Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha

MARCEL BEYER

I

Ich schreibe Anfang April, zu Frühlingsbeginn 2022. Wir erwarten die Rückkehr der Zugvögel. Ich bin in Sicherheit. Ich bin immer in Sicherheit gewesen. Nichts von dem, was ich hier aus der Ukraine erzähle, habe ich erfahren, indem ich selbst am Ort des Geschehens gewesen wäre, an der Tankstelle, auf dem Supermarktparkplatz, am Feldrand, am Grenzübergang nach Polen oder auf einer zerstörten Hühnerfarm, in einer zerstörten Rinderzucht, zwischen den Trümmern, zwischen den Wohnblocks, wo der Rasen nicht einmal mehr grau oder braun aussieht, wo der Rasen keine Farbe mehr hat und man nicht zu sagen wüßte, ob er von einer Staubund Rußschicht überzogen ist oder ob der Farbverlust auf organischen Prozessen beruht, die nur unter Kriegsbedingungen in einer Pflanze in Gang gesetzt werden.
Es sind Smartphone-Filmaufnahmen und Photographien und Fernsehaufzeichnungen, die ich beschreibe, das heißt: nicht einmal beschreibe, die ich vielmehr aufrufe, ohne das gesamte Bild vor dem inneren Auge auszubreiten, einmal hier ein Detail nennend, einmal dort hervorhebend, was mir bei der Betrachtung aufgefallen ist.
Auf den Bildern, die ich seit dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine am Morgen des 24. Februar gesehen habe, ist mir etwas aufgefallen. Etwas, das es auf diesen Bildern nicht zu sehen gibt. Es fehlen die Krähen.
Ich sehe Felder, die bis an den Horizont reichen, sehe städtische Parks, sehe Grünanlagen in Hochhaussiedlungen, aber nirgendwo auch nur eine einzige Krähe. Auf dem Dach der Tankstelle könnten Krähen hocken. Dort beim Supermarktparkplatz. Krähen könnten zufällig durch das Bild fliegen, wenn die Smartphone-Kamera in den Himmel gerichtet wird. Aber nichts. Seit dem 24. Februar habe ich vor allem Katzen gesehen und Hunde. Auch Schildkröten, Kaninchen. Einmal sogar ein Buschhörnchen. Exotische Vögel im Käfig. Haustiere allesamt, die von ihren Besitzern mitgenommen wurden auf die Flucht, oder Haustiere, die zurückgeblieben sind, weil ihre Besitzer nur einige Tage haben verreisen wollen, während der die Nachbarn die Katze füttern, den Hund ausführen werden, doch dann gibt es keine Rückkehr, gibt es nur die überstürzte Weiterreise hinaus auf die Dörfer, wo der Krieg noch nicht angekommen ist, oder noch weiter in Richtung Westen, weiter ins Nachbarland, und wo sind nun die Nachbarn, ich weiß es nicht, sie sind so wenig zu sehen wie die Krähen, die im Frühjahr über dem Feld darauf warten, daß der Bauer mit der Aussaat beginnt.
Ich sehe Bäume am Feldrand, geborsten und schwarz. Geborstene, schwarze Bäume am Straßenrand. Sträucher, die keine mehr sind.
In einem Garten abseits der Stadt sehe ich Hausgänse, die vor einem zerstörten russischen Panzer umherlaufen. Eine Handvoll Tauben, wie sie unter einer Staffel russischer Militärhubschrauber durchs Bild fliegen.
Zwei, drei Möwen im sonnigen Morgenhimmel über Mykolaiv, zufällig von der Überwachungskamera eingefangen, als eine russische Rakete im Gebäude der Gouverneursverwaltung einschlägt.

II

Die Photographie ist ein stummes Medium. Setzt sie akustisches Geschehen nicht in Szene, indem etwa ein weinendes Kind, ein Helikopter am Himmel, eine sich im Wind blähende schwarze Plastikfolie gezeigt wird, bleibt der Betrachter über das Geräuschfeld eines Photos im Unklaren.
Bei der folgenden Aufnahme könnte es sich demnach um eine stille Szene handeln: Man sieht eine in Zentralperspektive vor dem Betrachter dahinlaufende Straße, die im Hintergrund auf Wohnhäuser zuhält, auf einen mehrstöckigen Block mit Balkonen. Am linken und rechten Rand des Bildes stehen ebenfalls Häuser. Eine Stichstraße, dort hinten am Ende des Bildes könnte man nach rechts abbiegen oder nach links. Es ist noch nicht Frühling. Kein Laub an den Bäumen.
Der Mittelstreifen der Straße nimmt die Mitte des Bildes ein. Im Vordergrund hat sich ein sandbrauner Hund auf dem grauen Asphalt ausgestreckt. Seine Vorderläufe liegen quer über der Mittellinie, so daß er den Kopf einem Mann zuwendet, der vor ihm hockt, sich über ihn beugt. Links der Mann mit schwarzer Strickmütze, schwarzen Handschuhen, in einer dunkelblauen Wetterjacke und Jeans. Ein großer grünlicher Seesack auf seinem Rücken berührt den Boden. Dahinter ein Katzenkorb aus glänzendem Kunststoff. Rechts von der Mittellinie der Körper des Hundes.
Es könnte sich um eine stille Szene handeln, wären im Hintergrund nicht Trümmerteile auf der Straße verstreut, Wellblech und Ziegel, soweit man die leicht verschwommen im Bild liegenden Gegenstände erkennen kann, und stünde das hellblaue, türlose Auto vor dem Wohnblock nicht merkwürdig schief in der Welt, als hätte eine unsichtbare Hand es an die Mauer gedrückt.
Der Mann legt die Stirn an die Stirn des Labradors, er selbst hält die Augen geschlossen, und mit seinen Händen verschließt er auch seinem Hund die Augen.
Das Tier rührt sich nicht von der Stelle. Man sieht, die Muskeln seiner Hinterläufe sind angespannt, sein gesamter Leib steht unter Spannung, Starre und Sprungbereitschaft zugleich. Die Todesangst und der Fluchtreflex kämpfen in ihm gegeneinander. Mit jeder Faser bringt dieser Körper zum Ausdruck: Es herrscht höchste Not.
Man sieht, es geht um Sekunden. Jeden Augenblick kann die nächste Granate einschlagen, hier, auf offener Straße. Die Sekunden verstreichen. Man sieht, die beiden verharren in ohrenbetäubendem Lärm.

III

Meine Beschreibung einer Straßenszene, die zeigt, wie sich ein Mann über einen Hund beugt, läßt sich jederzeit leicht mit der Aufnahme abgleichen, die der Photograph Marcus Yam für die Los Angeles Times am 13. März in der nordwestlich von Kyiv liegenden Stadt Irpin gemacht hat. Zu jener Zeit rückten die russischen Truppen von Norden her auf die Hauptstadt vor. Um sie aufzuhalten, sprengte die ukrainische Armee eine Brücke, so daß die Einwohner der umliegenden Orte nicht mehr mit dem Auto fliehen konnten. Auf dem Brückenrest standen die verwaisten Fahrzeuge, weiter mußte man zu Fuß, über einen schmalen, improvisierten Steg durch den Fluß, hinüber ans sichere Ufer. Unablässig wurde die Stadt, wurden der Brückenrest und die fliehenden Menschen von russischer Seite beschossen. Ein Journalistenteam, das sich vor den Granaten geflüchtet hatte, wurde Zeuge, wie eine Frau, ihre zwei Kinder und ein Bekannter auf der Straße zusammenbrachen. Menschen liefen herbei, um zu helfen.
Bilder von den vier Toten auf der Straße bei Irpin verbreiteten sich im Netz schnell. Zeitungen rund um die Welt entschieden, ein Tabu zu brechen, das bislang in diesem Krieg gegolten hatte: Zum ersten Mal seit der russischen Invasion zeigten die Aufmacherphotos am folgenden Tag nicht mehr nur zerstörte Gebäude oder Autos in der Ukraine, sie zeigten Menschen, wenige Minuten vor der Aufnahme gewaltsam zu Tode gekommen, wie sie am Straßenrand liegen.
Sonntag, der 13. März bildete eine Zäsur der Kriegsberichterstattung. Das ist lange her. Bilder von getöteten Zivilisten stellen seitdem kein Tabu mehr dar, sie sind zu einem Bestandteil der täglichen Berichterstattung aus der Ukraine geworden.

IV

Ich beschreibe einen vor Angst erstarrten Labrador, wie er auf dem Asphalt kauert, auf einer Straße mitten in Irpin, während der Beschuß an Heftigkeit zunimmt.
Anderen Betrachtern dieser Photographie würden vielleicht andere Details ins Auge fallen als mir: die gelb-weißen Bordsteinkanten, das kleine Gestrüpp dort links, die tiefrote Toreinfahrt. Sie würden sich fragen, welcher Natur die zwei Trümmerteile am unteren Rand des Bildes sind – Teile eines Plastikrohrs vielleicht. Ob Reste einer Granate so aussehen, weiß ich nicht. Möglich, andere Betrachter würden mich korrigieren, der Hund sei kein Labrador, das Kunststoffgefäß auf dem Boden kein Katzenkorb, der grüne Seesack auf dem Rücken des Mannes kein Seesack und auch nicht grün, sondern, genauer: olivgrün – ein Wort, das ich nicht verwenden mag, weil es untrennbar mit Militärischem verbunden ist. Vielleicht würde jemand bemerken, wie viel Hellbau auf dieser Aufnahme aus einer vorfrühlingsgrauen Welt zu sehen ist: Die Balkonverblendungen, das zertrümmerte Auto, der Zaun, hinter dem sich ein Hof oder ein Garten befindet. Jemand würde bemerken, welche Partien des Bildes geradezu überscharf wirken, und welche verschwimmen.
Ich befreie den Mann auf der Photographie aus der Anonymität, er heißt Andriy Kulyk. Ich erwähne den Namen eines weiteren Mannes, einer Person zudem, die auf dem Bild nicht zu sehen ist, obwohl sie in jenem Augenblick, als es entstand, anwesend war: Der Photograph Marcus Yam, der unmittelbar vor Andriy Kulyk und seinem Labrador gehockt haben muß, demselben bedrohlichen Lärm und derselben Todesangst ausgesetzt.
Den Namen des Hundes kenne ich nicht.
Das Bild von der Straße in Irpin gewinnt nahezu unmerklich den Charakter einer exemplarischen Szene, eines Beispiels, eines plastischen Details in einem großen, unübersichtlichen Krieg. Zugleich ist uns bewußt, es handelt sich um eine von unzähligen Szenen im Nordwesten Kyivs am 13. März 2022. Im Blick auf das Tier wird der Blick auf die Menschen nicht etwa ausgeblendet. Sie sind gegenwärtig. Doch es gilt, ihre Würde zu schützen.
Ob der Mann im Granatwerferlärm auf seinen Hund einredet, ob der Hund winselt – wir wissen es nicht.
Hält der Mann auf dem Photo aus Irpin seinem Hund den Kopf, hält er ihm sanft die Augen zu – oder nicht doch die Ohren? Die Blutspur der Tiere und die Blutspur der Menschen kreuzen sich.

V

Innerhalb weniger Wochen vergehen Jahre. Inzwischen habe ich auf Photographien tote Pferde gesehen, am Straßenrand. Ihre Haut wirkte ledrig, bleich. Die Farbe war aus ihr gewichen. Doch bei einem Pferd sieht man nicht die Haut am Leib, wird mir erst nachher bewußt, man sieht das Fell. Ich werde die Aufnahme kein zweites Mal anschauen, um mich zu vergewissern, ob die Körper der Pferde mit Staub bedeckt sind oder kahl.
Die russische Armee, bombardiert ukrainische Dörfer, in denen Hühnerfarmen angesiedelt sind. Sie bombardiert Orte, die von der Rinderzucht leben. Zwischen den Trümmern der großen Ställe, zwischen geknickten Eisenträgern und Wellblechflächen, zwischen zerstörten Traktoren irren die überlebenden Kühe umher.
Ich folge der Blutspur der Tiere. Und ich folge der Trostspur der Tiere.

VI

Dank ihrem Kamera-Auge bin ich einer Drohne auf ihrer Flugroute gefolgt, die durch den zeitweise von der russischen Armee besetzten Ort Borodyanka im Nordosten von Kyiv gelenkt wird, um das Ausmaß der Zerstörung zu dokumentieren. An einer Stelle der Videosequenz erfaßt die Drohnenkamera ein aufgerissenes Wohngebäude, neun Etagen hoch, dessen Treppenhaus nach dem Beschuß nichts weiter als eine leere Mitte bildet. Man erkennt schattenhaft, wie Treppenstufe um Treppenstufe in den Treppenhausschacht eingepaßt war, die Stufen selbst jedoch existieren nicht mehr. Man sieht auch die Wohnungstüren im Hintergrund, eine über der anderen, vor denen sich kein Flur mehr erstreckt, sondern nur noch ein schmaler Streifen Boden. Wobei Boden das falsche Wort ist, weil hier alles im offenen Himmel hängt, wie der Wust loser Kabel im neunten Stock. Auf einem dieser schmalen Absätze mit ungleichmäßig verlaufender Kante erkenne ich eine organische Form, die Form eines Lebewesens.
Die Tierretter von ZooPatrul erkennen eine Katze. Da es keine Möglichkeit gibt, aus dem siebten Stockwerk der Ruine auf den Erdboden zu gelangen, hockt sie wohl seit mehreren Wochen dort bei der Wohnungstür und schaut auf die Welt hinunter, in der nach der Bombardierung Sanitäter und Feuerwehrleute Opfer geborgen haben, und in der nach dem Ende der russischen Besetzung Helfer mit schwerem Gerät lange damit befaßt waren, die Trümmer zu beräumen, aufmerksam nach Verschütteten Ausschau haltend.
Die Katze wird alles gefressen haben, was es auf ihrer Etage zu fressen gab. Vielleicht hat es zwischendurch geregnet, und sie konnte Wasser trinken, das sich in einer Bodenkerbe sammelte.
Es gibt keinen Weg aus der siebten Etage herunter – es gibt keinen Weg in die siebte Etage hinauf. Jemand kontaktiert die Feuerwehr. Die Feuerwehr in Borodyanka verfügt über keine Leiter, die lang genug wäre. Die Feuerwehr von Irpin dagegen doch – Irpin, der Ort, in dem im März ein Labrador vor Angst erstarrt auf der Straße kauerte, während ein Mann vor ihm hockte und ihm den Kopf hielt.
Die Feuerwehr von Irpin kommt zu Hilfe. Vorn auf dem Kühler ihres Drehleiterwagens steht auf Deutsch in großen Buchstaben das Wort FEUERWEHR geschrieben. Eine Sekunde ist mir, als führte von der Katze von Borodyanka eine schemenhafte Spur zu mir zurück. Ihre Rettung wird von Smartphone- und Fernsehkameras verfolgt: Wie die Leiter ausgefahren wird, wie zwei Feuerwehrmänner in der siebten Etage nach einem Zugang suchen, wie die Leiter langsam, langsam wieder eingefahren wird, wie der Feuerwehrmann seine dunkle Jacke öffnet und das Tier hervorholt. Die Katze ist schwach, struppig, kaum mehr als Katze erkennbar.
Rasch wird noch ein Gruppenbild von den Rettern gemacht. Der junge Mann links im Bild trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »HIP HOP IV REAL«.
Bis in den späten Abend gilt die Aufmerksamkeit dieser Katze. Als es Zeit wird, den Rechner auszuschalten, werde ich noch auf ein kurzes Video aus der Tierarztpraxis aufmerksam: Innerhalb weniger Sekunden frißt sie den Inhalt einer Dose Aufbaufutter. Man kann das Video zehnmal nacheinander anschauen. Dann kann man beruhigt schlafen gehen. Die Katze ist aufgehoben. Sie ist eingebettet – zuerst in die eine, dann in die andere Szenerie.
Die Katze von Borodyanka hat Tag und Nacht am Rand einer leeren Mitte gehockt. Nun, da sie kein hilfloses, dem Sterben
preisgegebenes Opfer mehr darstellt, markiert sie die Mitte, den zentralen Akteur einer Erzählung, die aus Photos, Videosequenzen und kurzen Texten besteht. Sie hat überlebt.
Jetzt hält sich in jenem neunstöckigen, von russischen Granaten zerstörten Wohnhaus kein Lebewesen mehr auf.

VII

Es geht um Würde. Und es geht um Scham.
Ob ein entkräftetes Pferd Scham empfindet, wenn es auf dem Straßenpflaster zusammenbricht und sich nicht mehr aufrichten kann, oder ob es von nichts als Panik, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit ergriffen wird, da es die Nähe des Todes spürt, weiß ich nicht.
Die Katze von Borodyanka wird nach ihrer Rettung auf Verletzungen hin untersucht, sie wird gewaschen, gekämmt, gefüttert. Sie bekommt wieder einen Platz in der Welt, an dem sie sich erholen kann. Schritt für Schritt gewinnt sie mit Hilfe der Menschen ihre Würde zurück. Sie, die ihren Namen nicht nennen kann, erhält einen neuen: Shafa, Wandschrank, oder Shafka, Wandschränkchen, nach dem Photo aus einer anderen Ruine in Borodyanka, auf dem man sieht, wie inmitten der Verwüstung ein altes Wandschränkchen, auf dem ein Weinkrug in Form eines Hahns steht, solide an der Küchenwand hängengeblieben ist, ohne daß die dazugehörige Küche noch existiert.
Wenige Tage später melden sich Shafkas Besitzer bei ZooPatrul. Sie erhält ihren ursprünglichen Namen zurück: Gloria. Nun hat sie zwei.

VIII

Militärhubschrauber kreisen über dem Viertel. Sirenen heulen.
Ich bin in Sicherheit. Bin es immer gewesen. Mein Leben ist nicht in Gefahr.
In Mariupol wird das Azovstal-Werk von der russischen Armee mit Raketen beschossen, deren Besonderheit es ist, am Boden ein Höllenfeuer zu entfachen.
Tiere gehen in Flammen auf.
Bilder sind in uns abgelegt. Wir wissen nicht einmal, was sich in den Haufen und Stapeln befindet, bis wir eines Tages unerwartet ein Bild aus der fiktionalen Sphäre im Geschehen der außersprachlichen Wirklichkeit wieder zu erkennen glauben. In der Eröffnungsszene von Tim Burtons »Mars Attacks!« aus dem Jahr 1996 kommt eine Herde brennender Rinder über eine Hügelkuppe auf den Betrachter zu.
Ich erinnere mich gut an den großen Berliner Kinosaal, in dem ich den Film im Februar 1997 während der Berlinale sah. Ich meine mich zu erinnern, das Publikum habe ein wenig verunsichert auf Burtons groteskes Wechselspiel zwischen albernem Humor und todernster Gewalt reagiert.
Seinerzeit wußte ich nicht, daß »Mars Attacks!« auf einen Satz Sammelkarten aus dem Jahr 1962 zurückgeht, die in fünfundfünfzig Einzelbildern ausmalen, wie seelenlose Außerirdische einen Vernichtungskrieg gegen die Erde führen. Mit brennenden Rindern kündigt er sich an. Die Marsianer lassen Tiere in Flammen aufgehen, und es bereitet ihnen Vergnügen.
Auf der Rückseite jeder Sammelkarte bettet ein Text das bildliche Geschehen ein in den Zusammenhang des Angriffs vom Mars. Karte 22: »Brennendes Vieh. Indem sie die Lebensmittelversorgung der Welt angriffen, erhofften sich die Marsianer, die Erde werde in die Knie gehen. Die Anführer der Invasion befahlen den fliegenden Untertassen, sämtliche Tiere und die gesamte existierende Anbaufläche zu zerstören. Hektar um Hektar zerstörten die fliegenden Untertassen, da sie über die Nationen der Welt hinwegstrichen. Tiere wurden von den sengenden Hitzestrahlen zu Tode verbrannt, die die Marsianer auf sie abfeuerten. Bauern sahen hilflos zu, wie Kühe, Pferde und Hühner vernichtet wurden. Sie versuchten, so viele wie möglich zu retten, indem die Bauern die Tiere in Unterständen und Scheunen versteckten. Manche Tiere wurden im Wohnbereich der Familie gehalten, um sie vor den Angriffen zu schützen.«
Als im März 2014 russische Soldaten in Uniformen ohne Hoheitszeichen die Krim besetzen, werden sie von den Einwohnern sarkastisch »grüne Männchen« genannt. 1962 beginnen die außerirdischen, kleinen grünen Männchen vom Mars einen Eroberungskrieg gegen die gesamte Erde.
Sechzig Jahre später wird die Nummer 22 des Sammelkartensatzes »Mars Attacks!«, älter als ich, aus meinem inneren Bildervorrat hervorgeholt. Nein, sie zieht sich von allein aus dem Stapel, während ich Photographien betrachte von bombardierten Rinderfarmen, von verbrannten Pferden und von Pferden am Straßenrand, deren Haut ich im Leben kein zweites Mal sehen möchte.

aus: Marcel Beyer
„Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha“
© Wallstein Verlag, Göttingen 2023