Februarfliege – Gedichte

OLEH KOZAREW

ARCHITEKTUR

schwer den Kopf gesenkt zu halten
schwer mit gebeugtem Rücken zu gehen
weil die Straße so gleißt
dass sie blendet

musst den Kopf heben
musst dich aufrichten

und da – sieh an! da ist Architektur jetzt
kaum zu glauben
aber da ist Architektur

diese Bauwerke
die doch nur Schuhschachteln waren
in denen wir glücklich waren
diese Bauwerke
die sich nur durch die unmöglichen Namen hervortaten:
Wohnanlage „Purpursegel”
Wohnanlage „Alter Ego”
Wohnanlage „Kontinent”
Wohnanlage „Beere”
Wohnanlage „Schengen”
Wohnanlage „Villa Subra”
sind nicht wiederzuerkennen jetzt

einige wurden zur Fotokulisse für explodierende Helikopter
andere kamen in den Genuss konzeptueller Aufwertung
durch das Aufbrechen der geometrischen Fensterordnung
ein Piercing durch Blindgänger

Reimschemata stockwerksweise aufgesprungener Türen
durch die found poetry der Scharfschützen-Notate
oder Schminke aus Feuer

und jetzt steht da keine Schuhschachtel mehr sondern ein HAUS
geräumig und vieldimensional
mit strikt konvergierenden Linien
mit einer Geschichte
aber daneben
liegt
ein zusammengekrachter Kiosk
wie ein antiker Sarkophag

ich weiß
die Neubauten werden mit
am teuersten sein
inklusive Zerstörungen wird man sie
mit der Rakete noch auf dem Balkon verkaufen

„jetzt Preisnachlass – beim Erwerb
einer Einheit mit Artillerienachbildung
in unserer Wohnanlage „Pompeji”

du lenkst den Blick wieder nach unten auf die Straße
auf ihr blendendes Gebräu
gespickt mit zerbrochenen Ästen
auf denen zu stehen
es dir graut
aber trotzdem
stehst du
und stehst
und stehst


KASTANIEN IN DEN TASCHEN

Den nicht fertig beschriebenen Käfer
lässt du auf dem Nachttisch zurück,
ziehst den Reißverschluss deiner Vinyljacke hoch
und willst schon zur Tür,
als du siehst: durchs Fenster
spähen Fotos von Rehen.

Du tastest
nach den Kastanien in den Taschen
und du gehst hinaus, die Fotos zu beleben.

Dir war nicht bewusst,
dass du solches vermagst.

Danach gehst du weiter.
Jeder Stein spricht zu dir.

Schon seltsam:
am häufigsten sprechen sie über Wasser.
Schon lustig:
oft voller Neid.

Auf dem Rückweg siehst du
wie der Lichtpunkt des Hauses
zur zerbrechlichen
hellen Aura
wird
wie eine Blase um das Gebäude herum schwillt
der einzige
Kreis
auf etliche
solcher Kilometer.

Du hast Angst,
diese warme Leere zu zerstören,
und bevor du sie doch zerstörst,
wirfst du einen Blick
zu den Sternbildern zurück –
sie alle scheinen Sicheln
scheinen Blüten
scheinen Vögel
scheinen unverdient
unheimliche Gäste.


MACH DIR KEINE HOFFNUNGEN

Die Schule ist hinüber.
Sport gibt’s noch
Jetzt im Hof.


UNERSÄTTLICHES PRÄZISES ORCHESTER

schau wie die Wolken herandrängen in Haufen
ein unendliches schwarzes Orchester
allumfassend fast über den ganzen Himmel
unersättlich dieses Orchester
aber präzise
beugt Ahorne isst Flieder neckt Dächer
verheiratet die Turteltaube

eine stämmige Weide erwartet sein Kommen
ganz Solistin mit Divenallüren
blickt sie sich um
hellwach
vermittelt es könne jetzt losgehen
lasst uns jetzt anfangen
na bitte

und vor ohrenbetäubender Wolkenwoge
hat die Solistenriesin ihren Auftritt
unerwartet filigran
konzeptkünstlerisch
so architektonisch
dass allen vom schwarzen Wolkenorchester
Überwältigten die Augen übergehen

schau sie schüttelt ihr Haupt
in traumwandlerischem Einklang
sie reitet auf einer Saite
nichts existiert mehr für sie

und so erstarren wir alle
Bewegung wagt hier allein
das herrenlose Fahrrad
reisst sich los vom unrunden Planeten der Stürme

umkreist die Weide
erzählt angeregt leise
von Formen über Formen über Formen
stellt eine rasche Frage
die die Weide ignoriert
aber das Orchester
nur das Orchester
gibt ihm
wie immer
die Antwort


NICHT EINMAL RHIZOME

das Gefängnis geschlossen, die Umfriedung verfallen
sind da keine Strukturen
nicht einmal Rhizome
es hat sich alles erdreistet –

und der Rauch von der unklaren Feuerstelle
ist nicht, wie in alten Zeiten, nach oben gestiegen,
er wabert horizontal
als Schal zaubrischer Spinnweben
zwischen den Bäumen
ruft Verliebte auf
zu einer Tour mit Elektroroller

———

du lässt den Käfer aus dem Gärglas
machst dich daran am Halm
der gerühmten mit der graugetigerten Katze
assoziierten Quasi-Blume zu lecken
und sagst:

„Papa
vielleicht ist ja um unsere Erde
auch ein Glas ein riesiges
mit darin eingeschmolzenen Sternen
und einer trägt es in seinen Händen”

auch ich lecke
an einem ähnlichen Halm
werde schwach
lasse die Gedanken aus dem Glas
und sage meinerseits:

„oder vielleicht leben wir
auf einem bläulichen Ofen
der Brot
in Teig verwandelt”

ich spüre der Weg
muss noch
gebahnt
geebnet
ausgekundschaftet werden

eine Taube hat den Ton F
abgesetzt auf dem Solar
Modul


GRÜNER TAG GRÜNE NACHT

dunkler Kiefernzweig
fiel aufs helle Gras
in geheimnisvollem Dreieck

grün-grüner Kontrastmodus

grüne Jacke
leidenschaftliche Zurschaustellung

Friedenstaube
kack runter auf mich

du Taube
weißt du noch
die grüne Nacht als du schliefst
und die mich fast entführt hätten
die Außerirdischen?


VIOLETTER AKZENT

hängst von einer Bank die Knie im Himmel
liest Wolkenmikroromane
wischst dir Kiefernzweigflackern fort aus dem Blick
und hörst
wie eine Ameise einer Ameise die Flügel auffrisst

die Ameise der Ameise lupus est

hievst dich hoch von der Bank
rettest die Flügel einer weiteren Ameise
und begreifst nicht –

wo hat der violette Akzent sich verborgen
der so lange führte
als Saum des Schleiers
das Rückgrat des Gespürs?


EIN GANZ GEBLIEBENES HEIM SEIN

anstelle der paar verlorenen
Stück katzenfarbener Ziegel
auf dem Dach
Mohn pflanzen
Erlenzapfen eintunken von oben

und aufblühen
stolz sein
beiseite werfen den Halm des Lachens


GEFLÜCHTETE SPAZIEREN DURCH EINE FRIEDLICHE STADT,
LACHEN UND TRINKEN WEIN BIS

der Elefant im Zoo
Luftalarm
auslöst


FEBRUARFLIEGE

Schnee fällt aufs Mansardenfenster

wer erreicht den Rahmen schneller?
der Strom aus geschmolzenen Flocken auf der Scheibe?
oder das militärische Flugobjekt am Himmel?

nein
auf den Trajektorien der Zweifelsfreiheit
siegt die Stubenfliege

oh diese Winterfliegen
die Januarfliege weiß alles über diese Welt
und die Februarfliege alles über die Januarfliege

———-

der Stuhl beugt auf der Wand das Knie
mit gepflegtem Mäulchen mümmelt die Kerze
Kilo um Kilo Schwärze von unterm Tisch
zwei Freiwillige setzen
ein Paket Regen ab auf dem Boden
ihr Scherz taut
mit den schneeigen Spuren vereint


WIEDER DAS FUTTER VERGESSEN

am Eingang zum Park
waren unsere Spuren
im Neuschnee
schon die zweiten

die ersten hatte ein Jogger getrampelt:
schwer, wie kalte Klopse und Fettspritzer

und als Fedir, die Eiche,
ein Schneefragment
auf dich abwarf
lachte ich:
da hat dir der Park
Hallo gesagt

die Eiche aber erregte sich:
was für ein Park? hier bin nur ich!

wieder haben wir
das Futter für die Tiere
vergessen


MÄDCHEN NICHT DER SCHWERKRAFT UNTERLIEGEND

Mädchen bei einem Konzert vor der Bühne,
die quasi nicht der Schwerkraft unterliegend,
tanzen, springen,
schwerelos
heute – wie immer und auf allen Konzerten.

Du aber bist heute – nicht wie immer,
schaust nicht alle an,
hast Augen nur für eine,
beobachtest die Flugbahn ihrer goldigen Zöpfe,
die Verrenkungen ihres hellgrauen Pullis,
ihr Lächeln,
wie sie mitsingt.

Da, sie wedelt mit den Haaren,
da, sie lässt sich gleich
in den Spagat sinken,
da tanzt sie mit einem anderen Mädchen.

Schließlich sagst du etwas unschlüssig ihren Namen.

Sie aber – oh Wunder – hört dich, sie
kommt auf dich zu
noch immer erhitzt und im Rhythmus,
fragend lächelnd.

Da hockst du dich hin,
stopfst ihr das Hemd in die Strumpfhose
richtest die Jeans
und ziehst den Pullover über den Bund.

Sie sagt:
Nur ein Lied noch, bittöh!
Du seufzt:

Na guuut!
Sie küsst dich auf die Stirn:
Danke, Papa!
Und fliegt wieder aus.


AUFTEILEN

was blitzte rot-blau
zwischen kaltschnäuzigen Bäumen
im fast ausgestorbenen Park
dass darüber die ganze Welt
stillsteht schon seit fast fünf Minuten?

dass die Straßenmusiker
ihr Futteral umkehrten
und die Münzen aufteilten

genervt spannt jemandes violettes Haar
seine Schwingen


BISSCHEN SELTSAM

Hier,
Hinter dem Kindergarten,
Wo sie dich erschossen haben,
Erwachsen wie du warst,

Will das Schöllkraut jetzt nichts davon wissen,
Eine Katze, böse und mit Buckel
– arkadengespannt –
jault und geht seitlich vorwärts,
Und die Handflächen überziehen sich mit Kreuzen
achtspitzigen.

Schon bisschen seltsam
Hinter einem Kindergarten erschossen zu werden
Bisschen seltsam
Erschossen zu werden
Bisschen seltsam
zu sterben
Aber so richtig seltsam – geboren zu werden.


DIE SCHÖNSTE ZEIT

„Mütterchen, wie ging’s Ihnen denn so
unter der Besatzung?”

„Ach, schwer war’s, Junge, kam kaum zurande.”

„Als die Unseren zurück waren,
da wurde es aber doch leichter?”

„Leichter, aber auch
nicht wirklich.
Massenhaft Leute plötzlich,
alles teuer
überall haben sie gebaut.”

„Wann hatten Sie's denn gut?”

„Am Schönsten war’s,
als die Mistkerle schon abgezischt waren
und Unsere noch nicht angekommen –
still
ruhig
keiner da.”

und sie gab mir einen Apfel
und schlurfte davon
über die Bahngleise
vorbei am Porträt von Schurik
des Hundes, gestorben in den Kämpfen

und ich ging in den Park
es war kalt, mitten im Herbst, und es regnete
aber im Gebüsch sang
eine Grille
oder wie sagt man noch mal?


GRÜNTEE. BUTSCHA

ein Schnapszahltag
noch hatte es nicht geregnet, nur über den Spiegel
war manchmal eine Welle gelaufen
es kamen und gingen die Geräusche neuer Dächer

grüne Schwäne grüne Blumen
Gartenzwerge Apfelbäume
das Apfelbaumfahrrad fuhr volle Pulle bergab

nicht wir hatten den Grüntee aufgebrüht
wir hatten nicht einmal richtig Lust auf Tee aus Beuteln
die Beutel verbrannten sich und quietschten
wir bemühten uns wegzuschauen
dem Grüntee nicht in die Augen zu sehen

wir tranken es war auch Schnapszahlabend
die Erde hinter der Kirche und im Garten war ausgeschachtet
die Erde kam nieder
im Wald gebar die Erde mit einem Seufzer
oder tat nur so
und lachte dann und spielte mit dem Echo

grüner Kater grüner Schwan gelb-grüne Flagge
der Regen endlich Regen warf seine Töchter ab
in unseren Grüntee
wir sahen
wie in die Teewelt
schwarze Schneeflocken flogen
obwohl es mitten im aufrichtigen leicht
schwärmerischen Herbst war
wie Rauchströme und Rauchquallen flogen

sogar der Geschmack des Grüntees
war ganz ganz zart rauchig

nein nicht nur hier im Moment
schon immer doch da erst
bemerkten wir sie
diese Rauchnote
wie sie bleibt von einem lang erkalteten Lagerfeuer
oder Feuern in fernen Gärten
oder in einer Feldküche im Nieselregencape
oder vom Rauch aus diesen windschiefen, provisorischen Altarherden aus Ziegeln
in den Höfen der Wohnblocks

irgendwo war Musik zweifellos
im Regen hatte einer den Brunnen angestrahlt zielstrebig
die Parkwege hinab
sauste frei das unbemannte Apfelbaumfahrrad
die Äpfel in diesem Herbst waren groß wie Schwäne
im Regen tranken einige von uns ihren Grüntee aus
standen und gingen nicht auseinander


HOSTOMEL

in der Nähe des „Glücklich-Parks”
haben sie ein Dach
mit einem Himmelslumpen
in Form des Buchstabens H geflickt
sitzen zusammen jetzt lachen

———-

beschädigtes Haus
du stehst nackt entblößt
lässt deine Rippen aufblitzen
schrecklich und schändlich

verwüstet ist dein Dachstuhl
da läuft einer herum, der zerstört Rahmen und Fenster
das ist schlicht nicht zu ertragen

beschädigtes Haus
du hässliche Krücke, du Sau,
endgültig einreißen möchte ich dich
mein Unterbewusstes hasst dich
obwohl ich Bedauern
heuchle und Anteilnahme
alle Register ziehe
für eine bedrückte Miene

in den Händen trage ich einen Laib Zeit
knete ihn ungestüm
um schneller Richtung Zukunft zu starten

aber wieder finde mich
wieder vor der Hintertür der Vergangenheit
wo die Wachhunde
kläffen kläffen

und mit ihren Krallen noch immer
den Asphalt nicht mal ritzen


GRÜNE TÜREN LASSEN SICH LEICHT BELÜGEN

wir gingen ein Musiker
biss in die Saite versprach ihr zu zupfen
wir gingen eine Formenkaskade
ergoss und ergoss sich
wir gingen durch ein schwarzes
Fenster in einer Art Renaissancestil
wie immer leuchtete grün die Tür
ich hatte gelobt das nicht zu ertragen
und gehe hin um mich vorzustellen
schließlich sind wir gegangen und ich habe gelogen
ich habe die grüne Tür vergessen
und darüber wurde alles so leicht
daraus vervielfältigte ich mich und klonte mich
und bewahrte mich als –


PARIS

geht über den Markt
ein Mann, der ist Metzger
hat blutige Sternbilder aufm weißen Kittel
und hält in der Hand
drei Pfirsiche
möge der Metzger
– alle schreien sie auf –
die Göttinnen richten!


FLUGZEUG ODER HUBSCHRAUBER?

ein Streit brach los
tönte am Himmel so ohrenbetäubend
wie der vernachlässigte
alte Garten hinterm Haus
auf dem Marktplatz

„Flugzeug oder Hubschrauber?”
„Hubschrauber?”
„Nein, Flugzeug!”
„Nein, Hubschrauber!”
„Wohl Flugzeug!”
„Wohl Hubschrauber!”

und dann
um unnötigen Festlegungen zuvorzukommen
linste der Hubschrauber ins Fenster
beendete den Streit

jetzt kann man wieder in aller Ruhe
im Park umherschlendern
und Spatzen bestimmen
oder Stare


WAS NUR TUN

den Rhythmus gab ein System
aus vier Türmen vor
auf jeder Spitze rotierte
eine riesige Pizza
Novemberfliegen verwirbelten schwarzgrauen Schnee
Pferdeschwänze waren in Mode
und unten wo sie im Sommer Kirschen verkauft hatten
handelten sie jetzt mit lebenden Fischen
zwischen Aluminiumufern
roch es nach Meer
was tun, wenn in der wundervollen neuen
Welt
kein Bedarf ist
an Reklame?
Was tun – sang eine Frau
mit Pferdeschwanz an der Mauer des Vergessens -
was tun –
was was nur
was
was was was denn nur tun?

Übersetzung aus dem Ukrainischen:  Beatrix Kersten