Das Wunder von Mukatschewo
(nach Anatolij Kralický)

Oleksandr Hawrosch

An jedem Bahnhof stiegen massenhaft Juden aus den Waggons und begannen sich einander vorzustellen.
 
„Ich heiße Majer von Levelek“, sagte einer.
„Und ich Mawrykij von Rakocz.“
 
Dann meldeten sich ein dritter und vierter zu Wort. Und alle waren sie ehrwürdige Herrn, Adelige mit einem „von“ im Namen, jedoch in die dunklen, langen Mäntel der Juden gekleidet.
 
Endlich erschien auch unser Held, Schmuel Salzberg, der sich als Samuel von Munkatsch (von Mukatschewo) vorstellte.
 
Das Geheimnis war leicht zu lüften. Alle diese adeligen „Vons“ waren Ersatz für ein Pfand gewesen, das die ungarischen Grundherren den jüdischen Geldverleihern nicht hatten zurückzahlen können. Einer hatte den väterlichen Besitz beim Kartenspielen verpfändet oder im Suff und Müßiggang verprasst. Ein anderer hatte Geld für den Erwerb eines Deputatenmandats in der ungarischen Sejm gebraucht. Das Ergebnis war immer dasselbe: In ihren einstigen Schlössern und Landgütern residierten nun verschiedene Mojsches, Israels und Abrahams mit in ganz Ungarn bekannten Nachnamen - Rákóczi, Széchenyi oder Bercsényi. Um 50 Kronen für die Stempelmarke, die man auf den Antrag zur Namensänderung klebte, wurden neue Adelige geboren.
 
Mukatschewo war bekannt dafür, dass hier, wie auch im zaristischen Berdytschiw, ein reges jüdisches Leben herrschte, das fast täglich durch neue Umsiedlungen aus dem benachbarten Galizien, besonders aus Stryj, bereichert wurde.
 
Samuel von Munkatsch war in den 1850er Jahren Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Mukatschewo. Er lebte seit einem halben Jahrhundert in glücklicher Ehe mit seiner Sura. Jahwe, der Gott der Juden, hatte das Ehepaar mit sechs Söhnen und fünf Töchtern gesegnet. Am Vortag des Jubiläums seines „Rabbis“ rief der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Mukatschewo, der bekannte Weinhändler Nathan Rosenberg, seine Glaubensbrüder zu einer Besprechung zusammen, um mit ihnen über eine würdige Ehrung des weisen Rabbis zu sprechen.
 
„Meine Brüder“, begann er und strich dabei über seinen langen Bart. „Lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir diesen festlichen Tag begehen können. Wie werden wir unseren ehrwürdigsten Rabbi und seine ehrwürdige Frau Sura, geborene Rosenfeld, würdigen? Der allmächtige Gott der Israeliten verlieh ihnen große Gnade, und segnete ihren Bund mit Fruchtbarkeit. Brauchen Sie noch mehr des Glücks?“
 
Zustimmendes Nicken bestätigte seine Worte, sechs Söhne und fünf Töchter seien völlig ausreichend.
 
Der Lärm verebbte und Nathan fuhr fort:
 
„Brüder im Glauben! Doch ist es dem menschlichen Herz zu eigen, dass es sich niemals zufrieden gibt, so glücklich der Mensch auch sein mag. Deshalb ist es ganz natürlich, dass unser Rabbiner von Munkatsch und seine bessere Hälfte, Sura, sich noch mehr des Glücks wünschen.“
 
Der Sprecher verstummte für einen Moment und durch die Menge ging ein Raunen.
 
„Was kann sich der Rabbi noch wünschen?“, ertönte es verwundert von allen Seiten. „Der gelehrte Rabbi und seine Frau sind schon so alt, dass sie nicht mehr mit weiteren Kindern rechnen können. Womit aber könnte man ihnen sonst Freude bereiten?“
 
Nathan brachte diese Diskussion nicht aus dem Konzept und er fuhr ruhig fort:
 
„Freunde! Wie können wir diesen Tag zu einem besonders feierlichen machen? Ich verrate es euch! König David besingt in seinen Psalmen, dass Wein des Menschen Herz erfreut. Nun frage ich euch: Hat er damit recht? Und ihr werdet mir alle zustimmen! Deshalb schenken wir unserem Rabbiner Samuel und seiner geschätzten Ehefrau Sura ein Fass alten, teuren Weins aus Mukatschewo. Sollen sie auf unsere Gesundheit trinken! Was sagt ihr, Brüder? Wenn ihr einverstanden seid, stelle ich meinen Wein zu einem moderaten Preis zur Verfügung. Ich habe gute, alte Weine, die unserem Rabbi würdig sind, und ich nehme dafür nicht mehr, als sie mich selbst gekostet haben.“
 
Unter den Juden breitete sich argwöhnisches Flüstern aus. Ein Lächeln erschien auf ihren mit langen Schläfenlocken umrahmten Gesichtern, und einer wagte es sogar zu widersprechen:
 
„Ach, so ist es, Nathan. Du hast uns hierher gerufen, um ein gutes Geschäft zu machen! Aber so leicht lassen wir uns nicht täuschen! Wir wollen nicht, dass du aus dieser Sache Profit schlägst. Wir sind keine dummen Gojim!“
 
Die Juden brummten zuerst leise und dann immer lauter. Verschiedene Vorschläge fielen. Arpad Majer, auch ein Weinhändler, schlug vor, über das beste Fass Wein abzustimmen. Schließlich erhob sich Solomon Stern, der Stoffhändler, der kein Interesse am Weinverkauf hatte:
 
„Brüder! Natürlich schenken wir unserem verehrten Rabbi und seiner wunderschönen Frau Wein, jedoch ohne daraus einen persönlichen Vorteil zu ziehen. Wir werden ihm das Geschenk gemeinsam überbringen! Jeder von uns wird eine Flasche guten Weins zur Verfügung stellen, was – gerechnet an der Anzahl von Männern in unserer Kehillah - 200 Flaschen macht. Wir leeren den Wein aus allen Flaschen in ein Fass, verschließen es vor den Augen einer Kommission und überreichen es dem Rabbiner am Tag seines Jubiläums. Wer eine bessere Idee hat, möge sprechen!“
 
Die Juden murmelten zustimmend. Nathan ärgerte sich vergeblich, dass sein profitbringender Plan nicht aufgegangen war. Sofort wurde eine Kommission gewählt. Die Kommission kaufte ein leeres Fass und stelle es im Narthex der Synagoge auf. Am frühen Abend des besagten Tages fanden sich dort die Mitglieder der Kehillah ein, jeder mit einer Flasche unter dem Aufschlag seines Kaftans, verkorkt und versiegelt, mit einer Aufschrift wie „Ausgezeichneter Wein“, „Exzellenter Wein“, „50 Jahre gereift“. Einer nach dem anderen leerten sie ihre Flasche in das Fass und kehrten mit dem Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, nach Hause zurück. Endlich war das Fass voll. Die Kommission verschloss und versiegelte es, versperrte die Tür der Synagoge und ging schlafen.
 
Am nächsten Tag schmückten sie das Fass mit Kränzen und brachten es zum Haus des Rabbiners. Der feierliche Zug wurde von Mädchen in weißen Röcken angeführt, hinter ihnen gingen die Frauen, und ganz hinten die Männer in Schabbatmänteln und Marderpelzmützen.
 
Solomon Stern würdigte die Jubilare mit einer feierlichen Rede und wünschte ihnen, dass das Geschenk der jüdischen Gemeinde ihre Herzen erfreuen möge.
 
Der Rabbiner und seine Frau waren zutiefst berührt von dieser Aufmerksamkeit und dankten der Gemeinde zuerst für den Wein und dann erst für die Glückwünsche.
 
Die Feierlichkeiten waren vorbei. Die Gäste verabschiedeten sich. Als sie zu zweit zurückgeblieben waren, sprach der Rabbiner mit vor freudiger Erregung zitternder Stimme zu Sura:
„Kosten wir das Geschenk und trinken wir auf die Gesundheit meiner dankbaren Gemeinde!“
 
Nachdem der Rabbiner das Fass eigenhändig entkort hatte, füllte er einen silbernen Becher bis zum Rand und reichte ihn seiner Frau. Sura führte ihn an die Lippen und nahm genüsslich einen Schluck. Im nächsten Moment hielt sie verdutzt inne und blickte ihren Mann fragend an.
 
„Bei Jahwe! Was ist das?“
„Der beste Wein in Mukatschewo! Mundet er dir nicht?“, antwortete von Munkatsch. Er nahm Sura, die vor Erstauen erstarrt war, den Becher aus der Hand und setzte zum Trinken an. Doch nach dem ersten Schluck, blickte auch er seine Ehefrau fragend an.
„Das ist ja Wasser“, rief er bekümmert aus, nachdem er an dem Becher gerochen hatte.
„Eben, Wasser! Gewöhnliches Brunnenwasser!“, stimmte Sura zu.
„Auweh, da haben uns unsere Glaubensbrüder einen Streich gespielt!“ – der Rabbiner schüttelte traurig den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass sie es wagen würden, uns einen so bösen Streich zu spielen“, widersprach Sura. „Es kann sich nur um ein Missverständnis handeln, vielleicht haben sie das Fass vertauscht.“
 
Aber der weise Rabbiner kannte seine Herde gut. Den Finger an die Nase gelegt dachte er nach. Dann streichelte er seinen langen Bart und sprach mit einem Lächeln:
 
„Nein, Sura, das Fass wurde nicht vertauscht. Aber wenn man Wasser einfüllt, kann auch kein Wein herauskommen!“
Sura zuckte zusammen, als sie diese Dreistigkeit vernahm.
„Bei Jahwe! Was sagst du da, Samuel? In das Fass wurde doch Wein gefüllt und nicht Wasser!“
„Nein, Wasser“, nickte der Mann. „Ach, Sura, Sura! Siehst du nicht weiter, als deine Nasenspitze reicht? Kennst du denn unsere Leute nicht?“
„Wie soll ich sie nicht kennen?“
„Wenn du sie kennst“, lachte der Rabbiner, „dann sag mir: Wenn zweihundert Männer je eine Flasche Wein bringen sollen, um sie in ein gemeinsames Fass zu leeren, was werden sie dann bringen?“
„Was schon? Wein natürlich!“
„Nein, Sura, sie werden Wasser bringen, weil sich jeder von ihnen denken wird: Wenn man in ein Fass voll Wein eine Flasche Wasser füllt, wird niemand den Unterschied bemerken. Aber wenn das alle machen, was wird dann im Fass sein?“
„Wasser!“
„Siehst du, wie weise du bist! Deshalb haben wir also anstelle guten koscheren Weins ein Fass mit Wasser.“
„Guter Gott, was wirst du jetzt tun?“
„Was ich tun werde? Ich werde das Wasser in herrlichen Wein verwandeln.“
„Aber wie?“
„Hm“, lächelte Samuel. „Lass das meine Sorge sein! Aber erzähl niemandem von dem Wasser. Der Rabbi von Mukatschewo weiß, was zu tun ist.“
 
Sura beruhigte sich, denn sie wusste um die Weisheit ihres Mannes Bescheid.
 
Der Schabbat, den die gesamte jüdische Gemeinde, ungeduldig erwartet hatte, nahte. An jenem Tag sollte sich der Rabbiner in der Synagoge öffentlich für das Geschenk bedanken. Alle eilten zum Bethaus, auch die neugierige Sura.
 
Der Gottesdienst begann. Der Rabbiner betrat die Bima, ließ seinen Blick aufmerksam über die versammelte Menge gleiten und fing an, über die Gnade Gottes zu predigen, die es ihm gewährt hatte, gesund und gesegnet mit reichlicher Nachkommenschaft, ein stattliches Alter zu erreichen. Schließlich ging er zur Dankbarkeit gegenüber seiner Herde über, die ihren Respekt für ihn in Form eines wunderbaren Geschenks bewiesen habe.
 
„Natürlich habt ihr mir eine große Freude bereitet“, wandte sich der Rabbi an die erwartungsvollen Zuhörer. „Aber trotzdem hat sich ein Tropfen Schwermut in den Kelch meines Glücks gemischt. Inmitten so vieler guter Menschen hat sich ein Lump gefunden, der Kummer in mein Herz gegossen hat. Ja, Brüder! Mit trauriger Seele muss ich euch mitteilen, dass sich unter euch ein Mensch befindet, der antelle von Wein eine Flasche Wasser in das Fass geleert hat. (In der Synagoge erhob sich empörtes Raunen.) Aber Jahwe, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, hat mir im Traum Folgendes mitgeteilt: ‚Mein Sohn, einer aus deiner Herde hat vor mir und vor dir gesündigt. Aber ich werde ihn bestrafen: Er wird in drei Tagen sterben, wenn er statt der Flasche Wasser nicht zwei Flaschen des besten koscheren Weins in dein Haus bringt.‘
Das hat mir Jahwe im Traum kundgetan, und deshalb leidet mein Herz, denn es will niemandes Tod. Ich habe Angst, dass alles ans Licht kommt, wenn der Schurke stirbt, und dass der Zorn der Gemeinde dann auch seine Familie trifft. Da ich den Frieden in unserer Gemeinde erhalten möchte, wird die Tür meines Hauses heute Abend offen stehen, damit der Sünder seine Tat wiedergutmachen kann. Punkt Mitternacht werde ich meine Tür verschließen, aber Jahwes rächende Hand wird nicht eher ruhen, als das göttliche Gericht entschieden hat.“
 
Als der Rabbiner geendet hatte, machte sich unter den Juden Grabesstille breit, und kurz darauf verließen sie einer nach dem anderen mit hängendem Kopf die Synagoge. Als letzte ging Sura hinaus und dachte darüber nach, ob ihr Mann die Wahrheit gesagt oder sich das alles nur ausgedacht hatte.
 
Kaum war die Nacht hereingebrochen, schlichen einsame, schwarze Gestalten hinter den Häusern, die neben dem des Rabbiners von Mukatschewo standen, hervor, eilten in den Vorraum des Rabbi-Hauses und wieder hinaus.
 
„Sura, siehst du, ich habe mein Wort gehalten: Das Wasser hat sich in Wein verwandelt“, rief Samuel von Munkatsch um Mitternacht aus, der Anblick hunderter glänzender Flaschen mit herrlichem, koscherem Wein ließ sein Gesicht erstrahlen. „Gelobt sei Jahwe und gelobt seien wir, sein erwähltes Volk!“

Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck