ARS POETICA

Julia Stachiwska

ARS POETICA

Von den ersten ungelenken Buchstaben
und eilig zusammengeschusterten Kinderbüchern
(mit bedeutungsschwangeren Titeln wie: Buch. Band 1.)
bis zu emsigen Aufzeichnungen im Schulheft.
Fast jeder hat sowas durch.
Darf ich das Gedicht aufsagen, ohne aufs Stühlchen zu steigen?
Guck mal, so geht es auch.
Rennt der schwarze Hase übers weiße Feld der Seite in den Wald,
wo ein Tannenbäumchen wächst, hat keine Angst, sich zu verirren.
Oder schaukeln die Wellen der Buchstaben.
Lange saßen wir schon nicht mehr im Tintenboot.
Oder tappt sanft mit grauen Tatzen der Bleistift.
Aber Worte haben oft Klauen, sie packen.
Oder bringen die stummen Tasten tausend Stimmen zum Klingen.
Manche meinen, goldbraune Brötchengedichte backen zu können.
Mag sein, keine Ahnung, ist bei mir nie rausgekommen.
Manche schlagen blutige Kerben in ihren Körper –
Wie die Zeiten, sagen sie, so auch die Schrift.
Manche glauben hingegen an Wegerichdichtung.
Mag sein, tragen wir dieses Haarbüschel zu den Webern,
sollen sie einen großen Text daraus knüpfen, vielleicht sogar einen Roman?
Mir gefällt es, ihren Teppich voller Details zu studieren.
Im Schatten der Eiche wächst eine Primel, dann eine weitere.
Silberner Klang ihres Erstaunens.
Darf ich euch an den Fingern ihren Blütenstaub überbringen?
Am Ufer des Flusses spinnt jemand ein Lied wie ein Fischgarn der Zukunft,
wie die Umrisse der Welt, ich kriege das so nicht hin, aber hör es mir an.

2023



DAS BESTE GEDICHT

Mein bestes Gedicht schrieb ich auf einer einmonatigen Schreibresidenz.
Da schlug ich morgens um sieben die Augen auf zum fröhlichen Satz meiner Tochter:
Mama, steh auf, schon hell und die Leute laufen draußen herum!
Sie wurde angezogen, dann ich, dann die Frühstückskür
und der obligatorische Ausgang: dringend mussten
wir dieses eine Spielzeug mit dem Einhorn haben.
Oder Einkaufen im Supermarkt, oder die Enten füttern.
Oder Verstecken spielen im Hof mit der Platane,
die gleich einem Atlanten auf den mächtigen Schultern den Poesiehimmel hält.
Kaum Zeit für Gedanken an Plath, war schon Mittag voller Löffel des Flehens.
In der Gemeinschaftsküche fragt die Lyrikerin von nebenan eifrig nach meinem Projekt.
Ich lächle geheimnisvoll und rühr in der Suppe. Ich suche eine Metapher, antworte ich,
und suche unter den Gläschen das richtige Gewürz. Stillsprache.
Es folgt ein Arbeitsversuch, aber: das Audiobuch passt nicht, der Puppe ist ein Bein ab,
und überhaupt ist mir langweilig, Mama, spielen wir lieber. Spielsprache.
Und da ist schon Abend, erhellt von langen Laternenlichtzeilen.
Ein paar Telefongespräche beim Malen. Abendbrot.
Mama, hol mich aus der Wanne, ich bin ein platschnasser Wasserwal!
Lesen im Bett, kuscheln, Angst im Dunkeln, unermüdliche Müdigkeit, ein Hamster im Rad.
Nachts setzt der Mond ein so schönes Komma in dieses Gedicht, dass sogar das Atmen nicht.

2023


MALE IHR FALTEN

Der Fluss hat sein Bett gewechselt.
Und jetzt sieht man auf ihrem Grund alle Stiche
der Stickarbeit auf dem Wasser.
Das Gedächtnis hat die Zeit gewechselt.
Mit einem Feldspat nähere ich mich
den Fotoalben:
1945. Hier ist Uropa irgendwo in Österreich.
Hier in Transkarpatien.
Bum! Die scharfe Mine ist explodiert –
aus dem Foto entgegengeschleudert
wie mit einem Löffel schwarz-weiße Erde.
Ist das Oma? Unmöglich! Sie war nicht klein!
Male ihr Falten auf das Porzellangesicht.
Und das bin ich. Wie es aussieht, dieselbe. Immer dieselbe.
Mit einer Schere. Um sich in die Zukunft hineinzukleben.

2016


GLASPERLEN

Schon durchnagelt der Himmel, und im tiefen Sessel des Abends
freier Blick in die uralten Augen des Feuers – da sind Kerzen und Wein,
in den Gläsern ein Abglanz und oben der Fischgrätenmond.

Du sagst, deine Welt zerfällt? Ich weiß nicht, so war es seit jeher,
Und dennoch – nachts ist jeder Laut stärker und jedes Zeichen. Da flechtet
sich der Apfelbaum ein Gewand, pastellfarben, asymmetrisch, mit offener Schulter.
Du sagst, vom Leben, wie von hier ist der Ausblick ein guter. Mag sein.

Hier schlägt der Luftozean gegen das Ufer der Stadt und wir –
in der kleinen Kutte unseres Balkons, im Schaum der Gärten,
gucken wie der Frühling seine Perlen wirft.
Und legen uns schlafen – ein wenig Menschen.

2018


LANDMESSER

Sonst alles wie immer: Durchs Öhr der Straße fädelt der Faden der Landschaft,
und der auernmantel des Waldes, gepudert mit Schnee,
und der Apfel ist tiefer zugeknöpft in den roten Gehrock.
Und es gehen vor die Hunde alle Zungen, alle Sprachen, wir sind wieder verstummt
in unserem Trockengewächs, und hörig klammern wir uns an die Glyphen der Erde,
und keiner zuckt mit der Wimper – der Landmesser setzt Pflöcke und Grenzen.
An der Decke, überm Blau, sind weiße Sterne erblüht, an den Nussschatullen
verkrustete Schlösser, wie Blut auf der Lippe, von Schmerzen gequälte.
Tiefer tritt in die Landschaft der Faden aus Kälte.
Jener Mann aus den Tagebüchern, er geht,
zieht der Tintenstimme ein Beet,
in jeder Zeile sinke ich hinter ihm ein.
Und du sagst: vergangen, vergiss es, vergeht nicht.
Da ist sein Zirkel, und ein Kreis ist gezogen,
und der Himmel sternübersät, und das Feld ist bestellt,
Das Jahrhundert – die beste Innschrift, die Erde – eine klamme Novelle.

2019


LITHOLOGIE

Sommerregen: Grün wird zu Silber. Umschlag.
Da ist das ellenlange Zitat des Blitzes, ohne akademische Quelle,
ohne Verweis auf Tesla,
ein leuchtendes Gefäß vom Himmel zur Erde,
darunter der Kommentar der Eiche.
Hier und im Folgenden eine Wiesenbibliographie:
Schafgarbe, Spierstrauch, Thymian. Seltene Ausgaben von Labkräutern.
Diese Wasserrosen auf der Flusstrecke von Entengrütze verklebt – das einzige schöne Bild.
Aus irgendeinem moralisierenden Gedicht der Sechziger.
Irgendwer jagt auf dem Fahrrad dem Wind hinterher. Romantische Sommerfrische.
Daneben erinnern Kiefern mit ihren Rückgraten an Gotik,
und der Holunder an ukrainisches Barock,
das Schwarz der Fensterscharten, das Grün des Dachs.
Hier und im Folgenden Architektonik: Feld, Anhöhe, Wald.
Zäunende Ausrufezeichen. Unregelmäßige Syntax. Hagel. Punkte.
Kurze Zusammenfassung des Wuchernden. Und kein einziger Gedanke.

2019


GÖTTIN

Leinenmokassins, Badminton, Limo.
Der Federball ist so leicht, so federnd.
Hastig gezähmte erste Tiere:
Hofkatzen und Hunde.
Druckspuren von Socken, blaue Flecken vom Spielen,
Fingernägel aus Blüten, Wahrsagerei mit Flieder,
verbuddelte Glasscherben.
Irgendwann da sah ich zum ersten Mal
zwei dunkle Ikonen: Jesus und Maria,
in einem vergoldeten Rahmen
(wie Schokolade in Folie).
Das ist Gott, sagte Opa.
Und das die Göttin? Fragte ich.
Nein.
Und wieso nicht?
Bis heute liegt diese Frage dort, im Garten,
unter einem Stein, wo es wimmelt vor Molchen.

2017


MEIN KLEINER GLASBLÄSER

Alles war so einfach: Sonnensträhnen an der Wand und hohe Töne.
Bullauge des Spiegels im braunen Rahmen: das Zimmermeer schwappt umher,
Staub schäumt, lichtgeflutetes Brausen.
Es ist Morgen. Bestimmt. Noch ist die Frische des Wassers nicht vergangen.
Noch ist alles möglich, sogar du. Noch kann mir alles passieren.
Denn die Rollen wurden noch nicht verteilt und die Protagonisten schlafen.
Aber ich spüre, am spannendsten ist nicht das hier, diese Bilder vom Frühstück im Gras.
Es schwimmt und schillert nur einen Augenblick lang. Dann erstarrt es und schweigt.
Das ist nur eine Erinnerung, mein kleiner Glasbläser.
Blick dich um, durchs Guckloch blickt jemand.
Da! Wieder! Nur seine Schulter vorbeigezogen und der Kreis der Leerstelle.
Und die Radiowanze brummt von fünf Verletzten und zwei Toten.

2018


KYJIW

Wie ich diesen gedehnten ersten Akkord des zaghaften Schnees mag.
Inkrustation des Mondes hoch oben.
Und sein Licht fließt über den dunklen byzantinischen Handteller Alt-Kyjiws.
Der Innenhof ihres Hauses steht als Brosche mit kaputtem Verschluss,
aber ihre Schuhabdrücke sind noch da.
Und ich trete ein, wie daheim, als wären keine hundert Jahre dazwischen vergangen.
Genau die richtige Zeit, diesem Mädchen mit Buch im Schoß,
das Kerzen klaut in der Kirche und daraus Grashüpfer knetet, zu verraten, wie es weitergeht.
Aber ich sage lieber nichts – der Himmel ist strahlend blau, das Licht ganz hoch oben,
und der Mond ist jetzt weniger geheimnisumwoben – gefleckt wie ein Wachtelei.
So wird irgendwann jemand anderes in eine andere Kiste reingucken – und dort dich entdecken.

2019


OLIVEN

In diesem luziden Märzdunkeln, in diesem luftigen Präludium zum April,
wenn jeder erblüht, wie er kann, im braunen Kasten des Zugwagons,
genauso glatt wie eine Knospenschuppe, jaja, kleines Mädchen
malte im Buch Oliven der Welt,
denn irgendwer hat einmal gesagt, nach dem Unglück würde eine Taube
einen Olivenzweig bringen, aber ich denke, Mama, dass sie lieber
ein ganzes Glas Oliven hätte bringen sollen, für Salat. Jaja.

Wie in uralten Mythen tauchten unsere rauen verlassenen Dörfer des Nordens auf,
mit buschigen Brauen aus Totholz zogen die Felder vorüber. Noch weit bis zum Süden. Jaja.
Zum Süden hin formten nur Vögel frei ihre Schwärme. Siegreich stand Frühling in der Luft.
Unserer. Heimischer. In einer sagenhaft grünen historischen Handschrift auf den schwarzen
Seiten der Feuersbrunst. Die Taube kreiste umher, ohne die wilde Olive zu finden, und trug
stattdessen in deinen Traum eine silbrige Murmel. Jaja.


FLIMMERN

Mir scheint, so könnte die Hölle aussehen –
ein glänzender Bau aus Glas und Metall: ein paar Ebenen hoch, mehrere Ringe hinab.
Alle beeilen und langweilen sich in angespannter Erwartung.
Eurydikes Zug ist eingetroffen, Persephone fährt die Rolltreppe hoch,
Charon im Neoprenanzug wendet sein Ruder.
Aber vor allem – sie sind zu viele – ist Vollmond, Überfluss, Lärm.
Manöver auf den Flügeln des Feuervogels. Die Flamme taut auf der Zunge.
Ich entfliehe diesem Gewirbel, renne in die Kühle der Nacht, zum See,
küsse die Wand des Hauses über ihm.
Wer hat gesagt, das Echte muss immer knallen? Das Gewitter?
Langsam gehe ich den Kanal der Straße entlang.
Der Himmel ist heute voller Sterne!
An der Westfront geben sie
das spektakulärste Schauspiel.
Irgendwo im Norden röchelt ein grauer Kynokephale in seinen eingestaubten Korridoren.
Da weist ihm ein Stern den Weg in die Tartarei.
Langsam, langsam sticht das Schiffchen des Mondes in See,
um ihn zu bringen nach – aber nein, daraus wird auch nichts –
Durchlöchert, getroffen vom Splitter meines Landes.
Das moralische Gesetz in uns flimmert.

2023

Aus dem Ukrainischen von Irina Bondas