Die Geschichte von Romana.
Das Amadoka-Epos

Sofia Andruchowytsch

(Auszug S. 27–32)

Die Grabhügel waren umzäunt, eingefasst wie Beete. In seiner Erinnerung spross der Mai, üppige Vegetation kroch von überall hervor, die Gräber waren umrankt von Efeu und wildem Wein. Die zarten, salatfarbenen Blätter der jungen Brennnesseln schimmerten schüchtern zwischen den Grashalmen. Auf Friedhöfen sind die Pflanzen immer so ungestüm und fröhlich. Stängel und Blätter fleischig, die Blüte kräftig und aromatisch. Er war hier zu dieser Jahreszeit wie betäubt: Blütenstaub, Pappelwolle, herbe und süße Gerüche, Sonnenlicht. Er knöpfte den Kragen seines Hemdes auf und suchte sich eine Bank, die nur wenig im Schatten stand, dann hielt er Gesicht, Kopf und Hals in die Sonne. Er erfreute sich an der Luft, dem Aroma aufgeheizter Tannennadeln und Rinde. Seine Hände kneteten Stängel, die Fingerkuppen wurden grün vom Saft. Er leckte den Saft ab. Kaute Blütenblätter von der Kirschpflaume. Lutschte an dünnen Weinranken; ihr Geschmack war sauer.
Gegenüber stand eine alte Akazie, verwachsen mit den engstehenden Stäben der Umzäunung, die dem Gitter eines Kinderbettes glich. Der Stamm war dick und mächtig, doch wie weich seine deformierte Seite den Zaungürtel umarmte. So weiblich, so aufopfernd, wie versprengtes Fleisch, das auf einen kräftigen Strunk gespießt wurde. Das Grab war alt, abgesackt und verwahrlost – offensichtlich gab es seit langem keine Verwandten mehr, sie ruhten schon sanft auf anderen Friedhöfen. Anstatt Verwandter war da die Umarmung von Eisen und Holz über den beigesetzten Knochen, und eine Welle frisches, dichtes Immergrün, das wie unterirdisches Fruchtwasser einen Damm durchbricht.
Einmal hatte der Mann verwundert festgestellt, dass er, als er sich wieder einmal vorstellte, was er früher oder später werden, wie er unter Tonnen von Erde im Finstern verfaulen würde, und er in Gedanken alle nicht allzu angenehmen Prozesse überflog, die einhergehen mit Zersetzung und Verwesung, Veränderungen der Gewebe, der Umwandlung von Stoffen in andere, mit Verflüssigung, Blubbern, der Entwicklung von Gasen, dem Gewimmel von Würmern und Insekten und mit der Ausweglosigkeit, dieser engen, endgültigen und unwiederbringlichen, - dass er auf Fantasien stieß, die ihm eine spürbare innerliche Linderung verschafften.
Es waren Fantasien über das Wachsen einer Pflanze aus seinem Körper: Ein Samenkorn bricht schüchtern auf. Ein Spross, blind und blass, sucht unbeirrt seinen Weg zum Licht. Chlorophyll wuchert in den elastischen Zellen. Die Blätter rauschen im Wind. Die Wurzeln umflechten mit sanften, kräftigen Fingern seine Rippen, umschließen die Wirbel, dringen in die Öffnungen seines Schädels ein, halten fürsorglich die Knochen seiner Gliedmaßen, – er findet sich in einer Wiege wieder, in der zuverlässigsten Gefangenschaft. Er tränkt die Pflanze mit seinem Körper, nährt sie, erhält sie am Leben; sie saugt nicht nur die nahrhaften Stoffe seines Körpers auf, nicht nur Stickstoff und Phosphor, nicht nur Dung und Kompost, sondern auch seine Gefühle und Gedanken, seine Träume und sein Gedächtnis, den Geschmack seines Schweißes, das Fallen von Gabeln, Explodieren von Schrapnellen, die feinen, langen, parallel verlaufenden, kiemenähnlichen Schnitte auf der Haut, die einer scharfen Klinge entstammen, die Stimmen und das Lachen der Menschen, denen er nahe, aber mehr noch fern war, und die Tränen, und die heftigen Schmerzen im Zwerchfell, seine Tage: sein gesamtes Menschenleben.
Er wollte, dass aus ihm ein Walnussbaum wächst. Ein starker, reiner Baum mit glatter, heller Haut. Ein egozentrischer Baum, der andere Pflanzen unter seiner Krone vertreibt, - der Nussbaum nimmt sich bequem so viel Platz wie möglich, richtet sich zu seinem Vorteil ein, reckt sich und bleibt einsam. Andere Pflanzen ertragen ihn kaum: Der Nussbaum reichert die Erde mit für sie unverträglichen Stoffen an. Der Raum unter seinen Zweigen riecht herb, wie gewaschen. Sein kühler Schatten verschafft Erleichterung, wie Aspirin bei Fieber.
Er wünschte sich, dass Frauen seine Früchte essen. Dass sie die jungen Nüsse mit Stöcken von seinen Ästen schlagen, dass die Bälle reichlich auf sie herunterregnen, ihnen auf Kopf und Schultern schlagen. Er wollte, dass die Frauen seine Früchte zwischen ihren Handflächen rollen, mit den Fingern streicheln, die harte Schale spüren. Dass sie die Nüsse auf den Asphalt legen, auf die Betonplatten des Weges oder auf eine Grabplatte und die Schale mit einem großen Stein oder dem Fuß aufbrechen. Bei einer würde sich der entsprechende Absatz finden.
Er wollte, dass ihre dünnen Finger mit den lackierten Nägeln im Inneren der Nüsse stochern, dass ihre Gesichter konzentriert und ernst werden, sich ihre glatten Münder mit ungeduldigem Speichel füllen. Dass sie sorgfältig und entschieden die dünne Haut von jedem Kern ziehen. Dass sie die Schönheit seiner Früchte erkennen, davon entzückt sind. Dass sie sich ihre Beute langsam auf die Zunge legen, sie mit den Zähnen zermahlen, bis der Geschmack sie erfüllt. Dass sie nicht genug bekommen, nicht aufhören können. Dass sie immer wieder zu ihm kommen, wie zu einer Pilgerstätte. Bei ihm Zuflucht suchen, wie bei einem Geliebten. Dass sie sich voneinander verabschieden, traurig seufzen und fragen: „Wann gehen wir wieder zu unserem Nussbaum? Ich habe immer noch nicht genug.“

*

Der Mann spürte das Rascheln der dichten Baumkrone über sich. Plötzlich erzitterten die Zweige und knarrten mühsam, aus dem Dickicht drang panisches Flüstern zu ihm:
„Bring mich weg, bring mich weg von hier, ich spüre meine Beine nicht mehr.“
Noch immer auf dem Sargdeckel liegend, aus dem ein großer Baum mit heller Rinde hervorwuchs, hob der Mann den Kopf und erblickte ein blasses Gesicht mit angstgeweiteten Augen und krampfhaft verzogenem Mund über sich. Das Gesicht war ihm entfernt bekannt.
„Auf mich sind die Mauern der Häuser gestürzt. Sie haben eine Kassettenbombe abgeworfen. Schau, hier sind alle tot, nur ich habe überlebt, aber ich kann nicht gehen.“
„Nein, nicht alle“, drang noch eine Stimme herüber. Der Mann drehte sich in Richtung des Geräuschs und sah, dass im Dunkel des Zimmers jemandes einziges Auge unheilvoll blitzte. „Ich bin gerade zu mir gekommen. Mein Auge ist noch wie blind, ich sehe sehr schlecht. Wer hätte gedacht, dass sie genau heute angreifen. Es war die einzige Nacht, in der wir keinen Angriff erwartet haben.“
„Idioten“, hörte man ein Krächzen vom Bett in der Ecke. „Wir müssen weg von hier. Gleich geht es wieder los.“
„Dann mach schon“, sagte der Augenlose.
„Er kommt auch nicht voran!“ Das wusste unser Held genau, wenn auch nicht woher. „Wir müssen ihn tragen. Sieht so aus, als wäre er von der Hüfte abwärts gelähmt.“
„Ich werde niemanden tragen, solange mein Auge nicht sieht.“
Der feindliche Scharfschütze glitt mit einem sauberen Lichtstrahl über ihre Körper, er zielte von der nächstgelegenen Ramme.
„Auch dein zweites Auge wird gleich nicht mehr sehen, wenn du den Helm nicht abnimmst. In ihm spiegelt sich der Mondschein“, bellte der Mann zornig.
Nach diesen Worten begann der Beschuss von Neuem. Das Dach des Unterschlupfs zerbröselte wie Zwieback. Der Mann packte den, der die Beine nicht spürte, unter den Armen und zerrte ihn fort, ohne zu wissen wohin. Ihnen hinterher kroch der Augenlose. Sie bewegten sich einen engen Graben entlang, dessen Wände eingestürzt waren. Die Erde war trocken und bitter, staubig. Als das Pfeifen der Minen endete, wurde das intensive Knattern von Maschinengewehren hörbar. Der Mann ließ den Beinlosen hinter der durchlöcherten Mauer einer verlassenen Hütte zurück. Der Augenlose streckte sich auf der Türschwelle aus, presste die Hände gegen die Ohren und verbarg sein Gesicht in einem Loch des angekohlten Holzbodens.
Als sich unser Held, gebeugt unter dem Gewicht des Körpers des erwachsenen Mannes, der aufgrund der Lähmung noch schwerer war, mit kleinen Schritten zum Eingang des Verstecks bewegte, erspähte er im Licht der bunten Rauchschwänze der Leuchtspurmunition ein paar Gestalten, die eilig in seine Richtung liefen. Nun wurde ihm klar, dass sie nicht entkommen würden.
Ein Sanitäter in grün-blauem Mantel stach flink eine Nadel in das Gesäß des Mannes. In dessen Körper machte sich ein Gefühl leichter Schwerelosigkeit breit. Man hob den gelähmten Zimmernachbarn von seinen Schultern. Und die Medikamente begannen zu wirken.
Als er sanft in die Umarmung des Sanitäters sank, erblickte der Mann Besorgnis in den Augen der Psychiaterin Slonowa und ihren Gipsverband, der Hand und Handgelenk fixierte.
„Und du hast gesagt, dass er ruhig ist, Emilia“, raunte der Chefarzt mit tiefer Stimme. Er hatte so buschige Augenbrauen, dass sie sich auf seiner Stirn lockten.
„Er ist ruhig. Nur darf ein Chirurg den Patienten keine Beruhigungsmittel verschreiben“, fiel Slonowa ihm verärgert ins Wort. Sie war zornig wie eine Wölfin, der die Jungen weggenommen wurden. „Wann wird man endlich aufhören, mich bei der Behandlung meiner Patienten zu stören?“
„Als ob es so wäre, Emilia“, erwiderte der Chefarzt wohlwollend in seinem tiefen Bass.

*

Als unser Held am Morgen erwachte, die Augen aber noch geschlossen hielt, spürte er, dass alles in Ordnung, alles wie immer war: Er weiß wieder nicht, wer und woher er ist, was mit ihm geschehen und wie sein Leben gewesen war. Die Wunden und Glieder schmerzen, die Nähte jucken. Er hat noch immer keine Zähne im Mund. Er ist noch immer dieses entstellte Monster mit zertrümmerten Backenknochen und gebrochener Nase, mit schiefem Schädel und einer ganzen Sammlung von Schmerzen im Körper.
Der Mann wusste nicht, wer er war, und wenn er in den Spiegel sah, rief sein Äußeres keinerlei Assoziationen bei ihm hervor. Aber mit dem Spektrum seiner Schmerzen hatte er, seit er aus dem Vergessen aufgetaucht war, in der Zeit im Rehabilitationszentrum gut Bekanntschaft gemacht.
Er war Herr feiner, sehnsüchtiger Schmerzen, wie das Heulen des Windes, und Schmerzen, die Stromstößen unterschiedlicher Stärke glichen; hatte Schmerzen, als drehte man einen Metallstift ins Fleisch, und Schmerzen, als drehte man diesen Stift wieder heraus; er hatte Schmerzen, die ausladend und füllig wie ein gemästetes Nutztier waren, Schmerzen, als würde ein Schraubstock zugedreht, Übelkeits-Schmerzen, Hitze-Schmerzen, Schmerzen als hobelte man seinen Leib, Pulsierungs-Schmerzen, die mal anwuchsen und immer stärker wurden, bis der Körper krampfte, dann wieder abnahmen und sanfter wurden, fast so, dass sie Genuss brachten. Es gab auch Spannungs-Schmerzen, anders als Schmerzen, aber vielleicht am schwersten zu ertragen. Schmerzen, die aus dem Inneren des Schädels, des Magens, des Brustkorbs drängten, als blähten sie sich auf, schwollen an, als entfaltete sich dort ein lebendiger Organismus. Besorgnis-Schmerzen. Leere-Schmerzen. Juckreiz-Schmerzen. Angst-Schmerzen, die Eiseskälte über die Innenwand des Bauchraums jagten. Und noch eine Vielzahl anderer Schmerzen, die er alle genau beschreiben könnte, bis ins kleinste Detail, würde die Sprache ihm nicht Widerstand leisten.
Der Mann begriff, dass er in der Nacht einen seltsamen Traum gehabt hatte, und dass dieser Traum von der Wirkung minderwertiger Medikamente hervorgerufen worden war. Dass die Medikamente auch bei seinen Zimmernachbarn Wirkung gezeigt hatten, und sie gemeinsam ein makabres Spektakel veranstaltet und so dem Personal des Zentrums Umstände bereitet hatten, am meisten dem Chefarzt mit den buschigen Augenbrauen (im Grunde kein schlechter Mensch, ein hervorragender Chirurg).
Nur eines begriff unser Held an diesem unschuldigen Morgen am Höhepunkt des Frühlings, erfüllt von weißem Sonnenlicht und irrwitzigem Vogelgeschrei vor den Fenstern nicht: Wer war diese unbekannte Frau, die ohne zu blinzeln in sein entstelltes Gesicht blickte, sich dabei auf die Unterlippe biss und mit den Nägeln der rechten Hand am linken Unterarm kratzte. Ihre Augen zwinkerten nicht hinter dem Glas ihrer Brille. Die Bluse auf ihrer Brust hob sich rhythmisch. Sie saß auf seiner Decke, hatte es sich mit dem Hintern zwischen seinen Unterschenkeln bequem gemacht, und presste sie mit dem Gewicht ihres Körpers in die Matratze. Wie ein Vogel im Nest. Wie ein Tier auf der Jagd. Wie ein das Männchen ruhig beobachtendes Weibchen, das nur ein bisschen mit den drahtigen Schnurrhaaren zuckt, wohlwissend, was sie beide erwartet, was keiner von ihnen umgehen, woraus sich niemand herauswinden kann. Dem Pulsieren der unerbittlichen Kraft der Natur unter dem dünnen Fell, unter der Seidenbluse lauschend. Tuk-tuk, tuk-tuk, tuk-tuk.
Hinter ihr standen die Ärzte: der Chefarzt mit seinen dreisten Brauen, Slonowa – skeptisch und unzufrieden, die Augen verengt, die Nasenflügel gebläht, der Internist, der Röntgenologe, die Stationsschwester mit dem Namen Lubow – Liebe -, deren Wangen sich purpurrot verfärbt hatten, und deren seidener Flaum im Gesicht wie elektrisiert war.
„Erkennen Sie diese Frau“, fragte Slonowa hastig und streng mit komisch kehliger Stimme.
„Nein?“, gab der Mann relativ sicher fragend zur Antwort.
Slonowa pikste den Chefarzt mit ihrer Gipshand in den Bauch und zischte sogleich vor Schmerz. Irgendwie schien es, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
„Man darf Patienten nicht einem derartigen Stress aussetzen! Jeden Dahergelaufenen zu ihm lassen! Sie haben ihn gerade erst mit miesen Beruhigungsmitteln fast umgebracht! Sie werden es noch zu weit treiben!“
Ohne den Blick von unserem Helden zu wenden, ließ die Frau mit Brille endlich ihre Unterlippe los, griff mit den Händen rechts und links an die Bettkante und zog sich über die Oberschenkel und den Bauch des Mannes nach vorne bis zu seinem Gesicht.
„Aber ich bin doch keine Dahergelaufene“, sagte sie. „Natürlich wird er mich erkennen. Er ist mein Mann. Ich bin seine Frau. Bohdan, ich bin’s, Roma.“

Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck