungen Masdon, der „den BlagBas kontrollierte“, in Wirklichkeit aber wohl nur dort herumhing, genau wie ich, während die „Kontrolle“ sein Onkel oder sein Vater hatte. Mit dem alten Naum – seither ist der Name Naum für mich mit Wahnsinn, zitternden Händen und schmuddeligen Kleidern assoziiert. Mit einem Typ namens „Zaunkönig“, der auf einmal weg war, nachdem er gesungen hatte. Mit Walik und seiner Mutter, Tante Tonja, die mit Milchprodukten und in Wirklichkeit weiß der Henker womit handelten. Mit Onkel Mischa, der sowohl reparierte als auch kaputtmachte. Später sollte ich ihrem Blick ausweichen – Waliks Blick, Masdons, sogar dem des alten Naum – so als hätte ich, keine Ahnung, sie verraten oder noch schlimmere Dinge gemacht als sie. Aber vielleicht war das nur mein Problem, und sie stellten gar keine Veränderung an mir fest, nicht so deutlich wie ich selber jedenfalls. Nun ja.
Ich will nicht übertreiben und behaupten, dass der Weg des Charkowers zwangsläufig über Klauen, Bescheißen, Abziehen und Verdreschen führt, dass das eine Etappe ist, die man hinter sich bringen muss, um sich anschließend zu entfalten, dass die eigenständige Zukunft erst mit der Überwindung der Vergangenheit beginnt – das hieße die Sache vereinfachen. Trotzdem ist der Umstand, dass Charkow sich wieder und wieder solche Bürgermeister aussucht, und der andere Umstand, dass es 2014 nicht zu einer „Charkower Volksrepublik“ mutiert ist, obwohl sie „drüben“ gerade auf Charkow besonders gebaut hatten, und schließlich der Umstand, dass das charkowianischste Wort in sämtlichen Sprachen raklo ist, also ungefähr „Kanaille“ – wobei raklo ursprünglich für die Seminaristen stand, die regelmäßig den BlagBas überfielen — alle diese Umstände sind sozusagen Erscheinungen derselben Ordnung, sie bestehen aus demselben Material. Aus dieser speziellen Charkower Mischung formt das Leben dann sowohl Genies als auch Schurken, manchmal in Reinform, meistens aber nicht. Eben davon soll hier die Rede sein.

Die Schauspielerin Ljudmila Gurtschenko, die in der Gegend des Blagbas aufgewachsen ist, schreibt in ihrer Autobiographie Applaus: „Die Jungs kennenzulernen war gefährlich und romantisch zugleich. Ich habe viel von ihnen gelernt, Gutes wie Schlechtes. Ich wusste, dass die Rakly etwas Besseres waren als die Sjawki, das Kroppzeug. Ein Sjawka war ein heruntergekommeer, willenloser Mensch, ein Nichts. Ein Raklo dagegen war ein echter Dieb, einer, der es draufhatte. Ich wurde selber eine Diebin.“ Zu meiner Zeit, in den frühen Achtzigern, hatte Sjawka bereits einen stolzen Klang, das „Kroppzeug“ wurde nicht verachtet, sondern gefürchtet. In den stillen Ecken – im leeren Park, oder hinterm Kino, wo man zum Pissen hinging, oder einfach abends auf der Straße – nahmen die Sjawki solchen wie mir das Geld ab. Sie traten im Rudel auf, mindestens zu dritt oder viert, und niemand kam auf die Idee, sich zu wehren; das Geld, das man aus der Hosentasche genommen und in der Mütze, den Fäustlingen, der Unterhose, den Socken versteckt hatte, wurde sowieso gefunden, und zum Abschluss bekam man eins in die Fresse, damit man sie beim nächsten Mal nicht erst suchen ließ.

Vielleicht erklärt das auch die Sache mit dem BlagBas. Der Basar gab einem den Schutz, den einem sonst niemand gab – weder die Miliz, noch die Schule, noch, haha, die Pionierorganisation. Wer sagte, dass er „Masdon kannte“, oder aber Globus, oder Lenin (nicht den Lenin natürlich) – und sämtliche Begegnungen mit den Sjawki begannen ja mit der Frage „Wen kennst du?“, oder mit der Erwartung, dass man es schon von selber sagen würde, falls man jemanden kannte — stand automatisch unter Schutz (quasi im „Aus“, wie beim Fangenspielen fünf Jahre früher), und dann kam es nur noch darauf an, ob das Stück Welt, in dem man gelandet war, Masdons Jurisdiktion unterlag. Es kam vor, dass der lokale Masdon dem Masdon, den man selber kannte, nicht besonders grün war, aber in Ruhe gelassen wurde man trotzdem, <denn> im Prinzip war Charkow – das Zentrum, aber auch alle umliegenden Viertel, Straßen, Grünanlagen, Höfe, Müllplätze, Baustellen, Firmen, Objekte militärischer Bedeutung (wenn ich mich nicht irre, wurde sogar das Gebietskomitee der KP von irgendwem „kontrolliert“) – fest aufgeteilt, daran rüttelte niemand, und auf einer fremden Baustelle oder einem fremden Müllplatz aufzutauchen war zwar nicht verboten, aber man musste in jedem Fall irgendwen kennen, einen Namen nennen. Nach einer kurzen, skeptischen Musterung ¬– ist der glaubwürdig? merkt euch das Gesicht! – wurde man laufengelassen: Fremde Vasallen gehen uns nichts an.

Trotzdem wäre es irgendwie öde, alles mit banaler Feigheit oder mit Geld zu erklären. Wenden wir uns zur Abwechslung höheren Dingen zu, einverstanden? Nämlich dem Mat, jener sprachlichen Tiefenschicht der Mutterflüche, in der, wenn man Bachtin glaubt, die wahre – also inoffizielle – Kunst entsteht und deren Wurzeln in uralte, magische, archetypische Sphären zurückreichen.

Es gibt einen gebildeten, kultivierten Mat, und es gibt einen kriminellen, bedrohlichen, düsteren, aus der Not geborenen Mat; es gibt einen Arbeitermat und einen Businessmat, ¬es gibt hundert Varianten. Aber der echteste von allen ist der Mat auf dem Basar – dort breitet er frei die Flügel aus und schwebt. Wussten Sie, dass fenja, das russische Wort für Slang, von den ofeni kommt, den Straßenhändlern und Hausierern?

Ich kann es mir nicht verkneifen, ich muss noch einmal Sluzki zitieren – und warum auch nicht, schließlich ist Sluzki nicht nur in Bezug auf Charkow einzigartig; Brodsky sagt, dass er im Alleingang die Nachkriegsdichtung revolutioniert, ihr einen direkten, ehrlichen, umgangssprachlichen Ton gegeben und ihr die Flausen ausgetrieben hat – Sluzki also schreibt über den Basar: „Alles, was man essen, trinken, anziehen konnte, hatte dort einen ukrainischen Namen. Für alles, was mit Kultur oder Wissenschaft zu tun hatte, mit Fisimatenten aller Art, benutzte man russische Bezeichnungen, mit einem behauchten „g“ als Dreingabe. Was so richtig von Herzen kam, wurde mit Jiddisch gewürzt. In die Flüche der Diebe, der Rakly, der Radaubrüder mischte sich plötzlich Zigeunersprache. Und aus derselben Quelle strömte und sprudelte ein im Nu alles übertrumpfender, scheinbar jahrhundertealter Mat, den man hier Materok nannte.“

Der Mat, dieser Mat jedenfalls, war eine neue Welt für mich; verzaubert stand ich da und sah mich um ¬– die Wörter, die Sätze strahlten und glitzerten in allen Bedeutungsfacetten, es war geradezu aufreizend! Die offizielle Sprache war anders – wir exzerpierten ohne viel zu verstehen Lenin, die Statuten und das Programm der KP, die Parteitagsbeschlüsse; immerhin würden wir bald in den Komsomol eintreten, aber so weit kam es dann nicht. In den Zwanziger Jahren, in der Zeit der revolutionären Romantik, hatte das alles vielleicht noch lebendig und vital geklungen – neues Leben, neue Sprache –, aber das war vorbei. Eisen, rostiges Eisen, so fühlte sich das Ganze an, und weil es so grauenhaft langweilig war, hatten wir das Bedürfnis, uns irgendwie selber aufzuheitern und zumindest einmal am Ende jedes Absatzes, nach der „Solidarisierung der Proletarier“ und dem „unaufhaltsamen Wachstum des politischen Bewusstseins der Massen“, das Wort „Arsch“ einzufügen, um dann zu beobachten, wie der Satz sich mit Bedeutung anreicherte, wie er aufblühte und funkelte. Und wir gaben dem Bedürfnis auch nach.

Im Mat entsteht aus gerade einmal fünf, sechs Wurzeln ein ganzes Marvel-Universum, das nach seinen eigenen Regeln lebt und täglich weiter expandiert. Für mich ist das bis heute das größte Geheimnis – wo kommt das alles her, wer steckt dahinter, wer denkt sich ständig all die neuen Wörter aus und wie verbreiten sie sich über die Welt – haben sie Beine?
Auch hier wäre es allzu simpel, zu behaupten, dass der Mat der Grund war, weshalb bei meinem nächsten Besuch im Palast der Pioniere, als ich mich wieder einmal bei irgendeiner Sektion oder Arbeitsgruppe anmelden wollte – davor war ich bereits für Biathlon, Schach, Dame, Modellieren, Fotografie, Tanz und Musik eingeschrieben gewesen; eine Zeit lang hatte ich mich auch als junger Wanderer, junger Zoologe und junger Sonstnochwer betätigt (wobei es nicht etwa so war, dass ich mich nicht gut integriert oder gleich wieder das Interesse verloren hätte, ich hatte nur das Gefühl, dass es irgendwo noch etwas Besseres gab, etwas, das exakt zu mir passte und genauso interessant war wie der Basar) – weshalb meine Wahl beim nächsten Mal also auf die Literatur-AG fiel.

Wissen Sie, was das ist, eine Literatur-AG im Pionierpalast? Wohl kaum. Dass man dort hinging, durfte man nicht nur vor Walik oder Masdon nicht zugeben, man musste es auch vor seinen Mitschülern geheimhalten. AGs wie „Auto und Motor“ waren eines jungen Mannes würdig, oder Boxen, überhaupt Sport jeder Art, sogar ein so seltsamer wie „Feuerwehrsport“, zur Not ging auch noch Schach oder Dame, obwohl das schon an der Grenze war („Wenn Schach ein Sport ist, dann ist Onanie Leichtathletik“), aber eine Literatur-AG … das war jenseits. „Was macht ihr denn da, etwa Bücher lesen?“, wäre die erste Frage gewesen, und von da aus wäre es weitergegangen: „genau, sie lesen um die Wette“, „nein, sie kriegen vorgelesen, und selber sitzen sie bloß da wie behindert und hören zu“, „und heulen Rotz und Wasser“, „genau, und dann singen sie alle zusammen ‚die Katze hat vier Beine, und hinten einen Schwanz …‘“. Wie ich ausgerechnet auf dieses Lied komme? Aus Erfahrung, ich habe mich einmal wirklich verplappert.

Und wie die Literatur-AG selbst musste man auch Alexander Wassiljewitsch geheimhalten — Hamlet.

Nein, äußerlich hatte er keine Ähnlichkeit mit Hamlet (wobei unsere Vorstellung von Hamlet auch falsch ist, in Wirklichkeit ist er fett und kurzatmig, wie die Königin sagt, „he’s fat and short of breath“, und das ändert alles. Außerdem ist er nicht achtzehn, sondern dreißig). Alexander Wassiljewitsch hatte eher Ähnlichkeit mit Alexander Sergejewitsch, also Puschkin: krauses Haar, feuriger Blick, ungestüme Bewegungen, leichter Schritt, ein Herzensbrecher höchstwahrscheinlich – wir sahen ihn oft, wie er mal mit der einen, mal mit der anderen Frau spazierenging, gestikulierend und irgendetwas rezitierend, und die Frauen waren immer ganz Auge und Ohr. „Auf zarten erotischen Beinen kam Puschkin in die große Dichtung“ – und wie Puschkin führte auch Alexander Wassiljewitsch die Dichtung ihrem eigentlichen Zweck zu. Er selber schrieb keine Gedichte. Wozu auch, wenn es schon so viele gute gab.

Und so viele schlechte – die seiner Schüler zum Beispiel. Oh, wie gern ich jetzt meine eigenen Verse zitieren würde, mit welchem sadistischen Vergnügen! Was für ein vernichtendes Coming Out ich mir bescheren würde! Aber ich habe alles weggeworfen, damals schon oder später. Nicht weil Alexander Wassiljewitsch das verlangt hätte – soweit ich mich erinnere, hat er uns überhaupt nicht kritisiert, sondern nur gelobt, wenn etwas gelungen war: „Seht mal, das ist klasse!“ Wenn ich es recht verstehe, war seine eigentliche Aufgabe, uns zu zeigen, was ein gutes Gedicht ist, und fertig— sapienti sat. Wem es nicht sofort sat war, dem würde eben das Leben die Augen öffnen, später.

Ich war nicht der einzige, dem Alexander Wassiljewitsch das Dichten abgewöhnte. In der Literatur-AG des regionalen Pionierpalasts – wo denn auch sonst – kamen die jugendlichen Schreibsüchtigen des gesamten Charkower Gebiets zusammen: Jeder ein Genie, jeder reimte „Herz“ auf „Schmerz“ und presste sich eine irgendwo anders, bei Puschkin oder Tjutschew oder Blok angelesene Leidenschaft ab, presste sich jedenfalls überhaupt irgendetwas ab.

Ich vermute, offiziell war das Ziel der AG ein anderes, in der Broschüre stand das Gegenteil: „der heranwachsenden Generation das Schreiben von Gedichten beibringen“, na gut, vielleicht nicht ganz so direkt, aber irgendwas von wegen „Arbeit an der Sprache“, „Regeln der Prosodie“, „Entwicklung eines künstlerischen Themas entsprechend den Vorgaben“ – der Partei natürlich, wessen sonst. Aber in unserem faulen dänischen Königreich, wo alle verlogen die Hand aufs Herz legten und Liebe zur Partei schwuren und die Partei auch ihrerseits log, sie tue das alles nur für uns, war Hamlet nicht einer, der den Degen zückte und schon lagen acht Tote da (er selbst inklusive), und auch nicht einer, der sich selber leidtat, sondern einer, der vor aller Augen so lebte, als sei die Partei eine unerhebliche Kleinigkeit: Parteien gibt es immer, aber daneben gibt es auch noch etwas Großes, und darin darf man nicht lügen, auf diesem Gebiet fügen Lüge und Stümperei einem viel mehr Schaden zu als in gesellschaftlichen Fragen, die letztlich trivial sind. Man kann das Arbeit am Stil nennen oder am eigenen Ich, an den Fixpunkten, ganz egal. Und es geht dabei nicht nur um Literatur, man kann ehrlich einen Hocker zimmern, ehrlich Fahrrad fahren oder ehrlich einen Ausflug machen, man kann alles ehrlich tun, sogar lügen, solange man weiß, dass das, was man tut, die eigene Persönlichkeit festigt, statt sie in abstoßende, mickrige kleine Teile zu zerpflücken.

Na gut, Yorick, genug gepredigt. Er hat dich auf den Schädel geküsst und auf die Lippen, meinetwegen, jedenfalls hast du hast ihn gefunden, deinen Hamlet, nun erzähl auch von ihm. Na schön. Vorausschicken will ich nur, dass Hamlet für Charkow kein Fremder war. Ganz und gar kein Fremder. Angefangen hat das Ganze mit der Kronebergschen Übersetzung, die hier in Charkow entstand, im Jahr 1844 – oder vielleicht gab es auch früher schon eine Verbindung zwischen Hamlet und Charkow, irgendetwas, was die beiden zusammenbrachte und dazu führte, dass die Stadt sich über dieses Bild begreifen und entfalten konnte, ich weiß es nicht. Kronebergs Übersetzung jedenfalls blieb über lange Zeit die wichtigste und beste Hamlet-Übersetzung ins Russische und ist es vielleicht bis heute; der Übersetzer und Schachspieler Andrej Kroneberg, dessen Vater Rektor der Charkower Universität war, hatte in seine in Fassung besonders viel Präzision gelegt, oder besonders viel Persönliches. Oder viel Charkowianisch-Persönliches. Wer hat später nicht alles über Hamlet und Charkow geschrieben! Nicht zuletzt der uns schon bekannte Sluzki („Nach Charkow kommt Herr Blumental, ein Hamlet-Gastspiel im Gepäck, den Hamlet spielt Herr Blumental, der Rest, meint er, kann weg …“ – der Schauspieler in diesem Gedicht säuft wie ein Loch, beschimpft seine Kollegen und das Publikum, flucht in fünfhebigen Jamben und stirbt am Ende – am Suff – fast wirklich auf der Bühne), oder auch Golemb, ein anderer guter Dichter der Sowjetzeit, bei dem es ebenfalls um Tod und Jamben geht, und am Beginn und Ende des Gedichts heißt es: „Die Shakespeare-Straße ist mein Zuhause, in der Sloboda-Ukraine“. Eine Shakespeare-Straße gibt es, nebenbei bemerkt, weder in Kiew noch in Odessa, Poltawa, Lwiw oder Dnipro, in Charkow dagegen – bittesehr, und auch wenn auf dem Straßenschild neben dem ukrainischen Namen „Shekspira Str.“ steht, können Sie sicher sein, dass der Shakespeare gemeint ist. Oder vielleicht auch nicht der, sondern unser Sloboda-“Shekspir”, von dem Wagritsch Bachtschanjan in seinem bekannten Text Charkow schreibt: „Von oben sieht Charkow aus wie ein Huhn. Von links sieht Charkow aus wie ein Siebeneck. Von rechts sieht Charkow aus wie Shakespeare (Shakespeare stammt auch aus Charkow).“

Aber hier geht es nicht um Shakespeare allgemein, sondern um Hamlet. „Hamlet. Träume“ hieß Andrej Sholdaks bekannteste Inszenierung, und sie hatte in Charkow Premiere; Hamlet nennt sich auch ein Street-Art-Künstler in Charkow (da er seine Bilder signiert, sieht es jetzt aus, als hätte der Hamlet die Wände der Stadt bemalt); Hamlet auf der ganzen Linie. Hamlet und Charkow. Hamlet, Charkow und der Basar.

Das heißt, eigentlich ist Charkow da falsch plaziert: Es steht nicht zwischen Hamlet und dem Basar, weder als Bindeglied noch als trennender Faktor. Und natürlich offenbart es seinen Charakter, sein Wesen, seinen Hochmut auch nicht nur hier. Aber Hamlet wie auch der Basar sind sozusagen verwandte Phänomene (nicht umsonst flucht Hamlet bei Sluzki wie ein Kutscher vom Basar), sie stehen ihm innerhalb des sowjetischen Koordinatensystems sehr nahe – oder um genau zu sein, eigentlich außerhalb des Systems.

Deshalb wäre es falsch, zu sagen, dass Alexander Wassiljewitsch mich aus dem Basar herausgeholt hätte, der Basar war ja nicht weg, ich hatte ihn nun einmal entdeckt, ihn kennen- und spüren gelernt, er hatte mein Interesse geweckt, ich hatte ihn akzepiert – seine Normen, seine Verhaltensweisen, auch seine Art zu denken in gewissem Maß –, aber Alexander Wassiljewitsch gab mir eine andere Richtung.

Und was machten wir Yoricks nun also in der Literatur-AG, außer „Die Katze hat vier Beine“ singen? Das Wichtigste habe ich schon erwähnt: Alexander Wassiljewitsch brachte uns nicht bei, wie man Gedichte schreibt, sondern wie man sie nicht schreibt, wir analysierten Gedichte von anderen – Sluzki (der mir hier zum ersten Mal begegnete, in der Schule kam er natürlich nicht vor), Winokurow, Lewitanski, Dawid Samojlow (auch sie wurden in der Schule nicht gelesen; wer dort überhaupt gelesen wurde, habe ich vergessen, ganz ehrlich). Wie ist das gemacht, woraus besteht es? Wie hält es zusammen? Wovon spricht es, ganz leise für sich? Und es sprach von völlig anderen Dingen als die Gedichte in der Schule – nein, es widerlegte nichts, aber es überschnitt sich auch mit nichts: es sprach von Hamlet-Themen, von „sein oder nicht sein“. („Der Natur den Spiegel vorhalten“, „seit kurzem alle meine Munterkeit eingebüßt“, „die Erde, dieser treffliche Bau, nur ein kahles Vorgebirge“, „Welch ein Meisterwerk ist der Mensch … Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube?“, usw.) Auch mit Hamlet selbst stand es in der Schule übrigens nicht zum Besten; wir lasen Molière, Shakespeare aber war laut Beschluss von oben für Kinder ungeeignet, und wir streiften ihn nur am Rande. Den Hamlet analysierten wir in der Literatur-AG. Und das war nicht der einzige Unterschied zwischen AG und Schule, zumindest für mich. In der Schule war ich ganz offiziell ein Dichter, ich schrieb für die Wandzeitung – Verse über die „Junggardisten“, Verse zum Tag des Jungen Pioniers, zum 1. Mai, zum 8. März, oder zum Lenin-Subbotnik zum Beispiel ein Gedicht „An die Alteisensammler“ –, und von dieser Verpflichtung hatte mich niemand befreit. Ich konnte versuchen, möglichst schlecht zu schreiben, auf dass mir mein Amt entzogen wurde, aber zum damaligen Zeitpunkt war mir schon klar, dass meine Gedichte ohnehin grottenschlecht waren und von rein gar nichts handelten. Und etwas Antisowjetisches, Subversives schreiben, die Konfrontation suchen – dazu war ich mir selber nicht Feind genug. Also spielte ich den Dichter wie Hamlet den Narren spielt. Das heißt, ich war wirklich einer.
In der Literatur-AG dagegen, wohin ich meine Gedichte aus der Schule natürlich nicht mitbrachte, wechselte ich zur Prosa – die auch mies war, aber doch nicht ganz so mies und nicht ganz so inhaltslos. Falls Sie nun allerdings glauben, der Dichter und der Prosaiker hätten in mir und um mich gekämpft und mich schier in Stücke gerissen, dann täuschen Sie sich. Hamlet leidet nicht unter einer gespaltenen Persönlichkeit, er kann einfach umschalten und sich selbst von außen betrachten – habe ich gut gespielt? war ich überzeugend? Und doch würde ihn keiner einen Heuchler nennen, stimmt‘s?

Für mich war die Literatur-AG ein Zufluchtsort, eine Alternative zur Schule, Alexander Wassiljewitsch dagegen schien die Schule gar nicht zu bemerken, er ignorierte sie einfach. Die Hydra, gegen die er kämpfte, war der Schriftstellerverband, der – auf der Suche nach jungen Talenten – zu einer jährlichen Leistungsschau einlud. Anschließend wurden die Nachwuchsautoren auf verschiedene Klassen verteilt – die Lyriker in die eine, die Prosaiker in eine andere, die Dramatiker und die Kritiker wieder in andere –, wo man ihnen beibrachte, wie man richtig und ordentlich schreibt, und so die nächste Generation heranzog. Was diese Veranstaltungen anging, war Alexander Wassiljewitsch kategorisch wie sonst nie: Auf gar keinen Fall durften wir daran teilnehmen. Der „Schrifti“ allerdings fischte uns Yoricks direkt aus den Schulen. Uns flößte die Hydra keine Furcht ein, aber das sollte sie auch nicht, wir waren ja nicht im griechischen Mythos, sie hatte andere Ziele, sie wollte uns verschlingen und verdauen – so eine Hydra besteht im Grunde nur aus einem großen Mund und einem Magen, sie ist ein deep throat. Im Schriftstellerverband lachten sie über Alexander Wassiljewitsch, man sprach von Eifersucht, von Neid, der aufgeblasene Verband sah auf die Literatur-AG herab, für ihn war das Laientheater – die echte Lizenz zum Schreiben bekam man erst mit einem Mitgliedsausweis. Wirklich erklärt hat Alexander Wassiljewitsch uns sein Verbot (das wir gelegentlich übertraten, aber danach kehrten wir zur AG zurück) nie, ich weiß nur noch, dass er sagte, dort würde man uns „verderben“.

Zu den Orten, an die er uns brachte und wohin wir ohne ihn niemals gekommen wären, gehörten das Blindenheim und die Kurjasher Jugendstrafkolonie. Diese beiden sind mir in Erinnerung geblieben, aber wahrscheinlich gab es noch andere ähnliche, wo wir vor Leuten wie wir, die nur aus verschiedenen Gründen in Sachen Literatur etwas eingeschränkt waren, unsere Gedichte und Erzählungen vortrugen, und die Leute hörten zu und klatschten Beifall und stellten anschließend Fragen. Heute frage ich mich, ob wir Angst hatten vor ihnen und vor diesen Orten – aber nein, wir hatten keine Angst. Es fühlte sich nicht so an, als müsste man vor irgendwas oder irgendwem Angst haben, im Gegenteil, für uns waren das die ersten literarischen Auftritte, das erste Publikum, man hörte uns zu, und wir fuhren froh und mit neuem Schwung wieder nach Hause. Und gingen auch ein zweites Mal gern wieder hin, wir Yoricks. (Der literarischen Dichte und Spannung halber sollte ich vielleicht noch hinzufügen , dass mir eines doch Angst machte: Ich fürchtete, in Kurjash dem Blick von Masdon oder jemand anderem aus der alten Clique zu begegnen, aber als das einmal wirklich passierte, begriff ich, dass ich entweder nicht erkannt oder nicht für einen Verräter gehalten wurde.)
Ich schreibe „wir“, ohne zwischen mir und den anderen Yoricks zu unterscheiden, die nicht vom Basar in die Literatur-AG geraten waren, die nicht auf der Flucht waren vor der Schule, aber auch doch auch auf der Flucht vor irgendetwas, und die hier (zu welchem „hier“ sowohl Kurjash als auch das Blindenheim gehörte) im Grunde sich selbst gefunden hatten, so banal das auch klingt. Shakespeare, bei all seiner Liebe zum Paradoxen, scheute auch das Banale nicht, wenn es wahr war. Die Wahrheit ist, dass längst nicht alle aus der AG später Schriftsteller geworden sind, oder sagen wir: gute Schriftsteller. Manche stümpern vor sich hin, manche sind in die Unterhaltung abgewandert, viele haben gar nichts mit Literatur zu tun, und wozu auch, sie sind mit ihren Kindern beschäftigt, mit der Schule, sie engagieren sich ehrenamtlich, kämpfen für dies oder das, und manche bringen ihre Kinder zu Alexander Wassiljewitsch – nicht in die Literatur-AG, die gibt es nicht mehr, sondern zu ihm nach Hause in die Shakespeare-Straße. Und damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende.

Ihr Anfang aber hat trotz allem mit Charkow zu tun, mit dem seltsamen, niemals geradlinigen Verhalten dieser Stadt, das sich zum Teil mit der Sloboda-Swoboda-Freiheit und der Mentalität des Basars erklären lässt, aber eben nur zum Teil. Ich schreibe das nicht, um es spannend zu machen, und es ist auch leicht zu erraten, dass man das, was ich Hamlet genannt habe, ebensogut irgendwie anders nennen könnte, man könnte einen anderen Vergleich finden – oder glauben Sie vielleicht, Alexander Wassiljewitsch hätte sich selber als „Hamlet“ bezeichnet? Apropos, als was hat er sich eigentlich bezeichnet? In meiner Erinnerung nur als „Philologe und Pädagoge“, mehr nicht.

Die Wahrheit ist, dass ein Yorick eigentlich ein Schädel ist, und falls Bedarf an einer realisierten Metapher besteht: Jeder von uns hatte tatsächlich seinen eigenen Schädel, wir untersuchten ihn und sahen durch die Augenhöhlen, dass es drinnen leer war – damals hatten sie gerade den Johannes-Enthauptungs-Friedhof aufgelöst (passt wie die Faust aufs Auge, der Name, stimmt’s?), den ältesten Friedhof von Charkow, um an seiner Stelle den Park der Jugend zu errichten (noch ein Symbol, das praktisch auf der Straße liegt): Ein Schädel also mit Gedanken, angedeuteten Weltbildern und, wenn man Jung glaubt, auch einem kollektiven Unbewussten – und der Geist von Charkow hat darin schon seinen festen Platz. Stellen Sie sich vor, Hamlet nimmt so einen kleinen Schädel in die Hand und – nein, er haucht ihm kein Leben ein, das ist gar nicht nötig, er schüttelt ihn nur leicht und schaut durch die Augenhöhlen zu, wie alles an seinen Platz rutscht, und wenn es nötig ist, schüttelt er ihn noch einmal. Ich jedenfalls habe dieses Schütteln gespürt, das weiß ich bombensicher, oder wie man bei uns auf dem Basar zu sagen pflegte: darauf verwette ich meinen Arsch.

Übersetzung: Olga Radetzkaja 

So wurde aus Yorick kein Bürger, sondern ein Hamlet, ein Narr.
Günter Grass, Die Blechtrommel

Grüßet Philologus (…)
Römerbrief 16, 15