Reisebericht

Zurück in die Ukraine

Eine Reise gegen den Krieg

26.04.–08.05.2023
UKRAINE

Mit dem diesjährigen ukrainisch-deutschen Schriftsteller:innen­treffen wollen wir wieder in die Ukraine zurückkehren. Diesmal nach Uschhorod, Hauptstadt Transkarpatiens am südwestlichen Rand der Ukraine, in unmittelbarer Nähe zur slowakischen Grenze. Verena Nolte erforschte auf einer 12-tägigen Reise in die Westukraine die Lage der Menschen vor Ort und die Möglichkeiten, sich trotz des Krieges zu treffen. Wir möchten diese Reise dokumentieren und Einblicke festhalten.

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Tag 1 — Anreise:
München → Wien
Košice → Uschhorod

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Aus München reise ich zunächst mit dem Flugzeug an. Über Wien nach Košice in der Slowakei. Sie haben den Euro, wie wir. Ich finde ein Taxi, das mich für 20 Euro zum Busbahnhof in Košice fährt. So hat Natalija es mir empfohlen. Zwei junge Mädchen, die ein bisschen Englisch können, zeigen mir den Weg zur Auskunft. Eine sehr freundliche Dame, die gutes Englisch spricht, stellt mir ein Ticket nach Uschhorod aus. 10 Euro.

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Am Busbahnhof in Košice.

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Am Bussteig 2 wartet der Bus schon. Es gibt nur wenige Passagiere, während sich an den anderen Bussteigen lange Schlangen bilden. Eine junge, gewandte Busbegleiterin, nimmt mich auf.

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Fahrt im Bus nach Uschhorod. Die Scheiben im Bus sind mit getönter Folie verklebt, deshalb bekommen die Fotos einen rosa Stich. 

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Ich bin die einzige westliche Ausländerin. Es gibt guten Kaffee.

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Wir fahren durch eine Landschaft, in der gerade der Raps blüht. Es könnte auch in Bayern sein, nur die Häuser sind anders.

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Bald schon verlassen wir die Slowakei.

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Ankunft in der Ukraine, am Zoll. Die Pässe werden eingesammelt. Die Kontrolle dauert nur 45 Minuten. Wir können im Bus sitzen bleiben. Auf der Gegenseite eine schier endlose Schlange von Lastwagen, die die Ukraine verlassen wollen. Es gibt nur noch wenig Übergänge, die für sie funktionieren.

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Wegweiser nach Kyjiw. Ich  war zuletzt 2021 dort.

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Angekommen in Uschhorod. Der Fluss Usch, der Uschhorod den Namen gab.

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Wir überqueren den Fluss. Natalija erwartet mich. Wir sind beide etwas ungläubig, dass ich es geschafft habe, umarmen uns. Natalija Schymon gehört seit 2016 zum Team von „Eine Brücke aus Papier“. Ohne sie ginge es nicht. Sie ist auf dieser Reise meine Gondoliera.

Tag 2 bis 7
Eindrücke aus Uschhorod

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Durch Uschhorod fließt der Usch, hier mit Blick auf die längste Lindenallee Europas. Unter diesen Linden, die frisch ergrünt sind, gehen wir täglich, denn hier kannst Du alles zu Fuß machen, wohin Du auch gehen magst.

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Kirschblüte und Lindenallee entlang des Usch.

Die Sakura, japanische Kirsche, duftet nur nachts, sagte man mir. Ich habe das Glück, genau zur Blüte zu kommen, denn Uschhorod ist voller Sakuras. Am Wochenende kamen viele Menschen und ließen sich unter den Blüten fotografieren. Der Krieg scheint dann völlig vergessen.

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Wären nicht die Graffiti und Plakate am Straßenrand, könnte man glauben, es gäbe ihn nicht.

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Doch nachts werde ich zweimal Fliegeralarm erleben. Mir wurde gesagt, in Uschhorod ginge niemand in die Luftschutzkeller, die Stadt sei sicher, so weit im Westen und an der slowakischen Grenze liegend, der EU-Grenze. Also rührte ich mich nicht und schlief wieder ein. An den Morgen nach den Fliegeralarmen erfahren wir jedoch, in welchen, meist ostukrainischen, Gebieten die Raketen einschlugen, wo Menschen, fast immer Zivilisten, getötet wurden. Aber auch wie viele Raketen durch die neuen Verteidigungswaffen der Ukraine abgewehrt werden konnten.

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In den Gesprächen mit den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die ich hier treffe, ist der Krieg beständiges Thema. So auch bei Marjana Prochasko, in Uschhorod lebende Schriftstellerin und Kinderbuchillustratorin, die ich im Bäckereicafé Labortsya 2, ganz in der Nähe meines Hotels, treffe. Marjana hat lange in Iwano-Frankiwsk gelebt und fühlt sich an ihrem Geburtsort Uschhorod, in den sie vor fünf Jahren zurückkehrte, immer noch etwas fremd. Sie lebe ziemlich eremitisch, sagt sie, kennt sich aber bestens aus. Sie berichtet uns von dem abgesonderten Viertel der Roma am Stadtrand, das sie gerade besucht hat.

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Marjana hat mir das Buch „State of War“, von dem Andrij Ljubka schon erzählte, mitgebracht. In dieser sind aufwühlende Texte zum Krieg von ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern versammelt, auch von einigen, die an der Front im Einsatz sind. Marjana hat hierfür die Geschichte „Versions of Silence“ geschrieben. Das Vorwort ist von General Walerij Saluschnyj, Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine. Er bedankt sich bei den Autorinnen und Autoren der Anthologie, dass sie die Kulturfront hochhalten. Das hätten wir uns nie vorstellen können: Eine Literaturanthologie, eingeführt von einem General! 

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Marjana ist auch als Illustratorin und Mitautorin der Kinderbücher von Taras Prochasko bekannt. Nächste Woche wird ihr erster Gedichtband „Primitivo“ - Gedichte und Fotos - im Verlag Alter Löwe in Lwiw erscheinen. Sie fürchtet sich davor. Dass sie eine Dichterin ist, hat sie noch nicht verinnerlicht. Sie verspricht mir, das PDF der drei Kinderbücher von Taras und ihr zu schicken.

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Kaffeerösterei Riverside

Ich kenne die meisten Namen der Anthologie „State of War“ aus unseren Treffen von „Eine Brücke aus Papier“ oder weil sie inzwischen zu unserer Lektüre gehören. Andrij Ljubka, auch er ein in Uschhorod lebender Schriftsteller und schon über ein Jahr lang als Freiwilliger Helfer engagiert, trafen wir gleich an meinem zweiten Tag im Café Folks. Er hat die Anthologie mit Evgenia Lopata zusammen kuratiert und erzählte uns, wie sie es geschafft haben, das Buch zusammenzustellen. Es ist schließlich eine Zeit, in der fast allen das Schreiben schwer fällt. Andrijs Zeit für unsere Begegnung reichte nur auf einen Espresso und nicht mehr für ein Foto. Er musste plötzlich los, einen Krankenwagen abholen, den er dorthin fährt, wo er gebraucht wird. In der Anthologie ist seine Story „Roasted Uganda“ abgedruckt, die ich schon in der taz auf Deutsch gelesen hatte. Sie erzählt von der Beglückung der Frontsoldaten über den von ihm mitgebrachten frisch gerösteten Kaffee. Er hatte eine Kilopackung in einem hippen Café in Uschhorod gekauft, wie eines, in dem wir auch Kaffee tranken.

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Natalija hat für mich gleich am zweiten Tag eine Stadtführung mit dem jungen Historiker Pavlo Khudish organisiert. Er kennt sich nicht nur bestens aus in seiner Stadt, beginnend bei der Tiefe ihrer Geschichte in der Kijiwer Rus, er spricht obendrein auch noch hervorragend Englisch. Wir treffen uns im sogenannten tschechischen Viertel vor dem Gebäude der Bezirksverwaltung.

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Restaurierte Masaryk-Schule in Uschhorod     

Das gesamte Viertel sei hier aus dem Nichts entstanden, sagt Pavlo, als Transkarpatien nach dem Ersten Weltkrieg der neu gegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen wurde. Für Uschhorod offenbar eine fruchtbare Zeit, in der die Stadt Ungvar aus der Jahrhunderte lang bis in die Habsburger Zeit anhaltenden ungarischen Herrschaft nun als Uschhorod, Hauptstadt der Karpatoukraine, wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung erfuhr. Tomáš Masaryk, der erste Präsident der Tschechoslowakei, wird bis heute hier verehrt.

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Masaryk-Denkmal, auch eine Brücke ist nach ihm benannt

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Pavlo führt uns durch die in Masaryks Zeit entstandene Architektur entlang des Usch und hat ein besonderes Auge auf die jüdische Geschichte der Stadt. Er weiß genau, wem die Häuser einst gehörten, wo welcher Rabbi, welche jüdische Familie wohnte, fast überall, wo wir anhalten, erzählt er eine Geschichte. Fast immer traurig sind die Geschichten, erzählen von Deportation, Vertreibung, Auswanderung, von „Russophilen“ und „Ukrainophilen“, und immer wieder von Krieg. Am rechten Ufer des Usch ragt die einstige chassidische Synagoge, jetzt Philharmonie, aus rotem und gelbem Backstein hervor. Sie lässt ahnen wie lebendig das jüdische Leben hier vor der mörderischen Invasion der deutschen Nationalsozialisten gewesen ist.

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Auf dem Weg hinauf zum Schloss, sehen wir die Sandsäcke, die die Fenster des Schutzkellers einer Schule verbarrikadieren.

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Zwei Tage später führt uns ein anderer Pavlo, Pavlo Leno, Ethnologe aus der Universität, in die Schule hinein, um uns bei der Renovierung freigelegte Inschriften der früheren hebräischen Mädchenschule zu zeigen.

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  Wir steigen weiter hoch zum Schloss, zur alten Burg aus dem 9. bis 12. Jahrhundert 

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und zur griechisch-katholischen Kathedrale unterhalb der Burg, zu deren Füßen uns Pavlo das Bild gewordene Aufeinandertreffen der Zeitalter im Straßenpflaster zeigt.

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Das habsburgische geht über in das tschechische Straßenpflaster

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Pavlo vor der Fußgängerbrücke über den Usch

Unten am Fluss nehmen wir Abschied von Pavlo und hoffen, er wird demnächst „Eine Brücke aus Papier“ durch seine Stadt führen.

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Am folgenden Tag, dem Freitag, kommen wir mit der Kunst und Künstlern in Uschhorod in sehr unterschiedlicher Weise in Berührung. Wir steigen die Straße zur Ilko Galerie hinauf und werden dort freundlichst empfangen. Die Galerie ist dem Maler Ivan Ilko, *1938, gewidmet, transkarpatischen Malschule. Gute Malerei, Landschaft und Brauchtum als Motive, erinnert an die frühe Gabriele Münter. Die Galerie ist im Familienbesitz und wird von seinem Sohn Mychajlo Ilko, Architekt und Mediendesigner, geführt. Zurzeit ist die Galerie geschlossen, umständehalber, sagt Mychajlo. Aber für das Treffen von „Eine Brücke aus Papier“ wäre der Ort ideal. Und wir wären willkommen.

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Unterhalb der Galerie gibt es auch ein Hotel, in dem wir unterkommen könnten, etwas weiter unten das Restaurant Grant. Wir essen eine Kleinigkeit auf der Terrasse. Es schmeckt ausgezeichnet. Das Publikum an diesem Mittag sieht nach neureicher Mafia aus. Wir sind nahe der slowakischen Grenze, erklärt Natalija amüsiert. Schmuggleratmosphäre.

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Nach dem Essen besuchen wir den Maler, Zeichner und Installationskünstler Olexa Mann in seinem turmartigen Atelier, einem ausgebauten Dachboden in einem dieser wunderbaren tschechischen Häuser am Fluss. Wahrscheinlich hat ihn die Liebe nach Uschhorod gelockt. Er kommt aus der Gegend von Dnipro, lebt aber schon länger hier.

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Die Bilder, die wir bei ihm sehen, stammen fast alle aus seiner „schwarzen Periode“. Sie beeindrucken als Vorahnung des Krieges. Entstanden sind sie aus seiner Erfahrung des Euromaidan. Olexa schenkt mir seinen Katalog „Black Period“, in dem ich später das Bild wiederfinde, das im Atelier stand, das schwarze Gemälde im Hochformat, „Monument of Andreas Baader“. Ein ukrainischer Künstler, der vor deutscher Geschichte der Nachkriegszeit nicht zurückschreckt! Ich muss ihn fragen, wie es dazu kam.

Im Atelier jedoch führt uns das Gespräch nach Bayern. Olexa war 2022 Gast in der Künstlerresidenz Schafhof bei Freising. Er hat dort ausgestellt, jetzt spricht er über Kunst und den Krieg, zu dem seine Freunde einberufen wurden. Die Bedrohung durch ihn ist in seinen Bildern gegenwärtig.

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Olexa Mann und Natalija Schymon im Café, wo ständig Bekannte vorbeikommen

Den Kaffee, nach dem uns verlangt, nehmen wir nicht in seiner Wohnung unter dem Atelier. Olexa erklärt uns, dass das Kind seiner Verwandten, die nach Uschhorod geflohen sind, gerade schläft. Wir gehen die sechs Etagen wieder hinunter in die Straße, im Café an der Ecke gibt es guten Kaffee.

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Samstagabend treffen wir den Schriftsteller Bandy Scholtes in der Café Bar Olivier. Bandy (Andrii) Scholtes ist ungarischer Abstammung. Er schreibt Prosa, hat vier Prosabände veröffentlicht. Sein Vater ist ein naturalistischer Maler transkarpatischer Schule. Wir haben Bilder von ihm im Restaurant Під замком/Am Schloss gesehen. Bandy schreibt überraschenderweise auf Russisch, könnte aber auch auf Ukrainisch schreiben. Als die erweiterte Invasion begann, schrieb er gerade an einer Sammlung aus wahren Geschichten, erzählt er. Er versucht, weiter zu schreiben. Will das Buch vollenden und es dann selbst ins Ukrainische übersetzen. Sein bestes Buch sei МЕНЯ НЕТ ДОМА/ ICH BIN NICHT ZU HAUSE. Wir finden es später in Buchhandlung. Ich hoffe, wir können bewirken, dass es ins Deutsche übersetzt wird.

Es erzählt von einer Reise durch Mitteleuropa, ein kleines Dorf bei Passau, dann Bad Homburg, Dresden und Prag. Es wurde ins Ukrainische übersetzt, aber er ist unzufrieden mit der Übersetzung. Auch der Titel wurde etwas geändert: НЕВДЯЧНА СВИНЯ, АБО МЕНЕ НЕМАЄ ВДОМА, also UNDANKBARES SCHWEIN ODER ICH BIN NICHT ZU HAUSE.

Bandy hat eine ungewöhnliche Herkunftsgeschichte, die ihm offenbar zusetzt. Er würde gerne seine Familiengeschichte schreiben, hält es aber für verfrüht. Er spricht Ungarisch und Slowakisch. Ein wirklicher Mitteleuropäer. Unschlagbarer Humor. In der Bar Olivier trinkt Bandy Bier aus Glaskrügen wie in Bayern, während Natalija für uns Wein aus Odessa bestellt hat, der nicht nach Wein schmeckt und auch nicht törnt. Aber Bandy törnt.

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Am Sonntag treffen wir Bandy noch einmal auf dem Schlossberg. Wir lachen, weil wir beide rote Schuhe anhaben und nutzen die Gelegenheit uns zu fotografieren.

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Tags darauf schickt Bandy mir einen Artikel, von dem er uns erzählt hat. Es ist sein Beitrag zu dem Projekt „Killer von Stereotypen“, in dem Romanciers und Dichter stereotype Ansichten über ukrainische Regionen entlarven (oder bestätigen).

Wir hatten über das unbekannte Transkarpatien gesprochen, unbekannt bei uns in Deutschland, aber auch in der Ukraine kursieren offenbar viele falsche Bilder. Jetzt im Krieg gilt Transkarpatien als die sicherste Region, deshalb steigen die Mieten.

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Obwohl Sonntag ist, sind wir mit dem Schriftsteller Oleksandr Hawrosch in seinem Büro im Drama  Theater von Uschhorod verabredet. Das Theater wurde Mitte der Achtziger Jahre entworfen und noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion fertiggestellt. Es steht am linken Ufer des Usch und wurde laut Aussage eines Uschhoroders wegen seiner Globigkeit von der Bevölkerung Vierter Block (in Anlehnung an die Blöcke von Tschernobyl) getauft.

Oleksandr Hawrosch ist Dramatiker, Lyriker, Prosaschriftsteller, Kinderbuchautor und Journalist. Er hat für das gerettete Ensemble des zerstörten Mariupol Theaters ein Stück geschrieben, „Mariupola Drama“. Für „Eine Brücke aus Papier“ in Uschhorod würde er es auf den Spielplan setzen. In dem Stück erzählen die Schauspieler, was sie bei der Zerstörung ihres Theaters, in dem Mütter und Kinder Zuflucht gesucht hatten, erlebt haben. Natalija und ich sind mit „Eine Brücke aus Papier“ in Mariupol gewesen. Oleksandr bedauert, dass er die Stadt am Asowschen Meer vor ihrer Zerstörung nicht erlebt hat.

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Oleksandr hat auch ein Stück über die Roma Transkarpatiens geschrieben, eines seiner Themen, denn hier, sagt er, lebt die größte Roma-Gemeinde der Ukraine. Er fragt mich, ob ich die Erzählung „Bauern von Hruschowo“ von Anna Seghers kenne. Sie handle von Transkarpatien. Ich muss meine Unkenntnis gestehen. Will es zurück in Deutschland gleich ändern. Wir gehen für ein Fotoshooting nach draußen, er unter einer Sakura mit seinem Theater im Hintergrund. Oleksandr zaubert einen Apfel aus der Tasche. Ganz Theatermensch.

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Der erste Mai, der Montag, ist kein Feiertag hier. Die Feiertage wurden wegen des Krieges abgeschafft. So können wir Pavlo Leno und Nadia Keretsman an ihrer Fakultät in der Universität besuchen. In der Nacht hatte es Fliegeralarm gegeben. Alle fragen mich besorgt, ob ich Angst gehabt hätte. Hatte ich nicht. Nadia und Pavlo zeigen uns die Räumlichkeiten der Universität. Große Räume für große Versammlungen. Sie sind offenbar frisch renoviert und neu möbliert worden.

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Wir erfahren viel über ihren Forschungsgegenstand, ihre archäologischen Funde und ethnologischen Studien zu Transkarpatien. Überhaupt zu Kulturlandschaften in Grenzgebieten. Mir wird klar, wie viel ich aufzuholen habe. Transkarpatien, Zakarpattia, Uschhorod. Wir sitzen noch in Pavlos Büro, aus seinem Schreibtisch holt er schwungvoll einen selbstgebrannten Likör hervor, den wir aus farbigen Gläsern trinken. Er schmeckt gut, mitteleuropäisch.

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Pavlo begleitet uns durch die Stadt bis hinauf zum Schloss. Das Ziel ist allerdings diesmal das „Museum der Volksarchitektur und des Lebens in Transkarpatien“, ein Freilichtmuseum, das direkt im Park neben dem Schloss eingerichtet wurde. Pavlo stellt uns seinem Direktor Vasyl Kotsan vor, der uns durch die Anlage führt. Wir ahnen, welche Mühen es gemacht haben muss, die Häuser, alles Originale, zu finden und hierherzubringen. Sogar eine der typischen Holzkirchen haben sie hierher geholt. Sonntags werden in ihr Gottesdienste gefeiert. Auch Hochzeiten und Taufen. Iryna, Natalijas Schwester, hat hier geheiratet.

Vasyl bringt uns alles nahe, die Bauernhäuser, arm und reich, die Gärten, die Produktionsweisen, das Heumachen. Er zeigt uns die Tiere, Ziegen, Schafe, Kühe und viele Hühner. An diesem sonnigen ersten Maitag sieht alles wie verzaubert aus. Es macht Lust, ins heutige Transkarpatien zu reisen und zu sehen, was davon blieb.

Wir essen folglich transkarpatisch im Restaurant „Am Schloss“, das wir schon kennen. Ich wähle köstlichen Maisbrei, eine Art Polenta, mit Brynza, typischer Käse, dazu lokaler Wein, sie sind eine Weinlandschaft, nicht zu vergessen. Pavlo Khudish hat uns von 400 Meter tiefen Weinkellern unterhalb des Schlosses erzählt.

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Wir gehen hinunter zum Fluss, am Platz hinter dem Puppenthetaer beobachten wir eine Essensausgabe an Geflüchtete. Zwar habe der Flüchtlingsstrom in Uschhorod nachgelassen, haben wir erfahren, aber im letzten Jahr hatte sich die Bevölkerungszahl zeitweise um 50.000 erhöht. Normalerweise hat die Stadt ca. 118.000 Einwohner. In meinem Hotel kommen jedoch immer noch Familien mit ihren Kindern an, die wahrscheinlich weiterziehen werden.

Als wir vor ein paar Tagen den Innenraum des Puppentheaters besichtigten, waren dort zwitschernde und lachende Kinder versammelt, aufgeregt die Aufführung erwartend.

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Vor dem Puppentheater, an das wir für eine Lange Lesenacht für „Eine Brücke aus Papier“ denken, blühen zwei der schönsten Sakuras der Stadt.

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Siebter und letzter Tag in Uschhorod. Dienstag. Ein sonniger Frühlingstag soll es werden. In einem Weinlokal unterhalb der Kathedrale sind wir nachmittags mit Dmytro Tuzhanskyi verabredet, engagierter Politikwissenschaftler, der 2019 zusammen mit dem Schriftsteller Andrij Ljubka eine NGO begründete, die sich den Namen „Institut für mitteleuropäische Strategie“ gab. Sie organisiert öffentliche Debatten mit namhaften Intellektuellen und Wirtschaftsfachleuten, nicht nur in Uschhorod und Transkarpatien, sondern auch in Czernowitz und Odessa. Drei Städte mit der Gemeinsamkeit, am Rand der Ukraine zu liegen und eine entsprechend komplexe Geschichte zu haben.

Die Gründung ihrer NGO wurde zuerst von der Pandemie überrascht, dann von der „full-scale invasion“, dem erweiterten Krieg. Ihr wichtigstes Projekt „Re:Open Zakarpattia“, das die Region Transkarpatien mit ihrem wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungspotential in den Mittelpunkt stellt, haben sie mit Erfolg gestartet und führen es weiter. Ihre Zuversicht macht auch mir Mut.

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Zum Abschluss sind wir in der Pizzeria neben der Buchhandlung mit dem Dichterpaar Oleh Kozarew und Julia Stakhivska verbredet. Oleh kenne ich schon aus unseren Schriftstellertreffen. Er stammt aus Charkiw. Julia lerne ich jetzt erst kennen. Mit Yasya, ihrer kleinen Tochter, kommen sie gerade aus Butscha zurück, aus dem sie vor einem Jahr geflohen waren. In ihrer Wohnung hatten Russen gehaust. Auch wenn sie rechtzeitig entkamen, erschüttert sie das Schicksal der Ermordeten und Gefolterten ihrer Stadt, als wären sie dabei gewesen. Die Wohnung haben sie inzwischen wieder hergerichtet. Oleh hat in der Anthologie „State of War“ einen ergreifenden Text über den Versuch, zur Normalität zurückzukehren, verfasst. Er sieht die Wohnung trotz der zurückbleibenden Erinnerung an die Verwüstung weiter als sein Zuhause an. Julia ist unentschieden. Sie will noch überlegen. Wir sprechen über das Schreiben, ihre Gedichte, wie Schreiben jetzt möglich ist. Sie sind zuversichtlich, trotz ihrer offensichtlichen Traurigkeit. Und sie halten zusammen.

Tag 8 — Weiterreise:
Uschhorod → Lwiw

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Am 8. Tag verlasse ich Uschhorod, begleitet von Natalija. Wir nehmen den Zug nach Lwiw, der das unvorstellbare Endziel Charkiw hat. In Friedenszeiten kann man Tage und Nächte mit dem Zug durch die Ukraine fahren. Aber jetzt ist Krieg, doch die Züge fahren weiter. Am Bahnsteig in Uschhorod stehen viele Menschen, Familien mit Kindern, die mitreisen wollen.Wir fahren Lux-Klasse. Das Abteil erinnert mich an die Zugreisen nach Mariupol.

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Die Zugbegleiterin serviert uns Tee. Auf dem Zuckerpäckchen steht „Mit dem Zug zum Sieg“. Zunächst fährt der Zug Richtung Süden an die ungarische Grenze nach Chop, dann weiter ostwärts nach Mukachevo und schließlich hinauf auf die Karpaten und hinunter nach Galizien. Vom Zug aus können wir sehen, dass an den Brücken und Stellwerken Soldaten mit Gewehren stehen und die empfindlichen Stellen der Verbindungswege bewachen.

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Schon fast in Stryi, lesen wir die Meldung, dass der Zug Lwiw-Cherson kurz vor Cherson angegriffen wurde und mehrere Waggons Feuer gefangen hatten. Wir hingegen kommen unbeschadet in Lwiw an.

Tag 9:
Lwiw

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LWIW
Temperatursturz bei der Ankunft. Südlich der Karpaten war es deutlich wärmer. Lwiw, das alte Lemberg, scheint jedoch auf den ersten Blick wie immer zu sein. Hier hatten wir vor acht Jahren „Eine Brücke aus Papier“ gegründet, aus Protest gegen den Krieg, gegen die Annexion der Krim und um den Zusammenhalt zu üben. Jetzt ist es wie ein Heimkommen für mich. Vom Hotel über den maigrünen Iwan Franko Park hinweg, sehe ich die Stadt liegen, als sei nichts geschehen.

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Dabei weiß ich, wie viel Veränderung Lwiw seit dem 24. Februar 2022 erlebt hat. Die Stadt hatte unvorstellbare Flüchtlingsmassen zu bewältigen, ständige Flugalarme, auch Raketeneinschläge, versuchte Zerstörung der Infrastruktur, vor allem der Umspannwerke. Inzwischen wurde viel wieder instandgesetzt, aber die Generatoren stehen noch immer in den Cafés und Läden bereit.

Es ist noch nicht lange her, dass ihr Geratter den Straßenlärm mitbeherrschte. Juri Durkot hatte es in seinem Kriegstagebuch eindrücklich berichtet. Es gibt jetzt wieder Strom. Die nächtliche Ausgangssperre zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens ist geblieben.

Nach der Ankunft setzt mich Natalija mit dem Taxi im Hotel ab. Es wirkt leer und verwaist. Ich bin zu müde, um noch einmal auszugehen. Das Restaurant wird abends vom 2. Stock auf die verglaste Dachterrasse im 9. Stock verlegt. Wenige Tische sind in einer Reihe aufgestellt, alle mit Blick zum Park, und nicht alle sind besetzt. Zwei Kellner eilen dennoch irgendwie sinnlos hin und her. Ich muss lange aufs Essen warten. An einem der Tische telefoniert laut, Aufmerksamkeit heischend, ein Deutscher. Er ist mir peinlich, bin dankbar, dass ihn niemand beachtet.

Ich komme ins Gespräch mit der jungen Ukrainerin am Nebentisch. Auch sie wartet aufs Essen, geduldiger als ich. Ein Freund, Soldat in Tarnuniform, gesellt sich zu ihr. Ich bekomme Salat und grüne Wareniki, dazu ein Glas Kolonist, ein odesitischer Roter.

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Donnerstag
Beim Frühstück heute Morgen sind wenig Hotelgäste im riesigen, einst sehr belebten Frühstücksraum. Iryna Rybko und Natalija Schymon kommen mich abholen, trinken einen Kaffee mit mir. Wie schön ist es, die beiden, so verschieden aussehenden, gleichermaßen hübschen wie begabten Schwestern wieder zusammen zu sehen!

Zuletzt hatten wir das 2018 in Mariupol erlebt. Iryna hatte ihr Baby dabei gehabt. Letzten Juli, mitten in der erweiterten Invasion, hat sie das zweite Mädchen bekommen. Heute Vormittag hat sie kinderfrei.

Iryna und Natalija sind unersetzlich für „Eine Brücke aus Papier“. Viele Kenntnisse über die Ukraine verdanke ich ihnen, und unsere Vertrautheit ist durch alles, was wir zusammen erlebt haben, immer größer geworden. Wir besprechen die weitere Reiseplanung für meinen Aufenthalt und wie wir in Uschhorod, ihrer Heimatstadt, zusammenarbeiten können.

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Wie früher oftmals, gehen wir durch den Franko-Park hinunter zum Rynok, dem Markt am Rathaus.  Der Anblick der mit Spanplatten und Blechen zugenagelten Kirchenfenster trifft mich unvermutet.

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Auch die Denkmäler und Brunnen, der Neptun-, der Amphitrite-, der Adonis- und der Dianabrunnen, die die Ecken des quadratischen Rynok hüten, sind zu ihrem Schutz verhüllt. Auf den Plastikhüllen sind sie, damit sie nicht vergessen werden jeweils abgebildet.

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Die Fenster des Rathausschutzkellers sind, wie in Uschhorod, mit weißen Sandsäcken abgesichert.

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Wir setzen uns zu Diana, auf die Terrasse des Cafés gleichen Namens. Wir sind mit Juri Durkot verabredet. Juri habe ich zuletzt im November in Weimar gesehen, als er aus seinem Kriegstagebuch las. Er hat die meiste Reise- und Grenzübertrittserfahrung in dieser Zeit, wo die Flughäfen gesperrt sind und berät mich für meine Rückreise, die diesmal über Polen gehen wird und komplizierter ist als die Einreise. Aber fürs Erste sind wir glücklich, zusammen zu sein, heißen Kaffee auf der kühlen Diana-Terrasse zu trinken.

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Auch Juri gehört seit 2015 zur Papierbrücke. Als Dolmetscher, Übersetzer, Autor, Berater. Längst ein Freund geworden. Deshalb mache ich mir auch Sorgen. Er sieht mitgenommen aus, sagt aber, er sei in Form. Ich weiß, dass er ununterbrochen arbeitet, zudem Film-, Radio- und Fernsehteams an Orte in der Stadt führt, die jedem zusetzen. Zu Menschen, die aus dem Osten und von der Front kommen.

Wir überlassen uns heute der Wiedersehensfreude. Ich bin froh, endlich hier zu sein.

Iryna muss zurück zu ihren Kindern. Doch Juri hatte mir versprochen, mich zum Lytschakiwer Friedhof zu führen, dem ältesten Friedhof Lembergs/Lwiws und vielleicht einem der ältesten Europas. Eigentlich wird dort nicht mehr beerdigt. Nur noch Ehrengräber. Dazu gehören auch die für die Ukraine Gefallenen.

 Wir ordern auf Natalijas App ein Taxi, das uns direkt am Friedhof absetzt, vor dem Gräberfeld, das außerhalb der Friedhofsmauern angelegt wurde.

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Juri hatte mir zwar von den frischen Gräbern der Gefallenen Lwiwer Soldaten erzählt. Er hat auch in seinem Kriegstagebuch darüber geschrieben, in Achterreihen angelegt, heißt es dort. Dennoch trifft mich der Anblick dieses riesigen Gräberfeldes unvorbereitet, so dass mir der Atem stockt.

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Unzählige Flaggen an den Gräbern in den Nationalfarben gelb und blau der Ukraine, manchmal auch rot und schwarz, das in der Schwarzerde vergossene ukrainische Blut symbolisierend, wehen im Wind. Dazu leuchten in den hohen hölzernen Grabumrandungen liebevoll gepflanzte Frühlingsblumen in frischen Farben. Es ist, als ob die Pracht der Farben selbst den Tod besiegen will, den Tod dieser vielen jungen Menschen, zumeist junger Männer. Manchmal zeugen abgelegte Blumensträuße von Besuchern. Auf den Grabkreuzen Vor- und Nachname, ein Fotoporträt, Geburts- und Sterbedatum. Kein Sterbeort. Das lässt die noch immer andauernde Kriegssituation nicht zu, sagt Juri.  

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Er will uns noch in den Lytschakiwer Friedhof hineinführen. Es fällt mir schwer, mich von den frischen Gräbern zu lösen und mich den alten, den steinernen zuzuwenden. Hier ist viel Geistesprominenz begraben, Schriftsteller, Komponisten, Dichter, Philosophen. Der Père Lachaise von Lwiw. Ein Skulpturenpark durch die Jahrhunderte. Unübersehbar am Eingang das Grab von Iwan Franko, der große ukrainische Dichter, den wir in Deutschland kaum kennen, obwohl er neben anderen Sprachen perfekt Deutsch sprach. Sein dichterisches Werk jedoch hat er auf Ukrainisch geschrieben.

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Wüssten wir mehr über die ukrainische Kultur, hätten wir ihre Literatur mehr verinnerlicht, wäre vielleicht dieser schlimme Krieg gegen das Land nicht so leicht möglich gewesen. Juri führt uns noch tiefer hinein in den Friedhof, in die Gegend, wo sich weitere Kriege abbilden, und schließlich auch zu den Toten, die seit 2014 für die Ukraine gefallen sind, in dem Krieg, den bei uns keiner wahrhaben wollte, und zu den ersten Toten der Februarinvasion.

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Erschöpft fahren wir zurück in die Stadt. Ich bestehe auf einem Mittagessen, obwohl Juri schon wieder forteilen will. Wir gehen ins „Schalom“, im ehemaligen jüdischen Viertel. Hat Juri es ausgesucht, weil es „Frieden“ bedeutet? Ich vergesse, ihn zu fragen. Wir sind hungrig. Wir wählen einen großen Tisch und bestellen Vorspeisen und Falafel, dazu hausgemachte Limonade. Das Personal trägt olivgrüne T-Shirts.

 Wenig später kommt Bogdana Brylynska von ihrem Büro der „City of Literature“ mit einer Kollegin zu uns herüber. Sie haben uns als Projektpartner letztes Jahr bei der Reiseorganisation für das Treffen von Weimar geholfen. Wir reden über die Schwierigkeit des Ausreisens, vor allem für Literaten und Künstler, die im wehrfähigen Alter sind und die Ausreise beim Kulturministerium beantragen müssen. Es ist ein großer bürokratischer Aufwand für sie. Juri sagt, er habe inzwischen aufgegeben. Es stresst ihn zu sehr, auf die Genehmigung zu warten, die oft in letzter Minute kommt. Bogdana muss wieder los und Juri schließlich auch. Es sei das erste Mal seit Beginn der Invasion, dass er wieder zum Mittagessen ausgegangen sei. Ich bin fassungslos. Kasteit er sich? Nein, keine Zeit, sagt er. Der Krieg drängt ihm seine Geschwindigkeit auf.

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Victoria Amelina im März 2023 bei der Recherche von Kriegsverbrechen, aufgenommen im Dorf Kapitolivka im Charkiw Gebiet, wo der Schriftsteller Volodymyr Vakulenko ermordet wurde. Autoporträt: © Victoria Amelin

Ich lass ihn ziehen, weiß ich doch, wie sich das Leben aller verändert hat. Bekomme gerade eine Nachricht von Viktoria Amelina. Ich hatte ihr von Uschhorod aus über Messenger geschrieben, ob sie in Lwiw sei und wir uns treffen könnten. Jetzt kam die Antwort sie sei jetzt eher in Kyjiw ansässig, komme gerade aus dem Donezk-Gebiet zurück und sei unterwegs nach Polen. So erfahre ich, dass sie Kriegsverbrechen erforscht und frage mich, wie diese zarte Frau, die wir von „Eine Brücke aus Papier“ in München und Berlin 2019 als Schriftstellerin kennenlernten, das durchhält.

Ich nehme mir vor, an ihr dran zu bleiben.

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Chrystyna Nazarkewytsch, die nun zu uns stößt, findet, das „Schalom“ sei ein guter Treffpunkt. Doch sie sagt schon bei der Umarmung zur Begrüßung, sie wolle lieber im Untergeschoss sitzen, in Erinnerung an ihre Jugend, als hier eine Bierkneipe war. Unten sitzen wir offenbar bei der alten Stadtmauer, und Chrystyna, die uns seit 2015 als Übersetzerin, Dolmetscherin und Moderatorin begleitet, zeigt sich zufrieden über unser Wiedersehen an diesem Erinnerungsort. Restaurants und Cafés in Lwiw wechseln oft die Besitzer, aber die Gemäuer bleiben dieselben.

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Ich frage sie, ob sie zur „Brücke" nach Uschhorod kommen würde. Ja, sagt sie, obwohl Nazar dort gestorben ist. Wie hatte ich das vergessen können? Der Dichter Nazar Hončar war ihr Mann. Er starb 45jährig an einem Herzstillstand in einem Baggersee in Uschhorod. Es war Mai, wie jetzt. Der Schriftsteller Andrij Ljubka war Zeuge, hat ihn aus dem See gezogen und hat versucht, ihn wiederzubeleben. Doch ist er ja nicht ertrunken. Sein Herz blieb einfach stehen. Ljubka, den wir in Uschhorod getroffen hatten, hat darüber den Text „Der Abzug“ geschrieben (in: Nazar Hončar, „Dichter noch dichter“, hrsg. von Chrystyna Nazarkewytsch in der Edition Thanhäuser 2011, Ottensheim an der Donau). 

Als Chrystyna hört, wir seien am Lytschakiwer Friedhof gewesen, fragt sie, ob wir auch Nazars Grab besucht hätten. Ich wusste nicht, das wir ganz nah daran vorbei gegangen sind. Chrystyna erkennt mein Unglück über dieses doppelte Versäumnis und bestellt weißen Kolonist, in dem wir das Traurigsein auflösen.

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Wie immer mit Chrystyna, bekommen wir danach eine kleine Stadtführung. Erst zur Synagogengedenkstätte ganz in der Nähe und zu einem neu errichteten Brunnen, der mit den Namen ehemaliger Bewohner des jüdischen Viertels an den Holocaust erinnert.

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Wir suchen noch eine Buchhandlung auf, weil ich Bücher von Bogdan Kolomijtschuk nach Deutschland mitnehmen will. Bogdan hatte ich auch geschrieben, um ihn zu treffen. Doch hatte ich schon gehört, dass er in der ukrainischen Armee dient. Folglich antwortete er bedauernd aus einer nicht näher benannten Kriegszone. Ich schrieb ihm, dass wir das Treffen von Uschhorod machen wollen, auch um Schriftsteller ein paar Tage von der Kriegsfront wegzuholen.

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Ich fand Bogdans Bücher. Für „Готель Велика Пруссія/Hotel Großpreußen“ ist die Lizenz schon an einen deutschen Verlag verkauft.

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Natalija bricht auf, aber Chrystyna besteht darauf, mich noch zu begleiten. An der Garnisonskirche, der vierhundert Jahre alten ehemaligen Jesuitenkirche, können wir nicht vorbeigehen. Ich war hier schon öfter mit ihr. Die dort seit 2014 aufgestellten Fotos der Gefallenen sind aber jetzt unfassbar zahlreich geworden. Dazu kommen Berichte geflüchteter Kinder aus den Kriegsregionen, auf Ukrainisch und Englisch. Das Kruzifix aus der Barockzeit ist mit einer Schutzvorrichtung für einen möglichen Angriff gewappnet.

Diese heute griechisch-katholische Kirche ist ein wahres memento mori. Als Kirche für die Militärseelsorge, ist sie stets mit den Toten des Angriffskrieges verbunden.

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Auf dem Weg zum Hotel kehrt Chrystyna noch einmal mit mir ein. Sie will mir das Café der Krimtataren zeigen. Sie wird dort freudig begrüßt. Wir trinken Rosentee und essen Gebäck, eine krimtatarische Spezialität. 2022 wollten wir mit „Eine Brücke aus Papier“ eigentlich nach Mykolajiw gehen und dort auch die krimtatarische Literatur einladen. Solche Pläne sind nun weit entrückt.

Als wir von der Iwan-Franko-Universität, an der Chrystyna lehrt, durch den Park nach oben gehen, wird es schon dunkel. Morgen sehr früh nach Iwano-Frankiwsk, die Stadt, die einst Stanislau hieß und 1962 nach dem großen Dichter benannt wurde.

Tag 10 — Tagesreise:
Iwano-Frankiwsk

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Freitagmorgen.

Um halb sieben Uhr steigen Natalija und ich im Bahnhof in Lwiw in den Zug nach Iwano-Frankiwsk. Wir fahren also wieder in Richtung Karpaten. Zweieinhalb Stunden Fahrzeit. Diesmal sind die Fensterscheiben mit Klarsichtfolie verklebt, sollten sie bei einem Angriff zerspringen. Aber wir fühlen uns sicher. Natalija holt erst einmal Schlaf nach.

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Durch die zugeklebten Scheiben ist der Blick nach draußen verschwommen. Dennoch lese ich den Ortsnamen Галич (Halytsch) im Vorbeifliegen. Ich sehe auch, dass in der Nähe der Ortschaften Felder bestellt werden, ohne Geräte. Kartoffeln werden gesetzt. Menschen, die gebeugt in der Erde arbeiten.

Die Zugbegleiterin bringt uns ausnahmsweise Kaffee, den wir dringend nötig haben. Er kostet 50 Hriwna für uns beide. Geben wir gerne.

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Wir sind erstaunt, wie schnell wir dann doch da sind. Etwas ungläubig stehe ich auf dem Bahnsteig von Iwano-Frankiwsk.

Wie oft hatte ich versucht, in diese Stadt zu gelangen. Stanislauer Phänomen. So viele literarischen Talente. Als es endlich soweit sein sollte, kam die Pandemie und wir begegneten uns nur über Stream. Für mich ist es die Stadt von Juri Andruchowytsch. Er war der erste ukrainische Schriftsteller, den ich Anfang der Neunziger Jahre in München traf. Durch ihn wurde ich auf die Fährte geschickt. Durch ihn weiß ich auch wie viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit dieser Stadt verbunden sind. Juri hat immer andere gefördert. Wir haben uns heute ein Mittagessen versprochen.

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Zum Frühstück aber treffen wir zunächst Rosana Tuzhanska im Urban Space 100. Sie stammt aus Uschhorod und ist mit Dmytro Tuzhanskyi verheiratet. Sie wurde nach Iwano-Frankiwsk geholt, um hier ein Projekt zu leiten. Eine Fabriketage wurde ihr und freien Initiativen von einem Unternehmer zur Verfügung gestellt, um sie wie eine Straße mit Läden und Werkstätten auszubauen. Ein Stadtentwicklungsprojekt, das mit dem Café Restaurant Urban Space 100 im Stadtzentrum beginnt. In diesem um diese Uhrzeit - es ist halb zehn - schon belebten Café, begegnen wir Rosana, hübsch, jung, elegant und von ihrem Auftrag erfüllt.

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Die Einkünfte des Cafés sind eine Finanzierungsbasis für das Teple Misto (Herzliche Stadt), ihr Projekt, und für viele seiner Veranstaltungen. Auf dem Weg ins Teple Misto erleben wir mit Rosana eine Stadtführung im Fluge, vorbei am Stadtratsgebäude und dem Bezirksrat, hinein in eine unbekannte und aus Erzählungen und Filmen doch vertraute Stadt. Iwano-Frankiwsk sei fast doppelt so groß wie Uschhorod, sagt Rosana. Sie hoffe, ihre Projekterfahrung von hier später auch in Uschhorod umsetzen zu können. Es ist ein sonniger Tag. Viel Grün, viele Bäume, gepflegte Anlagen, nehme ich im Vorübereilen wahr.

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Ihre Kreativetage ist im sechsten Stock ohne Lift in einer großen Fabrikanlage, die sich sichtbar im Umbau befindet.

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Rosana führt uns durch die Etage mit Kreativwerkstätten, Büros und anderen Läden wie durch eine Großstadtstraße in einem angesagten Viertel. Mein Blick bleibt an einer Malerklasse hängen, in der offenbar auch Andy Warhol studiert wird, und wo aus den Bildern an der Wand das Foto eines jungen Mannes neben der ukrainischen Flagge ikonengleich aufscheint. Rosana erklärt uns, der Künstler, der die Malklasse leitet, habe gerade erfahren, dass sein Sohn an der Front gefallen sei. Er sei schon einige Zeit vermisst gewesen. Hier ist er also wieder, der Krieg, inmitten dieses jungen hoffnungsvollen Projekts.

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Rosana zeigt uns die Coworking-Räume, die zum Projekt gehören. Überall sitzen junge Leute an ihren Laptops. Auch ihrem Team werden wir vorgestellt.

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Wir trinken noch einen Kaffee zusammen im Gastronomiebereich mit weitläufiger Terrasse, dann muss Rosana zum nächsten Termin. Auch sie hat den Kriegszeitenrhythmus.

Natalija und ich lassen den Ort und die Eindrücke noch ein wenig auf uns wirken. Mithilfe des Smartphone finden wir unseren Weg zur eine Viertelstunde Fußweg entfernten Shevchenko Straße. Im Restaurant Promenade warten wir auf Juri Andruchowytsch.

Ich war vom ersten Tag der erweiterten Invasion an mit Juri in Kontakt gewesen. Von ihm hatte ich von den Angriffen auf den Flughafen seiner Stadt gehört, und er wusste auch immer, wo sich die, die wir kennen, gerade aufhielten oder wo unsere Hilfe gefragt war. Er war bei fast allen Treffen der Brücke aus Papier dabei, aber noch nie habe ich ihn in seiner Stadt getroffen.

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 Zuletzt hatten wir uns im Dezember in Düsseldorf gesehen, als er den Heine-Preis verliehen bekam. Anzug und Fliege sah ich zum ersten Mal an ihm. Stand ihm aber gut.

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Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger empfingen ihn vor dem Schauspielhaus mit einem Solidaritätsbanner.

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Im „Promenade“ in Iwano-Frankiwsk stoßen wir zur Begrüßung mit neuseeländischem Marlborough-Weißwein an. Juris Wahl. Ich bemerke mit Genugtuung, dass die Importe noch funktionieren. Wir sprechen über Uschhorod. Es gibt kaum Orte in der Ukraine, an denen er nicht gewesen ist. Auch die entferntesten kennt er. Als ich ihn neulich zu erreichen versuchte, saß er gerade im Zug nach Sumy. Er hatte dort im äußersten Nordosten der Ukraine einen Auftritt. Mit seiner polnischen Band Karbido trat er noch vor zwei Tagen in Wroclaw auf. Er ist ein unglaublicher Zugreisender. Besonders Nachtzüge favorisiert er. Durch den Krieg ist das Reisen komplizierter geworden. Juri steht im Ruf, Grenzübertritte zu Fuß zu machen. Er lacht, als ich ihn danach frage. Er habe das nur zweimal gemacht. Sei keine gute Lösung.

Nein, das Schreiben falle ihm nicht schwerer als sonst, sagt er während die Pasta à l‘Italienne serviert wird. Im Gegenteil, jetzt ginge es gerade besonders gut.

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Juri führt uns ins Vagabundo, Veranstaltungskeller, Galerie, Zuflucht. Das Vagabundo betreibt er zusammen mit Freunden.

Ich bin erstaunt, dass in der Leuchtreklame über dem Eingang  Бджілка продукти – Bienenerzeugnisse angekündigt werden. Am unteren Ende der Treppe dann doch das Vagabundo Banner.

Im Eingangsbereich begreift man gleich, dass man es nicht mit Bienen und ihrem Honig zu tun hat. Hier hängen Grafiken des Charkiwer Künstlers Patrick Cassanelli, die gekonnt die Invasoren verspotten.

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YUMMI, YUMMI! THESE SOULS ARE DELICIOUS

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LAST ROUND OF NEGOTIATIONS

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THE „GREAT MYSTERY OF THE RUSSIAN SOUL” SOLVED

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Der ukrainische Halbkreis 2020 oben, mit Juri Andruchowytsch, Taras Prochasko, Jurko Prochasko, Chrystyna Nazarkewytsch, Sofia Andruchowytsch und Ostap Ukraijinez. Tanja Maljartschuk und Halyna Petrosanjak konnten pandemiebedingt nicht aus dem Ausland in ihre Stadt reisen. Sie saßen deshalb im Berliner Halbkreis unten.

Hier bin ich richtig und endlich auch in dem Raum, in dem 2020, während der Pandemie, „Paperbridge Circle“ auf der ukrainischen Seite veranstaltet wurde, während wir, weit entfernt, im Literaturhaus Berlin saßen.

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Juri erklärt mir, wie damals die Anordnung in dem schmalen Raum war, wo die Kameras, wo die Simultananlage aufgebaut waren.

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Heute ist im Vagabundo schon alles für die Veranstaltung morgen Abend eingerichtet. Juri mit Henry Marsh, dem englischen Neurochirurgen, der sein Können und Wissen seit Jahrzehnten an die ukrainische Medizin weitergibt. Für die Kriegsverletzungen wird er nun besonders gebraucht.

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Juri hofft auf viel Publikum für Henry Marsh.

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Ich bedaure einmal mehr, dass ich zurück muss. Aber wir bekommen noch eine kleine Führung von ihm durch seine Stadt, beginnend am Witschewyj-Maidan, auf dem gerade ein Spektakel das Publikum anlockt.

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Schön angelegt ist die Parkanlage des Adam Mickiewicz-Platz mit leuchtenden Tulpenbeeten.

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Das Denkmal für den polnischen Dichter Adam Mickiewicz ist das älteste der Stadt, sagt Juri.

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Von dem dahinter liegenden runden, zur Mitte hin erhabenen Platz richtet sich unser Blick auf die Synagoge.

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Über die erbarmungslose Vernichtung der Stanislauer Juden durch die Deutschen hatten wir 2020 im Paperbridge Circle Stream Lubow Solowka, Historikerin aus Iwano-Frankiwsk, gehört.

Und es war von diesem Platz aus, dass uns der Schriftsteller Taras Prochasko, per Video aufgenommen, seine Stadt erklärte, ihre Geschichte, ihren Weg

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Still aus dem Video Paperbridge Circle 2020

Juri verabschiedet sich. Mir wird schmerzlich bewusst wie lächerlich kurz mein Besuch in Iwano-Frankiwsk war. Noch nicht einmal Zeit, auch Taras und andere zu treffen. Ich verspreche mir, bald zurückkehren.

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Auf dem Weg zum Bahnhof sehen wir am Zaun eines Parks Plakate des Künstlers und Grafikers Andriy Jermolenko hängen. Er benutzt gerne den Dichter Taras Shevchenko als Mahner.

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Mariupol leistet Widerstand

Der Zug nach Lwiw wartet schon am Gleis. Wir sind erschöpft. Natalija schläft gleich ein und verpasst den Blick auf den Dnister, den wir bald überqueren. Ich bin froh, diesen großen europäischen Fluss wenigstens einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Tag 11:
Wieder Lwiw

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Samstag, 11. Tag

Zurück in Lwiw, schreibe ich eine Nachricht an Juri Durkot. Ich würde ihn gerne noch einmal sehen vor meiner Abreise am Montag. Wir verabreden uns wieder am Rynok. Es ist ein schöner Frühlingstag, auch wenn ein frischer Wind weht auf dem Weg durch den Park, in dem heute Morgen nur wenige Menschen unterwegs sind.

Ich entscheide mich für den Weg am Les Kurbas Theater vorbei. In der Straße beobachte ich einen jungen Invaliden an Stöcken, der begleitet von seiner Frau oder Freundin versucht, das Gehen mit Prothesen zu üben. Er kann es schon ganz gut. Wie gerne würde ich ihm das sagen.

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Stattdessen überquere ich schnell die Grünanlage des Svobody Prospect, sehe im Vorübergehen an der Fassade des Nationalmuseums die Werbebanner zur Ausstellung von Kateryna Kosianenko, mit dem programmatischen Titel „Victory“. Chrystyna hat die Ausstellung als ein „Muss“ für mich bezeichnet. Die Künstlerin sei interessant, weil sie aus der Ikonenmalerei kommt und doch eine zeitgenössische Malerin ist.

2017 hatte ich im Nationalmuseum eine berauschende Retrospektive des ukrainischen futuristischen Malers und Dichters David Burljuk gesehen. Kennengelernt hatte ich ihn als russischen Futuristen. Durch die Ausstellung begriff ich damals, dass die Geschichte neu erzählt werden muss. Burliuk hat den Stalinismus wahrscheinlich nur überlebt, weil er rechtzeitig nach Amerika ausgewandert ist.

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Auf dem Weg zum Rynok sehe ich immer wieder Soldaten, die offenbar ein freies Wochenende einlegen dürfen.

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Auch vor dem Rathaus flanieren Uniformierte ganz entspannt, und es gibt ein kleines Spektakel. Ich begreife, es ist Stadttag, ein Festtag für Lwiw. In diesem Jahr werden die Löwenskulpturen vor dem Rathaus - Lwiw ist Löwestadt - allerdings, zum Amüsement von uns Passanten, mit Tarnmänteln und Uniformkappen eingekleidet.

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Juri textet, er verspäte sich, aber ich sehe ihn schon von Weitem, als ich ihm in der Vul. Serbska entgegengehe. Er führt mich in eine Tee-Bar, die hinter dem Haus mit einem Garten aufwarten kann. Ich bestelle Oolong, Juri Chai. Es ist noch etwas zu kühl zum Draußensitzen, aber wir halten durch, sitzen an einer der Holzwände, an denen nun schon Pflanzen hochranken. Die Sonne scheint steil herein.

Wir sprechen über Juris Arbeit, die täglich mehr wird. Ich frage nach Serhij Zhadan, Juri ist  einer seiner Übersetzer. Er sagt, er wundere sich, wie Serhij die Strapazen der ständigen Auftritte, allein und mit seiner Band, durchhalte. Serhij sammelt mit seinen Auftritten sehr erfolgreich Gelder zur Unterstützung der Armee und der Zivilbevölkerung. Ich sage, das Kriegstagebuch, das Juri auf Deutsch in Die Welt veröffentlicht, sollte unbedingt ins Ukrainische übersetzt werden. Halyna Petrosanyak hatte für „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar schon damit angefangen. Wir werden zusehen, dass sie es weiterführen kann. Wenigstens für die Zeit nach dem Krieg sollte es auch auf Ukrainisch vorliegen. Wann wird das sein „nach dem Krieg“? Keiner von uns beiden wagt eine Prognose.

Juri begleitet mich noch zum Ivan Franko-Park, wo ich mit Iryna und Natalija verabredet bin. Vor dem Rathaus fotografiere ich ihn vor einem der militärisch verkleideten Löwen. Juri nimmt es gelassen. Auf dem Weg zum Park sprechen wir über die Chancen, die „Brücke aus Papier“ in diesem Jahr umzusetzen, in der Ukraine, in Uschhorod. Er weiß, wie schwer es ist, die Finanzierung selbst jetzt, wo Krieg ist, zu sichern. Bevor ich etwas dazu sagen kann, halten uns zwei Militärangehörige in olivgrüner Freizeituniform auf. Einer, der Ältere, spricht uns auf Deutsch an. Ich höre die deutsche Sprache, sagt er. Seid Ihr Touristen? Nein, wir arbeiten für ein Literaturprojekt. Er streckt uns die Hand hin, Oliver, sagt er, sein junger Freund stellt sich auf Englisch vor, Nolan, from Canada. Oliver ist offenbar glücklich, Deutsch sprechen zu können. Er sei aus Hannover. Jetzt gehöre er, wie Nolan, zur Internationalen Legion. Gleich zu Beginn der Februarinvasion hätten sie sich freiwillig gemeldet. Sie hätten gerade vier Tage Heimaturlaub, aber ihre Heimat sei zu weit entfernt. Deshalb seien sie nach Lwiw gekommen. Wir verabschieden uns freundschaftlich.

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Im Park finden wir Iryna mit ihren Mädchen am neu eingerichteten Abenteuerspielplatz. Er sei von einem Deutschen gespendet worden, sagt Iryna, aber es gebe schon viel Kritik, weil Eltern ihn für zu gefährlich halten. Die Kinder hingegen nehmen ihn übermütig in Beschlag. Nach Ksenija muss Iryna im Gewimmel ständig Ausschau halten. Iryna war die Erste, die mich 2015 durch Lwiw führte. Sie arbeitet im Kulturamt der Stadt. Jetzt ist sie in Mutterzeit.

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Juri verabschiedet sich nun endgültig. Wir hoffen, uns in Uschhorod wiederzusehen. Natalija wird von ihren Nichten freudig empfangen. Ich lade zu einem Eis im Café vor dem Park ein. Ksenija rennt ins Café und kommt als Prinzessin zurück. Kinder sind Zauberer.

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Natalija und ich gehen schließlich alleine durch den Park zurück zum Hotel, wo wir auf Halyna Kotowski warten, die uns zu sich nach Hause holen will. Ist nur einen Katzensprung entfernt, hatte Halyna gesagt. Sie ist Simultandolmetscherin und war bei jeder „Brücke aus Papier“ dabei. Für mich ist das Wiedersehen mit ihr, wie mit allen Vertrauten hier, eine große Freude. Sich endlich in der Ukraine wiederzufinden! Der Katzensprung zu Halynas Wohnung dauert eine gute Viertelstunde, in der sie uns die historischen Gebäude, an denen wir vorübergehen, erklärt. Sie lieben alle ihre Stadt. Die Wohnung in einem Neubau hätte sie mit ihrer erwachsenen Tochter Chrystyna kurz vor der erweiterten Invasion gekauft, um zentraler zu wohnen. Sie hatten schnell beschlossen, trotz des Krieges in Lwiw zu bleiben. Anfangs hätten sie sich bei der Bäckereiverkäuferin, bei jeder Lebensmittelhändlerin bedankt, dass sie hiergeblieben sind und weiter die Bevölkerung versorgen. Halyna führt uns durch die Wohnung. Überall hängt Gegenwartskunst an den Wänden, auch die eines jungen Ikonenmalers, von dem sie erzählt, er sei mit dreißig an Corona gestorben. Zu jedem Bild kann Halyna eine Geschichte erzählen, Künstlergeschichten.

 Wir genießen die Wiedersehensfreude ...

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... dann das Essen, das Halyna für uns zubereitet hat. Seeforelle hat sie für uns. Ich frage, wo sie her kommt. Aus irgendeinem Meer, sagt Halyna. Aber es sei doch ein Süßwasserfisch, sagt die altkluge Deutsche. Macht nichts, sie schmeckt köstlich, ebenso der Wein.

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Sonntag, 12. Tag

Chrystyna holt mich um zehn Uhr vor dem Hotel ab, wir wollen noch einmal das Zusammensein feiern. Sie begleitet mich hinunter in die Stadt bis ins Dzyga, am Ende der Armenischen Straße, eine Künstlerkneipe, in der auch veranstaltet und ausgestellt wird. Wir hatten hier 2018 Ludmyla Nors Übersetzung von Petra Morsbachs großen Roman „Plötzlich ist es Abend“ vorgestellt, die aus unserem Projekt entstanden ist.

Auf der Terrasse des Dzyga wurde Markiyan «Marek» Ivashchyshyn, dem Gründer und jahrelangem Betreiber des aus Lwiw nicht wegzudenkenden Dzyga, eine Art Denkmal errichtet.

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Bis vor seinem Tod - er starb 2019 - pflegte er an dem runden Tisch in der Ecke zu sitzen, erklärt mir Grigory Sementschuk, Dichter und Veranstaltungsgenie, mit dem ich hier verabredet bin. Über dem Tisch an der Wand hängt ein Fotoporträt, in rundem Format wie der Tisch.

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Auch die Gasse, die von der Terrasse wegführt, wurde nach Marek benannt.

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Grigory kenne ich seit 2015, als er mir half, „Eine Brücke aus Papier“ in Lwiw zu veranstalten. Iryna, links im Bild, sorgte dafür, dass wir im Rathaus Lwiw eine Pressekonferenz, zusammen mit Tanja Maljartschuk und eben Grigory, durchführen konnten.

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Jetzt sitzen wir hier, nicht nur ein paar Jahre älter, sondern auch in völlig veränderter Weltlage. Dennoch freuen wir uns, dass wir auf der Terrasse des Dzyga sein können, wie damals zu Beginn, und gedenken Marek.

Natalija, die in Lwiw bei ihrem Cousin Unterschlupf findet, schließt sich uns an, Chrystyna verabschiedet sich. Auf Wiedersehen in Uschhorod, versprechen wir uns.

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Wir bestellen Cappuccino, um uns zu wärmen. In der Untertasse findet sich jeweils ein Pergamentröllchen mit einem Tagesspruch.

Ich bekomme ein Zhadanzitat.

Ein ganz früher Text, ein Gedicht von Serhij Zhadan aus den Nullerjahren, bringe ich bei Juri Durkot in Erfahrung. Eine Übersetzung sei ihm nicht bekannt. Auf diese Weise habe ich nun doch Zhadan getroffen, der gestern noch in Lwiw gewesen sei, sagt Grigory, Zhadan sei gerade überall

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Grigory lädt uns ein, uns sein Lwiw zu zeigen. Er kam mit 17 hierher. Geboren ist er in Chmelnyzkyj, das zur Westukraine gehört. Ich hatte ihn immer für einen Lwiwer gehalten, denn er kennt sich unglaublich gut aus, wie wir jetzt beim sonntäglichen Gang durch die Stadt wieder bemerken. Vor allem der alte Teil von Lwiw fasziniert ihn, die alten Klöster und Kirchen, aus denen Gesang dringt. Heute, am Sonntag, stehen die Gläubigen sogar vor der Kirche und verfolgen den Gottesdienst, der nach draußen übertragen wird. Es rührt mich, dass Grigory, wenn wir an einer Kirche oder einem Kloster vorbei gehen, stets seine Kopfbedeckung abnimmt. Das habe ich lange nicht gesehen.

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Grigory führt uns auch in die Hinterhöfe, die er besonders liebt,

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und an Orte, die nicht so leicht zu entdecken sind, wie dieses alte monumentale Gemäuer mit dem Graffitizaun davor, auf dem in großen Lettern in Tarnfarben UKRAINA steht. Links vom Schriftzug ein maskierter Soldat mit MG im Anschlag. Zwischen den Buchstaben schlagen Flammen hoch.

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Wir gehen schließlich Mittagessen im Trapezna Idey, ein galizisches Restaurant im Keller des Museums der Ideen. Ich bin glücklich, dass ich zum Abschluss noch einmal Wareniki mit Kartoffelfüllung bekomme.

Grigory, der Großkommunikator, fragt mich, ob ich wüsste, dass Oksana Sabuschko in der Stadt ist. Ich bin sprachlos. Nein, natürlich weiß ich es nicht. Ich wähnte sie in Warschau oder Gdansk. Sie war unterwegs in Polen zu ihrer Buchvorstellung, als Russland die Ukraine und ihre Stadt Kyjiw überfiel. Und jetzt ist mein letzter Tag hier! Ich schreibe über den WLAN des Trapezna Idey eine E-Mail an sie, hoffend, dass sie sie liest. Als eine der großen Schriftstellerinnen der Ukraine bekommt sie unendlich viel Post. Grigory sieht meine Aufregung. Er kennt Oksanas Mann Rostyk. Wird ihn von draußen während seiner Zigarettenpause anrufen. Er kommt zurück mit der Nachricht, dass ein Treffen heute wahrscheinlich nicht möglich ist. Oksana gehe es nicht so gut. Gleich setzt wieder die Sorge ein. Ich weiß, wie schlimm die Lage für alle ist, seien sie nun drinnen oder draußen.

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Vorerst sind wir noch mit Jurko Prochasko oben am Hotel verabredet und sagen Grigory adieu. Jurko, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Gruppenanalytiker ist, hatte eine Dreitagesgruppe, und ich bin froh, dass wir uns überhaupt sehen können. Er wartet schon in der Hotellobby. Welche Freude, ihn endlich wieder in Fleisch und Blut zu sehen, nach der distanzierten Online-Kommunikation der letzten Jahre. Gleichzeitig bekomme ich eine E-Mail von Oksana, sie wolle mich treffen. Sie schlägt ein Abendessen um halb acht im Kupol vor. Ich sage sofort zu. Jurko will mir unbedingt den Weg zum Kupol zeigen. Oksana  hat es ausgesucht, weil es zu Fuß für mich erreichbar ist. Also gehen wir mit ihm durch den Ivan Franko-Park, Richtung Stadt. Unten am Parkeingang treffen wir wie zufällig Toma, Jurkos gerade erwachsenen Sohn, der dort an einem kleinen Festival mitwirkt.

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Wir sprechen von Ludmyla und dem jüngeren Sohn Symon, die andere Hälfte der Familie. Sie sind nach Wien geflüchtet, als die Luftalarme am schlimmsten waren und die Flüchtlingsströme aus dem Osten im Lwiw ankamen. Die Familien, die Beziehungen, würden durch den Krieg auseinandergerissen, sagt Jurko, meine Gedanken lesend. Er habe täglich in seiner Praxis damit zu tun. Wir reden auch über Natalka Sniadnako, die Schriftstellerin, die für mich immer zu Lwiw gehörte und mit ihren Kindern eine Woche vor der Invasion das Land verließ. Sie leben jetzt in Marbach, bald in Leipzig. Ihr Mann ging zurück, meldete sich freiwillig zum Militärdienst. In ihrer Wohnung in Lwiw leben Fremde. Und der erweiterte Krieg dauert schon 15 Monate.

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Mit Jurko gehen wir zu Kaffee und Kuchen in ein Café an der Sichovykh Striltsiv Straße, in der wir mittags den beiden Freiwilligenlegionären begegnet waren. Jurko kenne ich seit 2004, mir wird bewusst, dass es schon fast zwei Jahrzehnte sind. Er war mir maßgeblich behilflich bei der Gründung von „Eine Brücke aus Papier“, beginnend beim Namen, ein Manès Sperber-Zitat, das ich in einem seiner Essays über Mitteleuropa entdeckte. Wir brechen schnell wieder auf, er will mir noch das Kupol zeigen. Auf dem Weg macht er mich auf eine Gedenkplakette aufmerksam, wie es sie hier viele gibt. Diese verweist auf dem polnischen Dichter Stanislaw Jerzy Lec, der längere Zeit in diesem Haus lebte. Er hatte ein unfassbar unruhiges Leben, bestimmt von den politischen Grausamkeiten seiner Zeit. Was er wohl zu dieser sagen würde?

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Inzwischen kommt Wind auf, die Wolken am Himmel über Lwiw verdichten sich. Als wir am Kupol ankommen, das an einer aufsteigenden, mit Kopfstein gepflasterten Gasse liegt, erinnere ich mich, dass ich hier schon gewesen bin. Jurko geht hinein und kommt schelmisch lächelnd zurück. Ich habe einen Tisch für Oksana Sabuschko um 19.30 Uhr bestellt.

 Auch von Jurko, der noch einkaufen gehen muss, muss ich mich nun verabschieden. Natalija geht mit mir hinauf zum Hotel. Wir wollen das Taxi für 3 Uhr morgens organisieren, erfahren aber an der Rezeption, dass wegen der nächtlichen Ausgangssperre eine Vorbestellung nicht möglich ist. Sie würden versuchen, das Taxi um 3 Uhr zu bestellen. Natalija sagt, ich solle sie nachts anzurufen, falls etwas schief geht. Wir umarmen uns zum Abschied. Sie wird mir fehlen, meine Gondoliera.

 Ich gehe noch einmal den Weg hinunter durch den Park, um ein letztes Mal in die Stadt einzutauchen. Im Kupol, das mit Trödel und Antiquitäten eingerichtet ist, habe ich den Eindruck, dass sie schon schließen. Es gibt nur einen Gast, ein Militär in Tarnuniform, der kurz nach meiner Ankunft bezahlt und geht. Die zwei jungen Bedienungen scheinen mich vorwurfsvoll anzuschauen, weil ich immer noch da bin.

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Aus der Situation werde ich durch Oksanas Auftauchen erlöst. Wir setzen uns an den schönsten Tisch. Wir haben ja die Wahl. Was für ein Wunder, dass wir uns hier wiedersehen. Ich halte vor Freude ihre Hände. Zuletzt haben wir uns vor einem Jahr in München getroffen, zu Beginn des russischen Überfalls.

Oksana scheint mir verändert. Vielleicht ist es nur die Haarfarbe, die ihr aber gut steht. Sie hat ein ganzes Jahr heftiger Emotionen hinter sich, dazu unzählige Auftritte - sie nennt es „Die längste Buchtour“ - , immer auf dem Außenposten für die Ukraine kämpfend. Sie hat Grund, erschöpft zu sein.

Um sich zu erholen, wird sie eine Zeitlang in Lwiw bei ihrem Mann bleiben, der nicht ausreisen kann. 1999 habe ich Oksana kennengelernt, als sie in der Villa Waldberta am Starnberger See, die ich damals leitete, Stipendiatin war. Sie kam in einem Winter mit viel Schnee. In zwei Monaten schrieb sie die Erzählung „Die Schneeballflöte“. Eine grausame Schwesterngeschichte. Oksana war es, die mich zur „Ukrainerin“ machte. Wann immer sie mich erwischte, impfte sie mich mit ukrainischer Kultur, Geschichte, Sprachgeschichte. Sie veränderte endgültig meine Blickrichtung, von West nach Ost. Ich bestelle einen Salat, Oksana ein galizisches Fleischgericht. Wir trinken roten Kolonist aus Odesa.

 Um halb zehn werden wir endgültig hinausgeworfen, eigentlich schließen sie abends um 9 Uhr. Draußen werden wir von strömendem Regen überrascht. An einen Schirm habe ich nicht gedacht. Oksana nimmt mich unter ihren. Sie ruft ein Taxi, schlägt vor, mich am Hotel abzusetzen. So stehen wir noch zehn Minuten untergehakt im Regen, geschützt vom Schirm. Froh, dass wir noch ein bisschen Zeit für uns gewonnen haben.

Tag 13:
Rückreise

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Nach drei Stunden Schlaf klingelt um 2 Uhr der Wecker des Handys. Kurz vor drei Uhr bin ich unten an der Rezeption, bekomme eine Lunchbox und die Nachricht, das Taxi warte schon. Da die Straßen vollkommen leer sind, kommen wir schnell am Bahnhof an. Mein Zug geht um 3.50 Uhr. Die beiden geräumigen Wartesäle sind voller Menschen - wahrscheinlich sind die meisten wegen der nächtlichen Ausgangssperre schon seit gestern Abend da. Ich hole ich mir einen Kaffee am Kiosk und gehe direkt zum Bahnsteig.

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Es ist kalt. Ich nehme Wollmütze und Schal aus dem Koffer. Mehr und mehr füllt sich der Bahnsteig. Der Zug kommt aus Kyjiw. Er verspätet sich leicht.

Iryna hat mir einen Platz in Wagen 5 gesichert. Wagen 2, den Juri Durkot mir unbedingt empfohlen hat, war schon ausgebucht. Dann wirst Du an der Grenze später abgefertigt, sagte er. Als der IC einfährt, finde ich schnell den Wagen 5 und meinen Platz. Der Zug ist voll. Ohne Reservierung wäre ich verloren gewesen. Viele Frauen mit Kindern. Ein Kind, vielleicht drei Jahre alt, weint ununterbrochen. Die Mutter trägt es im Gang auf und ab. Es kann sich nicht beruhigen. Die ukrainischen Passkontrolleurinnen gehen durch die Reihen, drücken ihre Stempel in die Pässe. Dann verschwinden sie. Draußen wird es allmählich Tag. Wir verlassen die Ukraine.

 In Przemysl, dem polnischen Grenzort, dürfen wir erst einmal nicht aussteigen. Abfertigung nach Wagennummer. Jetzt verstehe ich, warum so viele während der Fahrt mit ihrem ganzen Gepäck nach vorne gegangen sind. Wir warten fast eine Stunde lang. Dann noch einmal draußen in der Schlange vor der Zollstation. Mir tun die Kinder leid, die dem Schlaf entrissen wurden. Nach einer halben Stunde bin ich durch die Sicherheitsschleuse und stehe draußen, weiß nicht wohin. Ich, die Weltreisende. Eine Helferin mit Armbinde spricht mich auf Englisch an, zeigt mir den Weg zu den anderen Gleisen. Am Bahnsteig voller Menschen stehe ich noch eine Stunde in der ostpolnischen Kälte, wie von Juri prognostiziert. Dann endlich fährt der IC nach Berlin ein. Ich verlasse ihn wieder an der 3. Station, in Rzeszów. Hier ist der Bahnhof eine einzige Baustelle. Ich habe gehört, dass Rzeszów plötzlich ein wichtiges Zentrum geworden ist, weil die Amerikaner seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine in dieser Stadt ihren östlichsten Stützpunkt eingerichtet haben.

Jurko hatte gesagt, Rzeszów sei eine schöne Stadt. In Wirklichkeit scheint sie eine einzige Baustelle zu sein, wie ich von dem mühsam gefundenen Taxi aus sehen kann. Auch die Straße zum Flughafen wird neu gebaut. Wir fahren länger an hohen blickdichten Zäunen entlang. Dahinter vermute ich die amerikanischen Militäreinrichtungen. Einmal hebt sich eine Plane im Wind. Ich sehe vier Weißstörche im Gelände grasen.

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Der neuen Bedeutung Rzeszóws verdankt sich der Direktflug der Lufthansa nach München, auf den ich jetzt noch vier Stunden in dieser Einöde warten muss.

Für einen so kleinen Flughafen gibt es viel Andrang und nur zwei improvisierte kleine Cafés. Dabei gibt es sogar einen Direktflug nach Nowy Jork. Hier in Rzeszów wird klar, wie sehr sich auch unsere Welt verändert hat.