Ein Haus für Dom

VICTORIA AMELINA

Das Kapitel stammt aus dem Roman “Ein Haus für Dom”, Verlag des Alten Löwen, Lwiw, 2017 (Dom ist die Kurzform von Dominik, es ist ein Pudel).

Der Roman erzählt die Geschichte einer Familie, die in Lemberg in der Sowjetzeit sesshaft geworden ist. Sie erlebt hier den Zerfall der Sowjetunion und die wilden 1990er. Die Geschichte wird von einem Hund erzählt, was interessante Beobachtungen und Wendungen ermöglicht. Eine kurze Erklärung: Der Oberst war einst Militärflieger, heute in Rente. Er selbst stammt aus der Ostukraine. Die Große Oma, seine Frau, stammt aus Aserbaidschan. Die beiden haben zwei Töchter - Olja und Tamara, beide geschieden. Oljas Tochter Marusja ist blind, sie ist erblindet, als sie fünf war. Und Mascha ist die Tochter von Tamara. Also: sechs Menschen und ein Hund in einer Wohnung. Amelina verlegt sie in das Kindheitshaus des großen polnischen Schriftstellers Stanislaw Lem.

Anmerkung des Übersetzers Juri Durkot

Die Tiefe

Diese Stadt ist nicht wie Nowersk. Dort, wo jetzt Nowersk liegt, wuchs noch vor einigen Jahrzehnten der Wald, und mit Ausnahme der Jagd war es dort weder schaurig noch spannend. In Lemberg ist dagegen zu viel passiert. Aber wer macht sich hier schon Gedanken über den Grund für eine plötzliche Erleuchtung oder sinnlose Streitereien am selben Ort? Unter diesem Balkon, an dieser alten Eiche oder vor dem nächsten Treppenhaus? Niemand, außer Hunde.

Ehrlich gesagt, würde ich mich gerne ablenken lassen - wie die Menschen es tun. Aber ein Hund kann das nicht. Weder über etwas Belangloses reden, noch in ein Buch oder eine Zeitung eintauchen, oder notfalls in den Fernseher. Von wegen - es gibt kein Entkommen. Du lebst hier und jetzt. Aber dein “Jetzt” ist groß und inhaltsschwer. In dem “Jetzt” von Hunden - die überheblichen Menschen ahnen es nicht - steckt Tiefe. Wie soll ich das mit Worten erklären? Tiefe - das ist wie fremde Erinnerung. Plötzlich springt sie auf dich hinter der Ecke hervor - hinter jeder Ecke in dieser tiefen Stadt. Will dich wie eine starke Strömung zu Boden werfen.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch die Straße und wissen plötzlich: Hier hatte gestern zum Beispiel jemand Milch verschüttet. Am Morgen schimpfte die Hausmeisterin, dass ihr jemand absichtlich mehr Arbeit machte.

Hinter der Ecke ist ein Antiquitätenladen. Wenn jemand die Tür aufmacht und hineingeht, was allerdings nicht oft passiert, weht von dort das seltsamste Gemisch der Welt - als hätte jemand die Zeit zerschnippelt, wie Salat. Ganz verschiedene Spuren zusammengemischt.

Und hier wird neulich wieder mit Kaffee gehandelt - Bohnen und feines Pulver aus Nicaragua. Der gemahlene Nicaragua wird manchmal auf dem Asphalt verschüttet, für eine kurze Zeit überlagert dieser Geruch andere, ältere Spuren.

Da drüben, es ist schon lange her, aber die Steine zeichnen alles über uns auf, ist jemand gestorben. Bis heute riecht es nach Lebenswille und Hoffnung, und nach einem ruinierten Sommerabend der 1940er.

Das ist Tiefe.

Ein Hund kann wie auf einer Landkarte pulsierende Stellen und ganze Flecken von Schmerz in dieser Stadt aufzeigen. Die 1940er liegen nicht sehr tief, der Erste Weltkrieg - etwas tiefer.

Denken Sie vielleicht, dass jeder Hund eine Prüfung in Geschichte spielend bestehen würde? Ich könnte mir die Eifersucht der Studenten vorstellen. Aber so einfach ist es nicht, Opfer und Täter kann man nicht mehr unterscheiden - keine Namen, keine ethnische oder sozusagen Klassenzugehörigkeit ablesen. Man muss auf die intensive Karte der Spuren verschwommene Worte der Menschen legen. Sie wie Brotkrümel von seltenen Stadtführern einsammeln, von geschwätzigen Nachbarn, sie aus beliebten Radiosendungen herausfischen, und aus den Geschichtsbüchern, die Mama Olja als Vorbereitung auf den Unterricht Marusja laut vorliest. Eine seltsame Idee - ein Kind mit solchem Lesestoff zu unterhalten. Das Schrecklichste und das Wichtigste lässt Olja aber offenbar aus. Und in den Schulbüchern steht sowieso nicht alles und irgendwie verkehrt. Wir wohnen zum Beispiel in der Nähe von einem schrecklichen Gefängnis, das unser Nachbar Jaroslaw Teodorowytsch “Brygidki” nennt, - und in den Schulbüchern steht kein Wort darüber. Auch nichts über die Lemberger Zitadelle, obwohl auf meinem Stadtplan dieser grüne Hügel ein großer roter Fleck ist. Dort sind wohl hunderttausend Menschen gestorben, vielleicht sogar mehr, mitten in der Stadt. Hat Olja diese Stelle womöglich ausgelassen? Doch die Schulbücher erzählen mehr über ferne Orte...

Ich fange trotzdem Gesprächsfetzen ein, in der Hoffnung, eine volle Geschichte der Stadt zusammenzusetzen. Ich fange sie ein, obwohl es mir manchmal dünkt, dass diese Fetzen von verschiedenen Puzzles stammen - für verschiedene Städte. Und dass es mir nie gelingen wird, daraus eine zusammenhängende Erzählung zu machen. Dasselbe Ereignis nennen manche Nachbarn “Okkupation”, die anderen verwenden das Wort “Befreiung”. Ein Mensch hat sogar den Einmarsch der Sowjets als “Wiedervereinigung der Ukraine” bezeichnet und dabei komisch das “V” gezischt. Na so was. Der Oberst scheint die Vergangenheit auch nicht gut zu kennen, auch wenn er in der Zeit gelebt hat. So wie ich, fängt der Alte etwas aus den Radiowellen ein, wohl irgendwelche Trümmer seiner Schiffe oder Flugzeuge.

Und es gibt noch Spuren, von denen überhaupt niemand spricht, kein einziges Wort...

Denken Sie aber nicht, dass Tiefe nur Leid bedeutet oder etwas so Banales wie verschüttete Milch auf dem Straßenpflaster. Es gibt auch eine Karte der Freude.

Im Park gibt es nicht nur Schlägereien und nächtliche Raubüberfälle, sondern auch alle Dates, Küsse, all die ersten Kinderschritte, auch die von Marusja. Und an der Universität, die ehemals ein Landtag war, gibt es eine ganze Fontäne der Freude. Kinder, die sich hier gefreut haben, sind längst erwachsen. Später schlugen sie sich vielleicht, starben oder töteten sogar jemand in dieser Stadt, aber hier an der Ecke zur Universität war für ewig nur Freude geblieben. Wer hatte sie hier ausgeteilt? Und wie? Vielleicht als Luftballons oder Papierwindräder, vielleicht als Bonbons oder Speiseeis.

Ich mag es, mich an solchen Orten herumzutummeln. Das rettet vor Gedanken über mein Herrchen, über andere Spuren.

Vielleicht habe ich nichts zum Vergleichen, nur das kleine um die Fabrik herum gebaute Städtchen, womöglich nur deswegen scheint es mir, dass Lemberg außergewöhnlich ist. In der Wohnung in der Lepkyj-Straße bin ich wohl der einzige, der dieses Außergewöhnliche spürt.

Nehmen wir zum Beispiel den Oberst. Was weiß er über seinen Wohnort? Er wirft sich ständig vor, das Angebot seines Bruders angenommen zu haben und in einen Altbau eingezogen zu sein. Immerhin hätte er drei (ganze drei!) Zimmer in einem Plattenneubau am Stadtrand bekommen können. Aber der Bruder versicherte ihm, dass man hier wohnen müsse, im Zentrum. Die Mädchen werden heiraten, ihr werdet kaum eure Sachen in der neuen Wohnung auspacken, werdet im Park spazieren wie die Adligen, die alten Kirchen und das Kopfsteinpflaster liebgewinnen. In diesem Viertel werden die Wohnungen nicht an einfache Oberste verteilt, aber der jüngere Bruder war in der Partei bis in die Führungsebene aufgestiegen, konnte alles regeln.

Am Anfang machte sich Iwan nur wegen alter Abflussrohre Sorgen. Sie konnten in jedem Augenblick zu triefen beginnen, wenn die Zeit wirklich etwas heilt, dann sind es nicht die Rohre. Und da noch die seltsamen Nachbarn, dem Oberst so unähnlich: Der Parteiboss Wargin, der hier schon in den Fünfzigern zusammen mit seiner Frau Raissa eingezogen ist, sie, die immer nach Sprotten stinkt und an die Existenz von einigen slawischen Sprachen nicht glaubt; Opa Eugen aus der kleinen Wohnung im Erdgeschoss, der so stark einem ukrainischen Partisanen ähnelt. Nein, nicht einem roten. Und selbstverständlich die echten Herren dieser Stadt - die Tauben.

Später kamen zu den schlechten Abflussrohren, Nachbarn und Tauben noch irgendwelche Ausländer dazu, die nach einer Wohnung suchten, in der angeblich ein weltbekannter Mann aufgewachsen war. Die Ausländer baten aufdringlich, sie in die Wohnung hereinzulassen, der Oberst machte die Tür nicht auf. Bestimmt waren es irgendwelche Gauner...

Ende der Achtziger wimmelten die Lemberger Straßen schon von Menschen. Der Alte regte sich auf, am Stadtrand wäre es ruhiger gewesen. War der Oberst tatsächlich der Meinung, dass die Menschen, die nun mit blau-gelben Flaggen marschierten, besser etwas Nützlicheres machen sollten, oder sagte er es nur, um Opa Eugen und den arroganten Jaroslaw Teodorowytsch zu ärgern? Ich weiß nicht. Aber zu den Wargins hat er wohl nicht dasselbe gesagt. Ich glaube, der Oberst zieht manchmal eine Nummer ab, so wie er es macht, wenn jemand ins Zimmer hereinspaziert - er täuscht vor, mich mit der Faust zu schlagen, in Wirklichkeit tätschelt er mich zärtlich mit seiner Hand. Wie auch immer - der Alte wusste wohl “kraft seines Amtes”, wie man es zu sagen pflegte, wie Revolten in jenem Land enden, wo er sein ganzes Leben gedient hat.

Als die Menschen für die Wiederzulassung der griechisch-katholischen Kirche demonstrierten, ließ der Oberst seine Frau nicht einmal zum Einkaufen hinaus. Ging geschäftig selbst mit einem Einkaufsnetz, stellte sich geduldig in einer Schlange an, worauf er vorher niemals Lust gehabt hatte. Danach verließ die Große Oma immer seltener die Wohnung, als hätte sie es akzeptiert, in einer weiteren fremden Stadt, in die sie ihr Ehemann mitgenommen hatte, fehl am Platz zu sein. Als die Verkäuferin in der Bäckerei plötzlich Russisch vergessen hatte, wurde sie nicht einmal traurig. Sie blieb einfach in ihrem großen Sessel sitzen.

Wieso sollte man denn überhaupt in die Läden gehen? Alle Ersparnisse schmolzen flugs dahin, wie vor fast einem Jahrhundert die Doppeladler in den Händen ihrer Großväter.

Der Oberst weint dem Geld nicht wirklich hinterher, er sagt, er wüsste schon immer, dass alles schlimm enden würde. Zwieback, Mehl und Streichhölzer - das seien die wahren ewigen Werte. Und die Erde noch, ja, sicher, die Erde. Ein Glücksfall, dass der Oberst noch rechtzeitig eine winzige Parzelle auswärts zugeteilt bekommen und sie günstig, fast ohne Zuzahlung gegen eine gemütliche Datscha in Samarstyniw eintauschen konnte - ein wunderlicher Kauz wollte sein Grundstück um jeden Preis loswerden.

Nun hat sich das politische Leben beruhigt. Hat man etwa alle besiegt, alles erkämpft? Nur die alten Rohre und die ewigen Tauben sind nirgendwohin verschwunden, und der Alte hat sich daran gewöhnt, über die Stadt zu nörgeln.

Allerdings waren die neuen Nachbarn in den Neunzigern wieder die “falschen”. In die Wohnung der Krasnows, die sich nach Russland abgesetzt hatten, zog irgendein Geschäftsmann ein, in die Wohnung der Künstlerin, die nach Polen emigriert war, - arrogante Dozenten von der Universität, zweifellos korrumpiert. Nur die verhasste Wargina war allein in ihrer großen Wohnung geblieben. In ihren Briefkasten wurden noch lange Zeitungen hineingeworfen, die ihr Mann abonniert hatte. Dazu fing die Tochter der neuen Nachbarn von oben an, Klavier spielen zu lernen. Es wäre nicht weiter schlimm, ist ja schließlich kein Verbrechen. Aber halt null Talent. Bei offenen Fenstern hört man Flohwalzer und Militärmärsche. Am schlimmsten ist es, wenn das Mädchen Beethovens Neunte zu spielen versucht. Die “Ode an die Freude” will der Möchtegernmusikerin einfach nicht gelingen - je weiter sie spielt, umso mehr ähnelt das Stück einem gewöhnlichen Militärmarsch.

Kurzum interessiert Lemberg den Oberst höchstens als eine Stadt, über die man ewig klagen kann.

Mama Olja klagt dagegen nicht über Lemberg. Sie klagt überhaupt über nichts. Ob sie etwas um sich herum sieht? Schwer zu sagen. Die ganze Zeit, die ich sie beobachte, ist sie vor allem Mutter. Bemüht sich, alles für zwei zu sehen - für sich und für die Tochter. Vielleicht deshalb scheint ihr die Welt geordnet und schön zu sein, vielleicht erfindet sie aber diese Welt für Marusja. Sie blickt auf die Stadt irgendwie so, wie ihrer Meinung nach das kleine Mädchen blicken würde, die einzige waschechte Lembergerin in der ganzen Familie, hier in Lemberg geboren.

Mama Olja registriert jedes Detail an den Fassaden der Häuser, genauso wie Kinder Blumen im Gras erkennen. Hier ein rundes Fenster, hier eine Volute und da muskulöse Atlanten am Haus des Wissenschaftlers - der eine hat uns schon seinen Rücken zugekehrt, der andere sieht uns gerade an. Es scheint, als würde man dort mitten in einem Ball landen, wenn man hineinspaziert.

-  Gehen wir auch zum Ball? - fragt sofort die Tochter nach.

-  Wenn du erwachsen bist, - windet sich Mama Olja heraus.

Da ist der geflügelte venezianische Löwe, hier ein Hund an der Mauer der Dominikanerkirche.

- Sieht wie unser Hund aus, - sagt Olja, was selbstverständlich auch erfunden ist.

Mama Olja bemerkt keine ausgefahrenen Straßen, keine frische Spucke und Kippen, keine zertrümmerten Bänke im Park, keine Ratten im Hinterhof. Sie sieht Blumen, die aus den Rissen im Asphalt sprießen, nicht die Risse selbst. So wird sich ihre Tochter das wahre Lemberg nie vorstellen können. Die Kleine mag aber wirklich Risse, Löcher und schiefe Bordsteine - Marusja studiert sie, zählt und prägt sich ein wie Löcher in den Tapeten, wie Wunden im Fensterrahmen, wie die Schramme im Opas Gesicht. All diese Mängel und Unebenheiten bilden Marusjas Welt.

Tamara nervt es genau wie mich, wie Olja die Stadt idealisiert. Sie schnaubt verärgert, schweigt aber auch.

Tamaras Ablehnung von Lemberg ist wie eine Naturerscheinung, sie versucht das nicht sich selbst oder den anderen zu erklären. Manchmal sagt sie beiläufig:

- Ich habe eine Allergie gegen diese Stadt - und presst wie gewohnt ihre aufgesprungenen Lippen zu einer geraden Schnur zusammen, wie bei einer Militärformation. Klar, dass diese Allergie Tamara nicht besonders stört. - Ich habe ja mich hier nicht aufgezwungen, sagt sie.

Tamara meint damit wohl nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit - sie hat sich ihr auch nicht aufgezwungen. Verglichen mit dem, was ich in der Tiefe lese, lebt man heute doch nicht in der schlechtesten Zeit. Aber Tamara lehnt es mit ihrer ganzen Sturheit ab, in dem ihr dargebotenen Zeit-Raum zu leben. Sie sucht Arbeit und telefoniert Anzeigen in den alten Zeitungen ab. Von einer Firma ging sie weg, weil der Arbeitgeber sich erdreistet hatte, die Woche, in der sie grippekrank war, von ihrem Lohn abzuziehen. In der anderen wurde sie gefeuert, weil sie die schmierigen Witze ihres Vorgesetzten nicht dulden wollte und sie mit einem unpassenden Scherz beantwortete. Der Oberst schlug vor, die Tochter bei einer Militäreinheit unterzubringen, aber dort wurde der Sold nur unregelmäßig ausgezahlt und selbst dann in Lebensmittelpaketen. Umsonst zu arbeiten schwebte Tamara aber nicht vor. Ich war böse mit ihr, weil ich dachte, in dieses “Paket” hätte sich mal auch eine Fleischdose verlieren können...

Von der ganzen Familie interessiert Lemberg Mascha am wenigsten. Oder eher anders: Mascha - wie auch ihre Mutter - interessiert in der Gegenwart so gut wie gar nichts, und Lemberg... Mascha hasst einfach diese Stadt. Dafür, dass sie zu ihrem Haus werden will. Sich mit Straßenbahngeklingel, neuen Freunden und Parks aufdrängt, die für Dates, auf die sich Mascha mit “Einheimischen” nicht einlassen will, wie geschaffen sind. Irgendwas stimmt nicht mit Mascha, aber ich kann nicht verstehen, was.

Nach der Scheidung von meinem Herrchen heiratete ihre Mutter zum zweiten Mal - irgendeinen Major. Sie folgte ihm, wie die Große Oma dem Oberst, aber nicht nach Transbajkalien oder Karelien. Sie fuhren gleich nach Schwerin, anschließend für eine kurze Zeit nach Kursk, und dann wieder nach Deutschland, in dasselbe Städtchen. In den Ferien kam Mascha nach Lemberg, manchmal nach Donezk, wo die Angehörigen ihres Stiefvaters in der letzten Etage eines neunstöckigen Hochhauses in der Nähe des Flughafens lebten. Aber Lemberg, Donezk, Kursk - das alles passte ihr nicht. Nur Leningrad konnte es mit Schwerin aufnehmen, dort weilte Mascha zwei Wochen lang bei den Angehörigen des Majors. Ihre richtig glückliche Kindheit ließ sie jedoch im westlichsten Eck der sozialistischen Welt zurück.

-  Ich bin in Deutschland aufgewachsen, - sagt sie immer.

Zum ersten Mal wurde der Stiefvater zum Dienst nach Schwerin abkommandiert, als Mascha fünf war. Klar, die Mutter sagte dem Mädchen, dass sie nur vorübergehend in einer deutschen Stadt leben, und dass es eine Dienstreise sei, und nicht ein neuer Wohnort. Dass die kleinen schönen Häuser und das Rathaus auf dem Markt, das Speiseeis in verschiedenen Farben, der Wanderzirkus, kristallklare Seen und das herzogliche Schloss ihnen, den Ankömmlingen aus der UdSSR nicht gehören. Alles gehörte den Deutschen. Und sie, die Familien sowjetischer Soldaten, seien nur “zu Gast” in Schwerin. Und die Wände im Haus seien genauso wie in Kursk fremd, selbst wenn man sie gerne als ihre eigenen betrachten möchte. Aber am Ende der fünfjährigen Dienstzeit schien auch Tamara vergessen zu haben, dass dieses schöne Leben nicht ihres ist. Und Mascha verliebte sich wohl einfach. In das Schweriner Schloss und in einen Jungen - schwer zu sagen, welches Gefühl stärker war.

In Deutschland wohnte Mascha in einer ruhigen Straße namens Buchholzallee. Mascha war der Meinung, dass dieser Name für eine Allee von Buchen stand. Und tatsächlich wuchsen dort Buchen, Maschas Hände riechen heute noch nach Buchenrinde. Allerdings interessierte sich niemand außer Mascha, was dieser komische deutsche Name “Buchholz” bedeutete. Die Soldaten sprachen es “Butscholz” aus - die meisten hatten Englisch in der Schule, konnten es aber kaum. Die Offiziere behaupteten, dass “Buchholz” vom Modewort “buchatj” käme, also Wodka aus den groben kantigen Gläsern trinken, die in der Bucharin-Fabrik hergestellt wurden.

Der Stiefvater trank damals noch kaum, allenfalls in Gesellschaft. Er hatte einen verantwortungsvollen Job, etwas mit Raketenanlagen, also roch er wahrscheinlich dementsprechend nach Schmiere, Diesel und Raketentreibstoff. Vielleicht mochte ihn Mascha wegen dieser Gerüche nicht. Vielleicht trauerte sie wie ich meinem Herrchen nach.

Der Major nannte sie “Prinzessin”, aber vergeblich - ihre Liebe konnte er nicht gewinnen. Ließ das Mädchen nur daran glauben, dass sie eine echte Prinzessin ist. Da war ja auch ein Schloss. Nur ein paar Mark für den Eintritt, für Prinzessinnen gar umsonst - und man konnte schon die breite Treppe zum Thronsaal der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin hochsteigen. Einmal kletterte Mascha auf einen alten Sessel mit goldenen Lehnen, als die deutsche Museumswärterin gerade wegging. Auf dem Foto - Mascha auf dem Thron, in einem Paillettenkleid. Eine kleine sowjetische Prinzessin in einem deutschen Schloss. Nun will sie malen lernen, wahrscheinlich nur um ihr Deutschland zu malen.

- Eines Tages kehre ich dorthin zurück, ihr werdet sehen. Romka ist ja immer noch da, - sagt Mascha, und alle im Zimmer tauschen die Blicke.

Romka ist wohl eben dieser Junge. Der Sohn eines Generals und der Schwester ihres Stiefvaters.

- Wer lässt dich denn in die DDR hinein? - fragt Tamara. Sie verwendet für Deutschland immer noch dieses nicht mehr existierende Buchstabenkürzel. - Schluss, man hat uns ausgeladen. Nur dein Generalssohn sitzt noch mit seinem Vater da. General Lissizki hat schon wohl halb Deutschland in Containern heim nach Leningrad geschickt. Bloß unser Versager und seine Schwester sitzen nun in Donezk... Weiß du, dass Lissizkis sich scheiden lassen? Romka ist mit dem Vater allein in Deutschland. Soll Abitur machen. Von seiner Mutter will er nichts mehr wissen. Wenn du mich fragst, würde ich mich mit dieser Familie nicht mehr einlassen.

Aber Mascha fragt niemanden. Zwischen Deutschland und Leningrad existiert gar nichts für sie. Mascha sieht Lemberg überhaupt nicht.

Marusja hat als einzige ein inniges Verhältnis zu der Stadt. Eine solche Beziehung entsteht, wenn du in der Stadt geboren bist oder wenn jemand, der dir sehr nahe stand, hier gestorben ist. Aber warum nur Marusja? - ihre zweite Oma, die Mutter ihres Vaters, wurde in Lemberg geboren. Vielleicht liegt es doch nicht daran? Man kann es nicht riechen, wer, wo und als was geboren wurde - Spuren hinterlässt allein das Leben.

Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot