Bodenlos oder
Ein gelbes Mädchen läuft rückwärts

Thomas Lang

«Stell dir einfach vor, dass der Boden von Millionen Raketen nach oben angetrieben wird, während alles, was fällt, in Ruhe ist.»
Jan ging etwas schneller. Er spürte den körnigen, von der Sonne aufgeheizten Belag unter seinen Füßen. Der Weg nach vorn war eine Straße ins Nichts, an deren Ende die Barriere fehlte. Es fehlten auch Leute, die in dieselbe Richtung gingen wie die beiden Freunde. Torstens Bemerkung besänftigte Jan nicht. Bis zum Fünfer hatte er die Sache leichtgenommen, von da war er schon mal gesprungen, ohne dass es ihn Überwindung gekostet hätte. Noch mal fünf Meter machten allerdings einen riesigen Unterschied. Jans Unruhe wuchs mit jedem Schritt, als er die letzten Stufen hinaufstieg und steigerte sich, oben angekommen, noch einmal. Fallen ist was anderes als sich vorstellen zu fallen, dachte Jan.
Torsten ging lässig an ihm vorbei. Vorn lehnte er sich gegen das Geländer, die Arme vor der Brust verschränkt, allem Anschein nach im Wind leicht fröstelnd. Ein Streifen Haare lag platt auf seinem Schädel. Torsten hatte sie zwar mit den Händen nach hinten gestreift, so dass sie immer noch nach Iro aussahen, trotzdem wirkte es komisch, viel weniger stolz als sonst, fand Jan. Torsten lächelte über die Angst seines Freundes. Er sprang ja oft, er hatte es Jan vorgemacht. Jan war froh, dass ihm nicht schwindlig wurde, als er nach unten sah.
«Was ist? Kommst du nach vorn oder bist nur wegen der Aussicht hier raufgeklettert?»
Das widersprüchliche Gemisch aus wärmender Sonne und kühl streichelnder Luft ließ auch Jan frösteln. Der Freibadlärm war weit weggerückt und seine Verursacher wirkten aus zehn Metern Höhe schon unwirklich klein. Bedeutungslos wie ein Haufen Insekten, zwischen die man fährt, und es macht keinen Unterschied, ob man fünfzig oder hundert von ihnen erwischt. Wäre die Erde ein dicker Haufen Kot und wir würden zusammen mit einem riesigen Schwarm Mücken darauf sitzen, so wären diese Mücken uns nicht egal, genau genommen wären wir die Mücken, überlegte Jan. Ein kleiner Himmelskörper, eisig und porös, mit einem Schwarm blau schimmernder Insekten auf der Oberfläche, die sich für die Mitte ihrer Welt hielten – unter anderen Umständen hätte Jan diese Vorstellung belustigt. So jedoch verknüpfte sie sich mit dem mulmigen Gefühl in seinem Bauch. Auch Fliegen konnten Schmerz empfinden.
Jan atmete tief. Bevor er nach vorn ging, ließ er den Blick schweifen. Tatsächlich konnte er von hier aus die Wohnung seiner Schwester sehen. Er zählte die Etagen und nahm eine Zeitlang ihren Balkon ins Visier, als könnte er sie dazu bringen herauszutreten. Die eternitverschalten Wohnwürfel oben am Stadtrand, am Städtchenrand, leuchteten weiß in der Sonne. Dunkel dagegen und fast am anderen Ende Füchtens lag das grüne Viertel, in dem er selbst bei seinen Eltern lebte. Alles schien so nah, fast glaubte er, die Hunde bellen zu hören. Das Elternhaus verbarg sich zwischen den vielen exotischen Ziersträuchern und Nadelbäumen des Wohngebiets. Umso besser. Warum dachte er: umso besser? Weil er das Haus nicht sehen wollte, weil er nicht wollte, dass es existierte, weil er darauf wartete, endlich für sich leben zu können, in einem WG-Zimmer oder einem kleinen Apartment wie An. Jan spürte, dass es noch einen weiteren Grund gab. Es war ihm wichtig, dass ihn von hier aus niemand sah. Weder durchs Fenster in seinem Zimmer noch auf der Terrasse noch im Garten. Er wollte nicht, dass irgendjemand ihn beobachten konnte. Die momentane Sichtbarkeit, so machte er sich vor, war auch der Grund für seine Unruhe. Es lag gar nicht an der Höhe, da hätte ihm ja schwindlig werden müssen, es lag daran, dass im Geheimen jeder im Freibad nach oben schielte, sobald sich einer auf den Zehn-Meter-Turm wagte. Jan duckte sich zusammen. Schnell weg hier.
Während er möglichst unbeeindruckt von heimlichen Zuschauern langsam, aber nicht zu langsam zur Kante vor ging, überlegte Jan, dass sein Freund recht haben musste. Im Sprung fand man Ruhe, die Anspannung wich im Moment des Fallens ganz anderen Gefühlen, einer Lust, einem Anflug von Rausch. Das war bei seinem Sprung vom Fünfer so gewesen, das würde auch jetzt so sein. Anders als beim Ein-Meter-Brett oder beim Dreier war der Steg hier aus Beton und federte kein bisschen. Seine Schritte blieben lächerlich wirkungslos. Der Wind schien zugenommen zu haben; die Härchen an seinen Armen stellten sich auf und er spürte Gänsehaut. Noch einmal wandte er den Blick und sah in die Wipfel von zwei Fichten am Zaun, die einzigen Bäume in der Umgebung, die über den Sprungturm hinausgewachsen waren. Die Schattierung des Grüns, die Stellung der Nadeln, die Nähe der frisch grünen Zapfen erschienen ihm falsch. Torsten stand schon an der Kante, er hatte die Zehen um den Beton gekrallt. Ohne sich umzudrehen, forderte er Jan auf, endlich nach vorn zu kommen.
«Stell dir einfach vor, es ist kein Wasser drin», rief er und eierte plötzlich rum, als hätte er das Gleichgewicht verloren. Er fing sich im letzten Moment, sprang nun doch gestreckt, die Füße voran, die Arme fest am Körper. Jan sah ihn fliegen, eine scheinbar lange Zeit, und tief eintauchen, unter Wasser seitlich wegschwimmen. Ein paar Idioten aus der Mittelstufe klatschten ironisch Beifall. Nun stand Jan vorn, auch er krallte die Zehen um die Kante. Er zauderte. Für einen Augenblick schien es ihm unmöglich zu springen. Er schloss die Augen, atmete kurz und heftig aus, tief ein, und machte einen Schritt nach vorn.
In der Tiefe spürte er ungeheuren Druck auf den Ohren, sein Kehlkopf schmerzte. Jans Füße berührten den Boden, er stieß sich ab, ließ Luft raussprudeln, kam nach oben, atmete, ließ sich erneut absinken und begann sich zu überschlagen. Dreimal drehte sein Körper sich unter Wasser um die eigene Mitte. Zur milden Euphorie des Falls kam jetzt der Schwindel; er wusste nicht mehr, in welcher Richtung es zurück an die Oberfläche ging, er rollte weiter, bis ihm die Luft ausging, er panisch die Augen öffnete, den blauen Himmel nicht mehr vom blauen Grund des Beckens unterscheiden konnte und mit letzter Kraft tauchte, wütend mit den Armen schlagend, bis er auf eine Wand traf, an ihr weitertauchte und endlich mit dem Kopf aus dem Wasser stieß, japsend Luft holte und wieder absank, diesmal nicht tief, bevor er sich endgültig nach oben treiben ließ und aus dem Sprungbecken stieg. Heftig atmend ging Jan zu den Waschbetonpodesten, niemand kümmerte sich um ihn. Torsten lag auf seinem Handtuch und hatte schon eine Kippe gedreht. Er sagte nichts, als der Freund sich neben ihn legte. Jan schloss die Augen. Jemand regelte die Lautstärke des Freibads hoch. Es füllte sich schnell, das Schuljahr war vorbei. Jan fühlte sich ruhig. Klein. Gut. Geborgen in einem Tropfen mit unzerreißbar wirkender Haut.