Dagegen die Elefanten!“

Dagmar Leupold

Die zweite Hälfte des ersten Ferientags gehört der Stadtbücherei. Angenehm kühl ist der Leseraum und halbleer. Herr Harald blättert durch Magazine, kein Wissensdurst, sondern urlaubsgemäße Trödelei. Sogar eine Autozeitschrift ist darunter, Herr Harald liest von kompromissloser Fahrdynamik und bestaunt den darauf folgenden kritischen Satz eines Autoexperten: Nicht nur Großgewachsene haben im Fond Dauerkontakt mit dem Dachhimmel. Dachhimmel! Wer sich da zu sehr streckt, duckt sich bald. Herr Harald spürt mit Freude – und sogar im Sitzen – die Tüchtigkeit seiner Beinmuskulatur, trägt und befördert sie ihn doch mit einiger Zuverlässigkeit von hier nach dort. Er braucht keinen Dachhimmel. Die chromglänzenden Cockpits der gezeigten Fahrzeugmodelle sehen gefährlich aus, so, als setzten die Schaltknüppel, einmal bewegt, Explosives in Gang.

Auf dem Heimweg, die Sonne noch gebieterisch hoch am Himmel, kauft Herr Harald zur Feier des ersten Ferientags Röhrlinge und Champignons für ein Pilzragout.  Die Pilze erinnern an Handgranaten, das liegt sicherlich auch an den Zeitungsseiten, in die sie eingeschlagen sind, mit Bildern von Krieg, von Bombenruinen, demolierten und ausgebrannten Autos. Die Pilze: kompakt und gedrungen, wurfbereit. Herr Harald legt sie einzeln in ein Sieb, federleicht, beinahe gewichtlos sind sie, selbst wenn sie Sprengkörper wären, würde er sie nicht mehr fürchten, so schmiegsam wie sie ihm in der Hand liegen. Er deckt den Tisch, ein guter Teller, eine Stoffserviette und daneben die Post des heutigen Tages, zwei Wurfsendungen: ein Fitnessstudio namens Clever fit und ein Drogeriemarkt. Zum Trinken, wie immer am ersten Ferientag: Coca Cola. Die schöne Flasche, der schwungvolle Schriftzug, ohne Verstolperung – ein Buchstabe folgt auf den anderen in unbeanstandeter Richtigkeit. So möchte man leben. Der erste Schluck: Kommunion. Hier, in seiner Küche, darf er das.

Herr Harald serviert sich Reis und Ragout, schön dampft es über dem Teller und duftet maßvoll nach Pilzragout – nach nichts sonst. Er weiß von einem Fall, da hat sich eine ganze Familie in die Notaufnahme gegessen, der Selbstüberschätzung der Pilzsammlerin, Mutter und Ehefrau, wegen. Diese Sorge muss ihn nicht quälen, seine Pilze haben noch nie einen Wald gesehen, und keine Frau an seiner Seite vergiftet ihn. Er schlägt den Prospekt des Fitnessstudios auf und liest: Die Auswahl der Trainingsgeräte reicht von den klassischen Krafttrainingsmaschinen, über Gravitygeräte und Schlingen-Trainingsgeräte, wie RedCord und TRX … Was mag das alles sein, TRX und Schlingen-Trainingsgerät? Gravity? Herr Harald studiert die Abbildungen, keine Erhellung. Die Männer und Frauen auf den Fotos sind braungebrannt und muskulös, geradezu kantig, wie geschnitzt. Dass man dort schwitzt, das steht nirgends im Prospekt. Schlimm schwitzt und stöhnt. Durch die Küche dagegen weht ein kleiner Luftzug, und der zweite Schluck Coca Cola ist ebenso köstlich. Geld ausgeben, um sich beim Schwitzen zusehen zu lassen! Niemals. Er spürt seine unerheblichen Ersparnisse durch diese klare Ablehnung solider werden, gar wachsen.

Auf dem Umschlag des Drogeriemarkts steht Dialogpost. Die Broschüre darin fordert zum Punktesammeln auf und meldet Preissenkungen für Shampoos und Duschgels. Herr Harald schneidet die Produktbeschreibungen aus und schiebt sie unter den Magnet am Kühlschrank. Ein lustiger Magnet, Breschnew und Ulbricht beim Bruderkuss, Herr Harald weiß nicht mehr, wie er zu ihm kam. Möglicherweise hat er ihn selbst gekauft, bei einer sehr lang zurückliegenden Busreise. Fest steht, dass er mit dem Magnet seit Menschengedenken fällige Rechnungen oder künftig zu Besorgendes auf Augenhöhe anheftet. Ein gutes System: Bevor das Aktuelle unter Breschnew-Ulbricht geklemmt wird, muss das Vorherige erledigt sein. So bleibt man schuldenfrei. Die Formulierung seit Menschengedenken nimmt er zurück, als er sich für den Verdauungsspaziergang die Schuhe zuschnürt. Das ist übertrieben, es müsste heißen: von jeher.

Er schlägt den Weg zum Canaletto ein, bei noch blassem Licht. Voller Magen, leicht übersäuert, zu viel Zucker. Und zu viel Luft, bauchwärts. Er schreitet rasch aus, das wird helfen. Zu seiner Linken parkt ein Kleinwagen mit Unfallspuren, ein Aufkleber auf der Rückscheibe verkündet: I ♥ Robben. Eine Robbe ist zur Veranschaulichung daneben gezeichnet, ihre langen Schnurrhaare hängen betreten herab. Heißt es Schnurrhaare? Herr Harald ist unsicher. Der Autobesitzer ist aber gewiss eine Frau, eine Frau, die sich für die Lebensräume der Robben hoch im Norden einsetzt und dabei Unfälle wegen ihrer fehlenden Aufmerksamkeit für den Verkehr in Kauf nimmt. Der Einsatz kostet sie viel Geld, das sie dann nicht für Reparaturen oder für Kleidung und Friseurbesuche ausgeben kann. Deshalb sieht sie unauffällig aus, früh ergraut und ein wenig missvergnügt um den Mund herum – zu wenige unterstützen ihr Eintreten  für die Rechte der Robben. Wenn sie ihm nun entgegenkäme, im knöchellangen Rock, würde er sie behutsam anlächeln, womöglich. Er macht sich bereit, zieht, zum Vorschuss, die Lippen ein wenig in die Breite, da kommt sie. Langer Wickelrock, eine große Umhängetasche, kurzes Haar. Viele Armreifen, die leise klimpern. „Sie lieben Robben!“ sagt er und hört selbst das Feierliche in seinem Ausruf. „Hä, was?“ Die Frau misst ihn mit einem schneidenden Blick und zischt: „Robben? Spinner!“ Rempelt ihn beinah im Vorübergehen.

Herr Harald muss sich leicht krümmen, wohl der Magen. Die Pilze? Sucht Bäume, Gebüsch, Sichtschutz. Schlägt eine Abkürzung zum Canaletto ein, ein schmaler Pfad, uns ist noch immer nicht fähig, sich ganz aufzurichten. Er hätte seine Eindrücke als Verschlusssache behandeln sollen. Er humpelt zur nächsten Bank und setzt sich darauf, obwohl sie vom Lindenblütensaft völlig verklebt ist. Zählt bis über siebzig, bevor er die Augen öffnet. Und sieht eine Ente. Keinen Mensch, gottlob! Die Ente kramt mit dem Schnabel im dürren Gras der kleinen Böschung herum, eifrig. Bräunliches Gefieder, schmucklos wie der Kittel einer Haushaltshilfe, die unter keinen Umständen die Herrin des Hauses ausstechen will. Hallo, denkt Herr Harald, hallo. Hallo Mutti.

Er sitzt so lange, bis die Dunkelheit sich herabsenkt, im Magen anhaltender Aufruhr. Mutti. Das Wort des Monats, aber so einfach geht das nicht - so ungefragt aufkreuzen. Er wird es nicht notieren, sondern sich bewähren lassen. Auf Beständigkeit prüfen, indem er es gelegentlich aufruft. Keine Überrumpelung, der Bestimmer ist und bleibt er. Der Monat ist jung, außerdem.

Angenehm schwer lastet die Müdigkeit, die den letzten Lichtrest ablöst und auf die Lider drückt. Einfach sitzenbleiben, in die Nacht eingeschlagen wie in eine leichte Decke. Am Saum des Schlafs driftet Herr Harald ab, weich gestimmt, lässt alles Knausern und Hadern sein. So viel erlebt am ersten Ferientag, so wenig erledigt, egal. Noch einen Augenblick der Muße, Urlaubssondergenehmigung. Gute Ruh‘, wünscht er der Ente, die nur mehr zu ahnen, nicht zu sehen ist, als er schließlich aufbricht, gute Ruh‘. So möchte er auch einmal schlafen können, mit dem Kopf im Gefieder, von der eigenen Haut gewärmt.