Interview über sein Buch „Slawa Und Seine Frauen“

Felix Stephan

— Erzähle uns bitte zuerst: Wie hat diese ganze Geschichte angefangen?

F.S.:
Das hat so angefangen, dass meine Mutter mit 15 Jahren herausgefunden hat, dass der Mann, der sich bis dahin als ihr Vater ausgegeben hat, nicht ihr wirklicher Vater ist. Sie hat aus einem vagen Verdacht heraus auf ihre Geburtsurkunde gekuckt und hat dann gesehen, dass dort „adoptiert“ steht. Sie hatte dann aber ihr ganzes Leben lang mit anderen Dingen zu tun: Abitur, Ehe, sie ist sehr früh Mutter geworden, hat ein Haus gebaut. Als sie ungefähr 50 war und die Kinder aus dem Haus waren, da hatte sie ein bisschen Zeit, sich auch darum zu kümmern, wer eigentlich ihr Vater ist. Sie hat herausgefunden, dass es sich um einen Ukrainer namens Wjatscheslaw Falbusch handelt, der außerdem Jude ist, und wir haben versucht den zu finden. Und das ging dann verblüffend einfach. Und weil ich ohnehin immer wieder versucht habe, Bücher zu schreiben über dieses und jenes, aber nie so richtig ein Thema hatte, war ich ganz dankbar, dass mir so ein Thema, so richtiger Stoff in die Hände fällt, eine konkrete, interessante Geschichte. Und dann habe ich mich entschieden, dass ich darüber gerne schreiben würde, habe sehr früh angefangen, Notizen zu machen, also mitzuschreiben, wie sich diese ganze Geschichte entwickelt hat. Nachdem wir den Kontakt hergestellt hatten, sind wir dann im Juli 2015 zum ersten Mal nach Uschhorod mit dem Auto gefahren und haben dort die Familie von Slawa Falbusch kennengelernt, der selbst leider schon sehr zu früh in 1990 im Alter von 56 an Herzinfarkt gestorben ist, aber eine große Familie hinterlassen hat. Er hat also eine Witwe namens Olga, er hat eine Tochter namens Ljuda, einen Sohn namens Alexander. Und Ljuda selbst hat schon wieder zwei Kinder – Katja und Kostja, meine Cousine und mein Cousin. Plötzlich hatten wir von einem Tag auf den anderen eine große ukrainische Familie, die uns sehr offen und herzlich aufgenommen hat. Das war sehr bewegend.

 — Und wusstest Du etwas über die Ukraine vor dieser Geschichte? Und was weiß ein durchschnittlicher Deutscher über die Ukraine?

F.S.:
Es gibt viele Migranten aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, aus Russland, die in Deutschland leben. Es ist eine große Minderheit, eine große russischsprachige Minderheit, deswegen gibt es sehr viele verwandtschaftliche Beziehungen. Sonst ist vor allem Russland ein Begriff und die Sowjetunion natürlich. Auch für mich war die Ukraine kein Land, über das ich viel nachgedacht habe. Für mich waren Frankreich, die USA, Großbritannien oder China immer interessanter, ich habe mich in Richtung dieser Länder orientiert. Aber im Jahre 2014 drehte sich das. Es war ganz verblüffend, dass die Ukraine so kraftvoll in mein Leben getreten ist, einerseits auf der persönlichen Ebene, aber andererseits auch auf der politischen, weil die Revolution des Maidan, die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas auch in Deutschland natürlich riesige Themen sind und lange jeden Abend in Nachrichten waren.

— Wie hat diese ganze Geschichte deine Selbstidentität beeinflusst? Ist die Frage der Nationalität überhaupt wichtig für Dich?

F.S.:
Ja. Am Anfang dachte ich, dass diese Geschichte in erster Linie für meine Mutter bedeutsam ist. Dass ihr Vater Jude ist und Ukrainer, das hatte natürlich auch Auswirkungen auf ihr Selbstbild. Sie selbst war als Atheistin großgezogen worden, ganz typisch im ostdeutschen Kommunismus. In Polen gab es viele Katholiken, Ostdeutschland aber wurde gründlich entchristianisiert. Als sie ihre ukrainische Familie erstmals getroffen hat, fühlte sich meine Mutter sofort zuhause, wirklich sehr familiär. Sie hatte das Gefühl, dass bestimmte Kindheitserinnerungen wach wurden, obwohl sie diese nicht gehabt haben kann. Das war teilweise auch ein bisschen magisch und natürlich eine große Sache für sie. Sie fing dann an, alles über die Ukraine zu lesen, Bücher über Lemberg und Galizien, Romane von Josef Roth. Mittlerweile ist sie da Expertin und kann wahrscheinlich mit jedem Professor diskutieren. Und weil ein Teil der Familie mittlerweile auch in Israel lebt, ist sie auch dorthin gefahren und hat ihren Bruder besucht und sich natürlich auch mit dem Judentum auseinandergesetzt. Hin und wieder sucht sie jetzt auch Anschluss an die jüdische Gemeinschaft in Berlin, die stark von Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion geprägt ist.

— Ja, aber was bedeutete es persönlich für Dich?

F.S.:
Je länger die Sache dauert, desto mehr merke ich, dass es natürlich auch mit mir zu tun hat, auch wenn ich es schwer festmachen kann. Ich kann das nicht genau formulieren. Aber dass eine neue Familie da ist, die natürlich ein Teil von meinem Selbst ist, dass man Kontakt mit denen hat, das ändert natürlich die Selbstwahrnehmung. Über meine Mutter heißt es im Buch, „dass sie ein Stückchen weniger eine Deutsche ist, und ein Stückchen mehr eine in Deutschland aufgewachsene Halbukrainerin“. Was natürlich vieles ändert. Hinzu kommt, dass man über seine jüdische Identität auch nie ganz allein entscheidet. Für Antisemiten reicht der jüdische Großvater, sie identifizieren einen dann als Juden. Im nationalsozialistischen Vokabular wäre ich jetzt Vierteljude. Deswegen ändert es natürlich etwas. Aber es ist aber noch alles sehr undeutlich.

— Du warst also zuerst in Uschhorod, zweimal, dann in Lwiw, in Kyjiw und jetzt in Mariupol. Fühlst Du Unterschiede zwischen diesen Städten?

F.S.:
Es ist schwer zu sagen nach so kurzer Zeit. Ich hatte das Problem, dass ich so wenig über dieses Land und seine Geschichte wusste, dass es eigentlich unverschämt von mir ist, darüber ein Buch zu schreiben. Wer bin ich denn? Wir haben einen so großartigen Osteuropahistoriker wie Karl Schlögel und ich habe ihm, als ich ganz am Anfang des Buches stand, eine E-Mail geschrieben, ob er mir ein paar Fragen beantworten möchte. Und er hat tatsächlich auf diese E-Mail geantwortet und hat mich gefragt: Welche Fragen haben Sie denn? Und ich habe festgestellt: Ich weiß es nicht mal, ich konnte ihm keine konkrete Frage stellen. So naiv war ich. Dann habe ich angefangen Karl Schlögel zu lesen, Timothy Snyders „Bloodlands“, solche Sachen. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr wurde es mir bewusst, wie wenig ich darüber weiß. Deswegen habe ich dann den Trick entwickelt, mit diesem Ich-Erzähler, der selbst auch nichts darüber weiß. So habe ich diesen Nachteil zum erzählerischen Prinzip des Romans gemacht, das heißt, wir haben jetzt einen Ich-Erzähler, der sehr westlich ist, sehr oberflächig, sehr narzisstisch, der sehr viel über sich selbst nachdenkt und über seine Probleme, die sehr harmlos sind im Vergleich zu den Problemen der Ukrainer, und der in diese Welt geworfen wird, in dieses Land, das im Krieg ist, das sich außerhalb dieser Wohlstandsinsel der EU befindet, in dem ganz konkrete materiale Not herrscht. Und in dieser Konfrontation konnte ich über diese Figur sehr gut erzählen. Die Ignoranz dieser Figur ist ein gutes Mittel.

 — Du hast schon also eine persönliche ukrainische Erfahrung. Was bedeutet das für Dich?

F.S.:
Für mich ist es eigentlich ein riesiges Geschenk, dass ich so viel gelernt habe, über dieses großartige Land. Die Menschen, die ich kennengelernt habe, die Landschaften, die Städte, das alles habe ich nie gesehen hätte, vermutlich. Das ist extrem stimulierend, bereichernd und ein großes Geschenk.

— Was war für Dich die größte Überraschung in der Ukraine?

F.S.:
Es ist schwer zu sagen, weil ich kaum Erwartungen hatte. Vorher war ich einmal in Osteuropa, ich habe eine Tour gemacht, also von Istanbul über Bulgarien, Sofia, Bukarest und dann hoch in die baltischen Staaten, nach Vilnius und Riga. Das war das Osteuropa, die ich kannte. Ich hatte sozusagen einen Geschmack von den Städten der ehemaligen Sowjetunion auf der Zunge. Außerdem bin ich in Ostberlin aufgewachsen, vieles Sowjetische kam mir auch von dort bekannt vor. Gleichzeitig habe ich gemerkt, wie riesig die Dimensionen dieses Reiches gewesen sind. Es gab einen Moment, das wird im Buch auch erzählt, wo ich irgendwo im Hinterland von Uschhorod ein Haus finde, so ein Einfamilienhaus, das genau dasselbe Modell ist, was es auch bei uns in der DDR gegeben hat, und die stehen immer noch. Daran wird mir bewusst, wie riesengroß dieses Land ist, in dem dieselben Standards galten, und dieselben Vorlagen, und dieselben Muster. Das ist es, was ein Imperium auszeichnet. Das war eine große Überraschung. Aber insgesamt war die Geschichte selbst die größte Überraschung. Es war alles wahnsinnig überraschend, also jeder Schritt. Man gewöhnt sich an diese permanente Überraschung.

[…]

geführt von seiner ukrainischen Übersetzerin Natalija Schymon (Uschhorod) und Iryna Rybko (Lwiw) während des vierten deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffens von „Eine Brücke aus Papier“ in Mariupol, 31.08. bis 03.09.2018