Für Viktoria. Das Letzte

Oksana Stomina

VOR DEM MORGENGRAUEN

Irgendwo mitten im Frühling, zwischen Tag und Nacht,
Bevor ich angekommen und die Augen aufgemacht
Versuche ich, mich zu erinnern, wo ich heute erwache
Und was mich so einsam und heimatlos macht.

Ich verstehe, der Krieg ist kein Traum, kein Gespinst.
Frage Gott kurz, wofür wir diese Strafe verdient,
Und wieder ohne Antwort von ihm zu erhalten,
Stehe ich auf. Wie auf Eis auf dem Boden gleitend

Der wie Glas knackt unter der Last meines Grams.
Wo bin ich unterwegs, wokomme ich heute an
Ist mir ganz egal und ist nicht meine Sorge,
Dagegen hilft auch kein Kaffee am Morgen,
So gibt es zum Frühstück nur Nachrichten täglich.
Ich lese sie und bekomme nur die Hälfte bewältigt.

Sumy und Odesa, Winnytsja und Charkiw…
Gott, siehst du alles von oben? Nun sag‘smir?
Warum stoppst du den feindlich Aufmarsch nicht sofort?
Der Teufel ist doch nicht größer als du, oder, Gott??
Wo magst du nur sein?? Hör zu, Herr, sag schon was!
Raketen haben nun Flügel, wusstest du das??
Geflügelte Raketen! Die gibt es. Wie Vögel.
Sie fliegen nach Hausezu uns und sie töten.
Einfach so! Die Alten, die Großen, die Kleinen…
Sie können am Morgen oder Abend erscheinen,
Manchmal auchmittags oder schon in der Nacht…
Dafür hast du, Vater, doch nicht die Flügel erdacht?

Ich höre zu, wie zwischen den Rippen was schlägt.
Versuche, zu entspannen. Es geht nur nicht weg.
Bürste die grauen Haare, betrachte all meine Fältchen.
Verzeih mir, Gott, denn der Krieg ist nun meine Welt.


AUS DEM UNABGESENDETEN 
oder: Briefe in die Gefangenschaft

Meinem Mann gewidmet…

Wir schreiben einander diese Briefe. Rein und gläsern.
Nicht über Krieg, Waffen oder Sperren, sondern kirschrote Sterne
Ein hübsches Nest unter den Kiefern, über Glück und Sieg.
Wir schreiben über die Liebe. Was wären wir ohne sie?

Und nur wenig darüber, wo du bist und wie ich ohne dich bin.
Wir schreiben und schreiben diese Briefe und werfen sie in den Wind,
Schreiben und schreiben diese Worte und lassen sie ins Wasser sinken.
Denn wir haben keinen anderen Ausweg, noch einen Weg nach drinnen…

Denn wir haben keine Adressen – Städte, Straßen, Nummern…
Sobauen eine Brücke zwischen uns gereimte Stimmen.

Denn noch weiter als der Empfängerwäre nur der Mars von hier.
Daher… küsse ich deine Stirn und lasse dies auf dem Papier.

Trauriger Juli, 2022

DAS IST NICHT FAIR

Sie kann sich kaum erinnern… Nur an den Sarg
Und Omas Augen. Ein Mädchen, klein und betrübt
Sie hat nicht viel gesehen, doch dem Krieg
Stand sie schon gegenüber.

Denn der Krieg spielte mit ihr: sprang aufs Dach
Und erschreckte mit dem lauten Krach, der Dunkelheit im Keller
Denn der Krieg läuft seit mehr als einem Jahr ihr nach
Und jagt sie immer schneller.

Oma sagt: „Halte durch, Sonnenschein! Wir sind unser Zuhause.
Schade, Papa kann deine Schönheit nicht bewundern…“
Und das Mädchen breitet die ausgedachten Flügel aus,
Um zu Papa zu fliegen. Denn sie glaubt an Wunder,

Denn sie weiß schon, Papa ist im Himmel, denn Gott
Wählt nur die Besten aus für sein himmlisches Heer.
Doch die Kleine ist nicht einverstanden, dagegen, ihr Widerwort:
Das ist nicht fair!

IN DIE EWIGKEIT

In Gedenken an Oleksij Kisilischin und alle, die für die Ukraine gefallen sind…

Die Besten gehen. Wieder gehen die Besten.
Schweigend, wie Theaterzuschauer,
Sehen wir zu, wie er uns verlässt
Der Junge mit seeblauen Augen.

Er hört sich die eigenen Heldentaten an
Und lacht auf Fotos im schwarzen Rahmen.
Papa nahm seine Medaille an,
Die Salve steckt im Herzen von Mama,

Die Wachen stehen lange bereit schon
Um den Jungen an der „Grenze“ zu treffen.
Der Gedanke: „Vielleicht haben sie den Falschen?“
Klopft immer lauter in meinen Schläfen.

Der Himmel hat sein Portal bereits weit
Geöffnet zum Friedens- und Ruheort.
Junge, du bist da oben nicht allein.
Dutzende, Hunderte, Tausende sind dort

Von uns. Sie warten auf uns da oben.
Auf dem Weg zum Paradies werdet ihr euch finden!
…Was bleibt uns noch übrig, als zu glauben
Dass Helden nicht sterben, nie verschwinden?!

So stehen wir da und sehen Gott
In die Augen, verloren und ohnmächtig.
Und der Junge im geschlossenen Boot
Ist bereit, in die Ewigkeit aufzubrechen.

MARITSCHKA

Für Maria Podybailo, die Mutter des Helden Danylo Podybailo, gefallen am 01.06.2023 bei Bachmut.

Selbst Gott weiß nicht, was für Augen sie hat.
Was wolltest du in diese Augen legen, Vater?
Den Stahl des Gewitterhimmels oder das blaue Meer?
Ich weiß nur, darin liegt ausreichend Stärke
Um beim Abschied von ihrem Sohn zuzusehen.

Um auf den Wellen zu tragen statt Verzweiflung Liebe
Und die Züge seines Gesichts zu spiegeln.
Und nicht ehrlichen weltlichen Zorn zu vergießen.
Erst als das Schiff in die Ewigkeit segelt
Ist das Meer plötzlich über seine Ufer getreten…

WARTEN

Briefe in die Gefangenschaft

Weißt du, Junge, warten ist, wie nur halb zu leben,
Den Horizont mit Blicken festzuhalten, schweigend
Jeden Tag über den Abgrund zu schweben
Listen zu durchsuchen. Ich bin jetzt wie eine
Mutter für den eigenen Mann. Zärtlichkeit hält
Mich fest als Nabelschnur, doch die Erschöpfung bleibt.
Denn warten, Junge, heißt, dass Schuld auf mich fällt
Dass ich dich nicht Hand in Hand nach Hause begleitet.

Denn warten, Liebling, ist, Freuden aufzuschieben,
Wünsche, Hoffnungen, Träume. Der Schmerz
Ist wie eine Strafe, als wäre mir kein Recht geblieben
Auf eine halbe Sonne, auf ein halbes Herz.

Denn warten, Liebling, ist, jeden Morgengrauen
Ohne dich zu zählen, all die Nächte und Tage,
Schritte durch fremde Zimmer, durchs Fenster schauend,
Und Wände zu stützen, die die Decke tragen…

FÜR VIKTORIA. DAS LETZTE

Meine Freundin, die ukrainische Schriftstellerin Viktoria Amelina, wurde am 27. Juni 2023 als Folge eines Raketenangriffs der russischen Okkupanten in Kramatorsk schwer verletzt. Einige Tage schwebte Vika zwischen Leben und Tod. Die ganze Zeit habe ich ihr Nachrichten geschrieben. Dies ist eine von ihnen.

Von ihrem Tod habe ich in der letzten Strophe erfahren.

Dort, neben Gottes offenen Armen,
Leistet der Schutzengel treu seinen Dienst.
Da vorne kann man den Sieg schon erahnen -
Das, was du zweifellos verdienst.

Vielleicht im Dezember, aber besser noch früher
Befreien wir alles: den Donbas und die Krim
Unbesiegbare Fahnen werden darüber
Schweben wie blau-gelbe Flügel im Himmel.

Dann wirst du feiern nach Herzenslust
Denn du hast mit aller Kraft daran geglaubt.
Halte dich nur daran fest, hörst du?!
Öffne einfach deine tiefblauen Augen!

Bleib einfach hier, um das alles zu sehen!
Bleib durch ein Wunder am Leben, komm trotz allem zurück!
Die Ewigkeit hält dich fest an deiner Seele,
Die Finsternis haucht dir lüstern in den Rücken.

Deine Freunde beten für dich. Traurige Zeiten
Reichen für alle. Ich weiß: es ist schwer.
Doch du, Vogel, musst weitersingen! Sing weiter!
Du bist stark! Ich kann nur ahnen, wie sehr!

Du hast noch viel zu tun – für die
Ewigkeit!



…Der Engel stand Wache, treu und immer bereit
Hinter dem Glas der Krankenhausfenster.
Doch er schaffte es nicht. Vika, es tut mir leid!

NAH

Die Liebe hört nicht auf. Selbst während des Krieges.

Wir sind uns so nah! Noch näher und wir verschmelzen.
Während der Scharfschütze zielt, hat Amor sein Ziel erreicht.
Im Krieg ist die Umarmung wie ein Diamant, stark und glänzend.
Selbst Gott bewundert, wie nah wir uns sind, wir zwei.

Und er wundert sich: wie kommt’s, wie ist das nur geschehen?
Denn er hat uns eine Prüfung geschickt und sieht nun all das hier…
Gott erinnert sich wohl daran, was er uns im Herzen mitgegeben,
Und entscheidet wohl gerade, wie viel uns noch bleiben wird

Von diesen Umarmungen, die das Leben statt Jahren nun messen.
Die, die wärmen, die Wunden heilen und das Licht entfachen.
Und gerade weil du mich so fest in deinen Armen hältst
Lächelt der Herr und lässt den nächsten Morgen erwachen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Margaryta Grinko