Zu Beginn möchte ich etwas zum Namen der Region sagen, denn es ist bezeich-nend, dass dieser Landstrich viele Namen hat. Manche sind poetisch wie „Silberland“ oder „Land ohne Namen“ (země beze jména), und auch im Hinblick auf die einheimi-sche slavische Bevölkerung gibt es solche eher metaphorischen Bezeichnungen: „Volk aus dem Nirgendwo“ wie Paul Robert Magocsi seine in populärwissenschaftlichem Stil verfasste Geschichte der Rusinen betitelte - in Anlehnung an Andy Warhols Antwort auf die Frage „Woher er stamme?“ (Aus dem Nichts).
Der tschechoslowakische Autor Ivan Olbracht setzte sich literarisch und essayistisch am intensivsten mit der Region und den Menschen auseinander, und bereits 1919 thematisierte er in einer satirischen Erzählung Von der Liebe zur Monarchie (O lásce k vlasti) die imperiale Außenperspektive auf die Region, die im österreich-ungarischen Reich wurzelt:
Ein k.u.k. Leutnant tschechischer Herkunft, soll seine in Böhmen stationierten Infante-risten ideologisch belehren: „»Na, Chomjak, ich habe es euch doch in der letzten Stun-de erklärt. Na, also: das Vaterland! Na, was ist das also - das Vaterland?« meinte er sanft.
»Die Tschechen«, platzt Chomjak heraus.
Der Herr Leutnant blieb eine Weile unbeweglich stehen. Dann schüttelte er hoff-nungslos das Haupt.
» Trottel, blöder!« machte er sich Luft. »Na, Chomjak ... Ich werde dir jetzt zeigen, was für einen Unsinn du geredet hast ... Na! ... Was bist du?« Chomjak schweigt.
» Du ... du weißt, du sollst sagen, was du bist?« Der Herr Leutnant zeigt mit dem Fin-ger auf ihn. Der Junge hat endlich begriffen, was man von ihm will.
»Infanterist Vasil Chomjak!«
»Na, Gott sei Dank! Er weiß wenigstens, wie er heißt ... Aber das meine ich nicht. Bist du ein Italiener?«
Chomjak schaut sich ängstlich nach den Kameraden um. Hinten blinzelt ihm einer zu und schüttelt den Kopf.
»Nein«, sagt er schließlich unentschlossen, weiß aber nicht, ob er nicht hätte was anderes sagen sollen. Aber es war gut so.
»Na, siehst du. Und was bist du? Ein Deutscher?«
»Nein.«
» Was bist du also? Ein Tscheche?«
»Nein«, antwortete Chomjak nach einer Weile unsicher.
»Na, siehst du. Und was bist du? Ein Ruthene?«
»Nein.« Das klang bereits etwas sicherer.“
Der Leutnant traktiert den rusinischen Infanteristen weiter mit Benennungen, die auf Konzepten von Nation und Staatsangehörigkeit fußen, was letztlich alles nicht fruchtet. Der tschechische k.u.k. Leutnant schließt mit der Überlegung zu den Rusinen:
„Eigentlich ein bedauernswertes Volk. Es hat keine Offiziere, hat keine Priester, hat keine Intelligenzler, hat nicht einmal Schulen. Es lebt dort im Osten der Monarchie in Wäldern, Felsenhöhlen und Strohhütten, isst Mais und trinkt schlechten Schnaps. Im Sommer hütet man Schweine, und im Winter jagt man Wölfe. Welch Glück für so einen Hirten, wenn er zum Militär kommt! Hier macht man wenigstens ein Stückchen Mensch aus ihm.“
Die Benennungen von Transkarpatien drücken oft eine Außenperspektive aus: in der Zwischenkriegszeit war die geläufigste und offizielle Bezeichnung in der Tschechoslo-wakei Podkarpatská Rus resp. Podkarpatsko, außerdem Karpatská Rus, Země podkar-patská, aber auch Rusinsko (nach der slavischen Bevölkerung), im Ukrainischen gab es Entsprechungen wie Pidkarpatska Rus und später Karpatska Ukrajina, im Deut-schen wurde die Region Karpato-Russland/ Karpato-Ukraine/ genannt, gegenwärtig in Anlehnung an die Ukrainische Bezeichnung Zakarpattja - Transkarpatien. Diese Be-zeichnung stellt v.a. eine geographische Zuschreibung dar, ähnlich der tschechischen Bezeichnung Podkarpatská Rus, oder des englischen Subcarpathia. Sie hat den Vor-teil, dass sie eine verengende und problematische ethnische oder historische Zu-schreibung vermeidet.
Transkarpatien ist traditionell ein geographischer, politischer und sozialer Kreu-zungspunkt von Ost-West und Nord-Süd Verbindungen mit seinen Bergen, Flüssen, Reise- und Handelsrouten sowie verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die Region gehörte vor 1918 lange zum ungarischen Königreich resp. zum ungarischen Herr-schaftsbereich im Habsburger Imperium. Nach dem ersten Weltkrieg war die Region Teil der kurzlebigen sog. Westukrainischen Republik sowie der Huzulischen Räterepu-lik (literarisch in den Romanen Horalská republika. Román z Podkarpatské Rusi von Zdenek Matěj Kuděj 1932 und im Roman Hory hovorjat‘ 1934 von Ulas Samčuk gestal-tet, und auch in den Memoiren von Vasyl Grendža-Donskyj findet sich ein umfangrei-ches Kapitel dazu. 1920 wurde die Region als autonomes Gebiet in die Tschechoslo-wakei integriert. Die Verwirklichung einer umfassenden Autonomie ließ aber bis 1938 auf sich warten. Bis dahin wurde das Gebiet im Wesentlichen direkt von Prag mit einem Gouverneur regiert. Die Tschechoslowakei investierte aus der Perspektive eines mo-dernen Nationalstaats besonders in Infrastruktur, Wirtschaft und die Homogenisierung des Bildungssektors und Verwaltungswesens der Region, was einen positiven Einfluss auf das öffentliche Leben hatte und zum beschleunigten Wandel sozialer Strukturen der Bevölkerungsgruppen (v.a. der Rusinen, Ungarn, Juden) der Region beitrug und u.a. den politischen und kulturellen Einfluss Ungarns resp. des ungarischen Bevölke-rungsteils einschränkte. Andererseits widersprach eine Reihe von Maßnahmen der Prager Regierung der zugesagten Autonomie v.a. in der politischen und wirtschaftli-chen Selbstverwaltung.
Insgesamt war die Region den allermeisten „Tschechoslowaken“ ein unbekanntes Gebiet, terra incognita in vielerlei Hinsicht. Das zeigt sich deutlich in journalistischen Texten zu Land und Leuten, Geschichte, Sprache, Kultur und politischen sowie wirt-schaftlichen Maßnahmen, die in den ersten Jahren der Tschechoslowakei entstanden. So bemerkte Edvard Beneš, der zusammen mit Tomáš G. Masaryk maßgeblich die Ge-schicke der Tschechoslowakei lenkte, nach seiner Rückkehr aus Transkarpatien am 3. Januar 1922: „Die Geschichte von Transkarpatien ist immer noch nicht bearbeitet und wir wissen viel zu wenig. Deshalb basiert die öffentliche Meinung über Transkarpatien im Wesentlichen auf Unkenntnis, und das nicht nur in Kreisen der Wissenschaft und Politik, sondern insbesondere unter den Journalisten und in der Verwaltung.“
Damit wir nicht ganz in Unkenntnis bleiben Film 7min -12min ???
Etwas verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass die tschechoslowakischen Mo-dernisierungsmaßnahmen von Transkarpatien eine hierarchische Struktur aufweisen wie in andern polyethnischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg (z.B. in Polen, Rumä-nien). Eine Struktur, für die ein ausgeprägtes Zentrum-Peripherie-Gefälle typisch ist, das einerseits das seit der Antike mit Tacitus Schrift Germania bekannte West-Ost-Gefälle reproduziert, und andererseits und damit einhergehend eine Exotik und Orien-talisierung des Raums generiert. Dieses Gefälle schlägt sich auch nieder in der diskur-siven Aneignung des Raums mit dem Blick vom Zentrum. Es gibt jedoch eine Ein-schränkung: Im Gegensatz zu zahlreichen journalistischen Texten brachten Literatur und andere Medien der Kunst eine spürbare Selbstreflexion dieses Aneignungspro-zesses mit. Damit ergibt sich für uns folgende Frage:
Wie gestaltet sich 1.) der Prozess der Aneignung Transkarpatiens in der tschechi-schen Literatur in der Zwischenkriegszeit? Und 2.) mit welchen Modellen der Literatur resp. der Literaturwissenschaft kann man diesen Prozess beschreiben? Wie sieht der tschechische literarische Karpaten-Text aus, der Wissen und Vorstellungen über Transkarpatien in der Zwischenkriegszeit wesentlich gestaltete. Ich werde das im Fol-genden anhand einiger markanter Texte beschreiben.
Da es in der Ersten ČS-Republik nur wenige Übersetzungen rusinischer Literatur ins Tschechische oder Slowakische (und andere Sprachen) gab, kann ein wenig zuge-spitzt gesagt werden, dass Transkarpatien als eine gewisse Art von „Orient“ im tsche-choslowakischen literarischen Kontext „nicht selbst spricht“ - denken Sie an die obige Textstelle - so wie es die postkoloniale Literaturtheorie, v.a. Gayatri Chakravorty Spivak (Can the Subaltern Speak, 1988) formuliert. Ich erwähne Spivak keinesfalls als name dropping, sondern ich möchte auf ihre Überlegung zum literarischen Übersetzen aus-drücklich hinweisen. Sie sind für Schriftsteller und Übersetzer inspirierend, da Spivaks eigene Erfahrung als Übersetzerin literarischer und essayistischer Texte in ihre wissen-schaftlichen Überlegungen zur postkolonialen Literatur einfließen. Der Versuch, den „Anderen“ zu verstehen, wird laut ihr immer defizitär und zugleich rätselhaft bleiben müssen, mit Geheimnissen, die nicht artikuliert werden können. Sie formuliert daraus eine grundlegend anthropologische Schwierigkeit des Übersetzens: zwischen zwei Sprachen, zwischen Menschen oder Kulturen, aber auch zwischen Gedanken und Sprache. Aus ihrer Beobachtung heraus, dass jede Form der kulturellen Äußerung eine Subjektposition und damit auch ein Objekt konstituiert, leitet sie ab, dass dadurch auch ein Machtgefälle/ hier ein West-Ost-Gefälle / festgeschrieben wird. Texte und andere Medien in postkolonialen Zusammenhängen lassen die Entstehung einer moderne Me-taerzählung, eines 'master narrative' nachvollziehen, in der sowohl ein Subjekt des Wissens begründet, ja, geradezu erschaffen wird und damit auch eine scheinbar ganz natürliche Differenz zwischen 'master' und 'native', also dem „Eigenen“ und dem „An-dern“, der Zivilisation und der Wildnis, der Kultur und der Natur etc. Moderne Metaer-zählungen literarischer Texte lehnen „das Andere“ nicht automatisch ab, sondern - und auch das ist seit Tacitus Schrift Germania keine neue Erkenntnis, - das Andere dient als Reflexionsfläche des Eigenen; wie das konkret aussieht, dazu später mehr.
Viele tschechische Schriftsteller „sprechen“ über Transkarpatien, über Land und Leu-te, sie konstituieren eine attraktive, als wild und exotisch wahrgenommene Landschaft, die so ganz anders scheint als die mitteleuropäischen, kultivierten Landschaften Böh-mens und Mährens. Laut Ivan Olbracht, der bedeutendsten tschechischen Stimme von Transkarpatien ist diese Region für die Tschechen ein fernes exotisches Land mit Lo-ckungen und Gefahren. Für die Tschechen sei es wie ein Zeitreise, wenn sie nach Transkarpatien fahren, allein die Entfernung - von Prag nach Mukačevo ist man über 24 Stunden mit der Eisenbahn unterwegs - ist für Böhmen ungewohnt, die Region scheint „ein Reservoir des tiefsten Mittelalters zu sein, in dem sich das Leben noch mit dem My-thos verbindet“ (I. Olbracht), also im besten Sinn vormodern, vorwissenschaftlich.
In diesem Sinne wird Transkarpatien auch zu einer Kontaktzone für die zivilisierten modernen Tschechoslowaken, die mit einer vormodernen einheimischen (unzivilisier-ten, barbarischen) Bevölkerung, v.a. Rusinen und Juden, in Kontakt treten. Eine solche Kontaktzone präsentieren die meisten Texte und Filme des Karpatendiskurses.
Wenn Sie nochmal an die Filmeinspielung von vorher denken, wird deutlich, dass es sich bei dieser Kontaktzone um einen Raum handelt, in dem die lokale Kultur als etwas be-fremdliches vermittelt wird. Der Austausch mit dieser anderen Kultur, der Kulturkon-takt findet über Hierarchien hinweg statt, was Reibungspunkte ergibt, die – für die Lite-ratur ein Glücksfall ! - Geschichten produzieren.
Damit komme ich zu konkreten literarischen und essayistischen Texten. Die meisten tschechischen Autoren besuchten Transkarpatien erst in den späten 1920er Jahren quasi als Touristen, mit der Absicht eine Reportage oder einen Essay zu schreiben oder ihre Eindrücke literarisch zu verarbeiten. Ausnahmen bilden zwei Autoren, die in Staatsdiensten hierher reisten, Jaroslav Durych, der in den 1920er Jahren als Militär-arzt in der Region tätig war und Jan Vrba als Förster, daneben als Reisende aus Inte-resse die Autoren, Journalisten und Filmemacher Vladislav Vančura und Karel Čapek. Diese vier Autoren, die zur ersten Reihe der tschechischen Literatur im 20. Jahrhundert gehören, reflektierten literarisch anspruchsvoll ihre Erfahrungen noch den 1920ern Jahren. Durych u.a. in der Prosa Eine Nacht im Mai (Majova noc), die in Uzhorod spielt, mit folgender Impression:
„Staub, erstickender Staub, voller Hitze, die zwischen zwischen Pflastersteinen und dem Himmel vibrieren, voller Dampf und Lärm, verhüllte sich das Universum von Užhorod wie dem lockenden Glanz von dünner Gaze auf Mädchenschultern. Das Him-melsrot strahlt in dieser Gegend eine viel höhere thermische und optische Energie aus als bei uns, und die Farben des Abends sind sehr italienisch“.
Hier wird der Ton, Farbton und die ganze Stimmungstonlage gesetzt, so wie es sich in den „Verfremdungen“ der Karpaten späterer Texte auch finden wird. Es spielt auch eine mystische Vorstellung über den Osten herein, dass man im Osten näher am Him-mel und am Sonnenaufgang sei und deshalb irgendwie „reiner“ wäre, wie Vladislav Vančura in seinem Essay Západ a východ (Westen und Osten, 1921) ausführte. Ganz deutlich wird solch mystisch gesättigte Stimmung in Karel Čapeks Ballade von Juraj Čup (Balada o Juraji Čupovi, 1929). Die Geschichte erscheint wie ein Wunder: Jurajs qualvoller dreißig Kilometer langer Weg bei klirrender Kälte und im Schneesturm, sein sechsstündiges Warten vor dem Gasthaus bis ihn der Gendarmerie-Hauptmann endlich anhört, Jurajs Geständnis, seine Schwester Maryna ermordet zu haben, und die selt-sam saubere Wunde, die für Maryna tödlich war, das Geständnis und die ergebene An-nahme der Strafe, die Schicksalsergebenheit. Wäre die Geschichte in Böhmen ange-siedelt, wäre sie völlig unglaubwürdig und unmöglich. Aber in den wilden Karpaten er-scheint sie plausibel, denn dort gab es noch Aberglauben und Wunder, Magie, Hexen etc. Zum Mordmotiv heißt es denn auch: „‘Gott befahl‘, sagte Juraj, als ob das selbstver-ständlich wäre: ‚Töte Maryna Matej, deine Schwester, die von einem bösen Geist be-sessen ist.‘“
Karel Čapek veröffentlichte 1933 den Roman Hordubal. Der aus Nordamerika zu-rückgekehrte Rusine Hordubal wird von seiner Frau, die ihn nicht mehr erwartet hatte, und deren ungarischen Geliebten ermordet. Der Roman basiert auf einem tatsächli-chen Mordfall von 1932 im Dorf Bardova bei Mukačevo, der Čapek als Ausgangspunkt für seine philosophischen und kulturpsychologischen Erwägungen dient. Der Roman ist erzählerisch sehr komplex und umkreist den Fall Hordubal aus verschiedenen Blickwinkeln (von Hordubal, seiner Frau Polaňa und dem Ermittler), wobei die Frage nach der Wahrheit des Erzählten und wer im Recht ist, gestellt wird, Čapek bemerkte dazu: „In Hordubal unternahm ich den Versuch, zu zeigen, wie unterschiedlich das Schicksal eines Menschen und die Gesichter der Menschen erscheinen können, wenn man sie von verschiedenen Seiten betrachtet und bewertet; welch schiefes und gewalt-tätiges Konstrukt in unserer rückblickenden Sichtweise enthalten ist.“ Der Roman Hordubal ist Teil einer philosophisch-psychologisch orientierten Trilogie (weitere Teile sind Povětroň, Obyčejní život), die alle existentiellen Fragen des Individuums gegen-über dem Kollektiv in unterschiedlichen Konstellationen untersuchen.
Rusinische Migration thematisiert auch Vladislav Vančuras Roman Poslední soud/ Das Jüngste Gericht (1930). Vančura war selbst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mehrfach in Transkarpatien gewesen und sah sehr wohl, dass trotz tschechischer Ent-wicklungshilfe, sich die finanzielle Lage der einheimischen Bevölkerung wenig verbes-serte und koloniale Praktiken gang und gebe waren. Vančuras Roman reflektiert kultu-relle und ökonomische Probleme der Rusinen und deren Auswirkungen: In seinem Roman sind rusinische Auswanderer nach Amerika – heute würde man sagen Wirt-schaftsmigranten - die Protagonisten. Auf ihrem Weg zum Überseehafen nach Ham-burg strandeten viele in Prag. Dort entstand am Stadtrand eine Kolonie dieser gestran-deten Auswanderer. Der Roman schildert die Probleme, soziale und kulturelle Heraus-forderungen dieser Menschen im Kontakt mit der modernen und urbanen Lebensweise der 1920 und 30er Jahre. Das Aufeinandertreffen der modernen Prager Großstadtwelt und ihrer sog. Zivilisationsmenschen mit den Rusinen und ihrer von einer ländlichen Gemeinschaft geprägten Werten und Verhaltensnormen führt zu Verständigungsprob-lemen. Ein gutes Beispiel sind die beiden Hauptprotagonistinnen, zwei junge Frauen, die beide den Rusinen Pilipaninec lieben. Die eine, Odeta, ist ein Prager Mädchen und die andere, Iliadora, eine Rusinin. Die Figur des Rusinen wird zur Projektionsfläche des Aufeinandertreffens eines realistisch dargestellten modernen Prags und eines phantas-tischen, vormodernen Transkarpatiens. Der Roman wurde 1931 mit Staatspreis für Lite-ratur ausgezeichnet.
Jan Vrba ging im Roman Duše na horách (1931) quasi die entgegengesetzte Rich-tung, in dem er einen tschechischen Forstwirt nach Transkarpatien versetzt. Wie in Ol-brachts Essayband Hory a staletí / Berge und Jahrhundert gibt es eine metaphorische Zeitreise. Mit Vrba reist man in die graue Vorzeit, gar Steinzeit. Der Roman bietet einen attraktiven Genremix aus Abenteuer- und Liebesgeschichten - und entspricht damit letztlich auch dem Erwartungshorizont der Leserschaft. Er inszeniert verbreitete Stereo-type und gängige Wahrnehmungsmuster Transkarpatiens, die einer durchaus kolonia-len tschechischen Attitüde entsprechen. Diese koloniale Perspektive wird in nicht zu-letzt in Ivan Olbrachts Texten einer grundlegenden Kritik unerzogen, obwohl auch er nicht frei von dieser Perspektive ist, wie wir noch sehen.
Olbrachts Karpatentexte entwerfen eine Kontaktzone, in der die Karpatenbewohner, v.a. Rusinen und Juden mit modernen sozialen, ökonomischen und kulturellen Prinzi-pien konfrontiert sind. Es war bereits die Rede von post-kolonialen Aspekten des Schreibens und den Karpaten als Kontaktzone. Das Konzept einer metaphorisch verstandenen Kontaktzone stammt aus der Literatur- und Kulturwissenschaft von Mary Pratt: “I use this term to refer to social spaces where cultures meet, clash and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power, such as co-lonialism, slavery, or their aftermaths as they lived out in many parts of the world today”.
Der Karpatenraum erscheint als solch eine Kontaktzone, nicht weit entfernt von der Met-ropole und zugleich exotisch und einer anderen Zeit und einem anderen Raum zuge-hörig. In Olbrachts Essays über die Karpaten (Hory a staletí) wird die Reise durch die Bergregion zu einer Zeitreise (ersichtlich an den Kapitelüberschriften, z.B. „Das Dorf aus dem elften Jahrhundert“, „Das achtzehnte Jahrhundert“ u.ä.). Das Narrativ der mo-dernen Metropole tritt gegenüber der Armut und Rückständigkeit, der anachronisti-schen scheinenden sozialen und politischen Verhältnisse an der Peripherie umso deut-licher hervor: „ […] es war ein Leben wie im Mittelalter mit einer primitiven Wald- und Weidewirtschaft, mit der einfachen Herstellung von Stoffen, Schuhwerk und Haushalts-gräten, ohne Bildung, Schulden und Nachrichten aus der Welt“ (byl to středověký život primitivního hospodářství s pastevectvím a klučením lesů, s jednoduchou výrobou látek, obuvi a nářadí doma, život bez gramoty, bez škol, beze zpráv o světě, Olbracht 1982, 15).
Diese Kontaktzone lässt sich produktiv mit dem Phänomen „literarischer Mehrspra-chigkeit“ verknüpfen. Diskursanalyse und Untersuchungen der postcolonial studies verdeutlichen, dass literarische Mehrsprachigkeit natürlich einmal linguistisch gefasst werden kann, anderseits - und das ist jetzt gerade für uns interessant - lässt sie sich mit kultur- und literaturwissenschaftlichen Aspekten gewinnbringend verknüpfen, und die soziokulturelle Kontaktsituation mittels literarischer Verfahren und ästhetischer Strate-gien als eigenen Code erfahrbar machen. Der Roman Der Räuber Nikola Šuhaj (Nikola Šuhaj. Loupežník) von 1933, der auch auf Deutsch vorliegt, bietet dafür ein anschauli-ches Beispiel. Olbrachts Texte über die Karpaten beruhen auf intensiven Recherchen und langen Aufenthalten des Autors vor Ort. Held und Handlung des Romans Nikola Šuhaj gestalten tatsächliche Personen, Orte, greifen reale Begebenheiten auf, die sich ein knappes Jahrzehnt vor der Publikation des Romans zugetragen haben und die in ihrer Grundstruktur im Roman erkennbar nachvollzogen werden: Nikola Šuhaj deser-tiert kurz vor Ende des Erster Weltkriegs in sein Heimatdorf Koločava, heiratet seine Jugendliebe Eržika, ist aber auf Grund instabiler politischer und unklarer rechtlicher Verhältnisse gezwungen, das Dorf wieder zu verlassen und sich in den nahen Ge-birgswäldern zu verbergen, wo er sich bald als Räuber einen Namen macht. Nach knapp zwei Jahren Räuberdaseins wird er durch eine hinterlistige Verwicklung zu-sammen mit seinem Bruder Juraj von seinen ehemaligen Raubkumpanen ermordet.
Olbracht bemerkte dazu, dass es für ihn faszinierend war zu beobachten, wie aus ei-nem Menschen innerhalb kurzer Zeit eine Legende in der Tradition der Opryšken (Kar-patenräuber) mit Oleksa Dovbuš als Vorbild wurde, eine Legende, die mit einer sozial-revolutionären Aura a là Robin Hood umgeben ist. Die Biographie des Rusinen Mykola Sjugaj (1898-1921), wie Šuhaj eigentlich hieß, der den „Reichen nahm und den Armen gab“, hatte in der Realität kein soziales oder politisches Programm. Allerdings hatte der historische Hintergrund des Räuberwesens der Opryšken, der in Geschichte und Tradi-tion des Karpatenraums wurzelt, durchaus soziale Implikationen, Olbracht (1982, 78) erklärt sie so:
„Aber sehen wir uns das Karpatenland an. […] Wer sind diese Räuber? Immer auf Beutezug. Häufig Menschen mit unklaren politischen oder sozialen Vorstellungen […] Immer tragische Gestalten. Weil sie nie auch nur in die Nähe ihres Ziels kamen und nie über die Anfänge hinausgekommen sind […] Und immer Opfer. Denn sie gingen in den Händen der Henker, an den Ränken ihrer Freunde und dem Verrat ihrer Geliebten zu-grunde.
Das Gesetz betrachtet sie als Verbrecher, als Aufrührer, die von keiner Gesell-schaftsordnung als Mörder, Brandstifter und Räuber in ihrer Mitte geduldet werden, Das geschriebene Recht verurteilt sie. Das natürliche Rechtsgefühl des unterdrückten Vol-kes aber spricht sie frei. Denn sie sind der Ausdruck seines Sehnens nach Gerechtig-keit. Sie verkörpern das Verlangen der Schwachen, stark zu sein, sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, selbst um den Preis des eigenen Lebens.“
Die Räubergeschichten haben im Karpatenraum eine vielsprachige literarische Tra-dition, wie die zahlreichen Räuberfiguren zeigen, z.B. Nikola Šuhaj, Ilko Lepin, Juraj Jánošik, Dmytro Marusjak, Ondraszek, Moische Jankl Reisner oder Taras Barabola, die in ihrer literarischen Bearbeitung alle auf den Olexa Dovbuš Mythus rekurrieren, und das zumeist unter expliziter intertextueller Bezugnahme. Hinzu kommt, dass die Auto-ren dieser Räubergeschichten unterschiedlicher regionaler, staatlicher, imperialer und nationaler Zugehörigkeit sind und den Karpatenraum mit der Figur des Räubers in sei-nen verschiedenen Sprachen – u.a. deutsch, polnisch, rumänisch, slowakisch, tsche-chisch, ungarisch, ukrainisch und rusinisch -- gestaltet haben. Es wäre höchst span-nend und sicher ergiebig die Räubergeschichten vergleichend zu untersuchen. Ich bleibe aber bei der Olbrachts literarischer Durchdringung des Karpatenraums, der sei-nen einen eigenen Chronotopos konstituiert und zu Beginn des Romans dem Leser vorstellt, zur Veranschaulichung zitiere ich einmal in extenso:
„Der Verfasser dieser Erzählung ist in der Heimat Nikola Šuhajs allen Spuren dieses ‚unverwundbaren‘ Mannes nachgegangen, der den Reichen genommen und den Ar-men gegeben und niemals einen Menschen getötet hat, außer in Selbstverteidigung oder aus gerechter Rache […] Und unten in den engen Flusstälern, in den Dörfern, wo die grünen Maisfelder und die gelben Sonnenblumen sind, leben Werwölfe, in die sich manche Männer verwandeln können: Nach Einbruch der Dämmerung legen sie sich quer über einen Baumstumpf und werden zu Wölfen; gegen Morgen kehren sie dann wieder in ihre menschliche Gestalt zurück. Hier vermag noch manche junge Hexe ihren schlafenden Mann in ein Pferd zu verwandeln, um in hellen Mondnächten auf ihm durch die Gegend zu jagen. Und richtige Zauberhexen braucht man nicht erst hinter den sieben Bergen und den sieben Flüssen zu suchen; man kann diesen Bösen auch auf den Viehweiden begegnen, wo sie Salz in die Spuren der Kühe streuen, damit die Tiere keine Milch mehr geben. Aber auch die guten Feen kann man jederzeit in ihren Hütten aufsuchen, kann sie von Hanfbrechen wegrufen, damit sie einen Schlangenbiss beschwören oder einen Absud aus neunerlei Kräutern zur Kräftigung eines siechen Kindes bereiten.
Hier lebt noch Gott. […] Es ist der uralte heidnische Gott, der Herr der Wälder und Viehherden, der es ablehnt, sich mit jenem stolzen, prahlenden Gott in Verbindung bringen zu lassen, der, in Gold und Seide gehüllt, in den bunten Ikonen wohnt, oder mit jenem verdrießlichen Alten, der sich hinter den schäbigen Vorhängen der Synagogen verbirgt.“
Es wird eine - freilich nur scheinbar - mythische Zeit aufgerufen, in der das Menschli-che vom Übermenschlichen nicht geschieden ist, eine Zone, in der das Übernatürliche nicht als Unnatürlich ausgegrenzt ist, es handelt sich dabei um eine Art „Exotik in der Zeit“, die durch archaische Erscheinungen hervorgerufen wird und eine Parallelzeit zur Gegenwart (mit dem stolzen, prahlenden Gott in den bunten Ikonen, und dem verdrieß-lichen Alten, der sich hinter den schäbigen Vorhängen der Synagogen verbirgt) konsti-tuiert. In dieser Zeit gibt es Werwölfe und Hexen oder „unverwundbare Männer“ wie Ni-kola Šuhaj, die Dörfer, Wälder und Berge bevölkern. Doch ist diese Exotik nicht herme-tisch wie in einem Märchen oder einer Sage. Diese mythische Zeit befindet sich parallel in einem Raum mit anderen Zeiten, interagiert, kommuniziert, bildet mit ihnen ein Spannungsfeld - wie in diesem Roman oder zum Beispiel im bereits erwähnten Buch von Vančura Poslední soud / Das letzte Gericht oder Čapeks Balade von Juraj Čup.
Literarische Querverbindungen hat diese „Exotik in der Zeit“ sicher mit der ukraini-schen Prosa des chimären, magischen Realismus, hier fällt einem sofort Mychajlo Kocjubyns’kyjs „Schatten vergessener Ahnen“ (Tini zabutych predkiv) ein, oder ander-seits Parallelen mit der modernen Ballade, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts in Mitteleuropa verbreitet war. Im deutschsprachigen Raum wurde bei den modernen Balladen auf Bänkelsang, Moritaten und andere Folklore zurückgegriffen, so von z.B. Frank Wedekind, Arno Holz, Bertold Brecht u.a., die die Fragwürdigkeit einer Ordnung darstellten, innerhalb der und gegen die Verbrechen begangen wurden.
Wie endet nun die Geschichte von Nikola Šuhaj? Wie alle Räubergeschichten ohne happy end - es gibt ein internationales Erzählmuster der Räuberstories laut dem, der heldenhafte Räuber am Ende durch Lug und Trug, Verrat von ihm Nahestehenden, oft seinem Mädchen ums Leben kommt. Nicht anders Šuhaj, der zusammen mit seinem Bruder von seinen früheren Kumpanen hinterrücks ermordet wird, wobei sowohl die tschechischen Gendarmen als auch die jüdischen Kaufleute dabei ihre Finger im Spiel haben.
Olbrachts Roman stilisiert Šuhaj geradezu zur Verkörperung von Freiheit und Gleichheit, aber auch Irrationalität und Wildheit der Karpaten, eine Verkörperung die im modernen Nationalstaat keinen Platz hat. Das wird besonders augenfällig in der Schlussszene, in der die getöteten Brüder Nikola und Juraj Šuhaj wie Jagdtrophäen für ein offizielles Foto vor der Gendarmeriestation arrangiert werden:
[...] auf dem Rasen vor der Gendarmerie lagen zwei Tote. Sie lagen fast überkreuz, die Beine Nikolas auf dem Bauch des Bruders. Vielleicht um die scheußliche Wunde Juras zu verbergen, aber wahrscheinlich handelte es sich eher um ein fachmännisches Arrangement, um beide als Jagdtrophäe auf eine Photographie zu bekommen und da-mit es ein hübsches Bild wurde. Über die Brust der Toten lagen zwei gekreuzte Gen-darmeriekarabiner, und darauf eine schwarze Tafel, auf der in Zierschrift mit Kreide stand: Šuhajs Ende. 16.8.1921.
Ich könnte noch über weitere spannende Romane berichten. Nur noch zu Olbrachts Roman, er erhielt 1933 den tschechoslowakischen Staatspreis und erlebte zahlreiche Auflagen, gehört seit Jahrzehnten zur kanonisierten Schullektüre, wurde mehrfach ver-filmt, und rief in den 1930ern auch Empörung v.a. im Innenministerium und der Polizei-behörde hervor, es entstand sogar ein durchaus lesenswerter Anti-Šuhaj-Roman von Bohumil Mladý Sami: Na východě republiky klid (Podkarpatská rapsodie o zločincích, ženách a bojovnících). Auch von Olbracht selbst gibt es noch hervorragende Prosa über das jüdische Millieu in den Karpaten. Nur der Vollständigkeit halber, es gibt auch interessante Prosa von Autorinnen wie Amálie Kožminová über das soziale Elend der Rusinen oder Mila Valentová, die über das jüdische Millieu schrieb. Nicht zu vergessen sind zahlreiche Prosastücke, die sich eher der Populärliteratur zurechnen lassen, und im Stil von Jack London die Wildheit der Natur mit Flora und Fauna sprechen lassen oder Kinder- und Jugendbücher.
Ich habe versucht, die Aneignung Transkarpatiens durch die tschechische Literatur im Rückgriff auf literaturwissenschaftlich inspirierte Modelle der Kontaktzone und der Mehrsprachigkeit sowie der postcolonial studies zu skizzieren. Damit lassen sich Phä-nomene wie die Exotik des Raums, die koloniale Praktiken und deren Kritik, die Dicho-tomie von Zentrum und Peripherie fassen. Außerdem gehören die tschechischen Auto-ren und Autorinnen zum mitteleuropäischen literarischen Modernismus der Zwischen-kriegszeit und sind einer entsprechenden modernistischen Ästhetik verpflichtet. Zudem sind namhafte Autoren wie Olbracht, Vančura, Čapek u.a. einer sozialen, z.T. sozialisti-schen Agenda verpflichtet. Die tschechische Prosa über die Karpaten ist somit auch Teil des internationalen Feldes des literarischen Modernismus und daher stehen z.B. Olbrachts oder Vančuras Texte mit ihrem sozialkritischen und antikolonialen Blick auch in der Tradition sozialkritischer Prosa über Böhmen und Mähren, über die schwachen sozialen Schichten in den eigenen böhmischen Ländern.
Die Verflechtung des Narrativs der tschechoslowakischen Moderne mit der Fremd-heit der transkarpatischen Bergwelt verkörpert in Räubern, Hexen, Werwölfen, Magie erlaubt, wie die zum Beispiel die Erzählung über den Räuber Mykola Šuhaj, das zivili-satorische Narrativ der Moderne zu hinterfragen, dessen fragwürdige Einordnung des Unerklärlichen in bekannte Kategorien der Moderne als Aberglaube, Rückständigkeit, Mythus, psychische Störungen, Verrücktheit etc. Im gewissen Sinn sind auch Olbrachts Karpatentexte - stellenweise und stellenweise durchaus selbstironisch - eine Projektion des Eigenen auf das Fremde.
Nicht gesprochen habe ich über die Texte rusinischer Autoren der Zwischenkriegs-zeit und die zuweilen ein Zurückschreiben kolonialer Motive und Themen waren, ein writing back into the empire“, doch das wäre das Thema für einen weiteren Vortrag.