Gedichte aus „Leuchtende Schafe“ (Schöffling 2022) und neue Gedichte

ULRIKE ALMUT SANDIG

Anleitung zum Lachen auf Abstand

zuerst die schlechte Nachricht: alles, was dir alles war, verkleinert sich auf die Größe eines Insekts am geschlossenen Fenster.

aber das tut es auch dann, wenn du diese Anleitung nicht befolgst.

jetzt müsste eigentlich die gute Nachricht kommen.

aber wissen wir denn, wer nach dieser Anleitung zum Lachen auf Abstand noch da ist? das Insekt oder Lynns Ex, oder Lynn oder ihre uralten, lachenden Eltern?

und jetzt die gute Nachricht: scheiß auf alle Prachtalleen und Plätze. wir werden einander in Forsten begegnen. der ganze Sauerstoff wird uns richtig high machen.

und hier gehen wir ein wenig auf Abstand: Hände locker an die Seite, rechter Fuß zurück, linker Fuß zurück. und immer so weiter.

es wird ein ganz neues Gefühl sein, die Natur dabei zu betrachten, wie sie dich geschmeidig überholt.

in eine Rinde werden wir ritzen: Lynn war hier.

in einer anderen Rinde werden wir lesen: komm her = geh weg!

wir werden die Heiterkeit zwischen den Bäumen ausbuchstabieren, und das geht so: kurz bücken. Hände im Laub waschen. dabei zweimal Happy Birthday singen.

Happy Birthday für dich, die Geschenke für mich. den Kuchen musst du suchen, doch du findest ihn nicht.

jetzt müsste sich das Lachen eigentlich schon bemerkbar machen. die meisten spüren ein deutliches Kratzen am Kehlkopf. und zwar genau hier.

Happy Birthday, Lynn!, werden wir rufen und über die Antwort im Echo der Bäume in heftiges Lachen ausbrechen.

und das ist jetzt wieder wie Highsein. aber nicht wegen des ganzen Sauerstoffs um dich herum, sondern weil du kaum Luft kriegst vor lauter Lachen.

langsam fühlt es sich an, als würdest du versuchen, durch einen Strohhalm zu atmen. die einen stecken das besser weg als die anderen.

aber vor allem ist es ein ansteckendes Lachen, das nach und nach auf uns alle übergreift, bis der ganze Forst in einem einzigen großen Gelächter erbebt.

am Ende wirst du am Boden liegen und noch ein bisschen weiterlachen, bis du wirklich nicht mehr kannst.

die Challenge besteht eigentlich darin, nicht aufzuhören mit dem Lachen. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

das geht auch im Liegen.

lachend wirst du zum Umriss der lachenden Sonne heraufschauen. dunkel und klein schwebt sie wie ein lachendes Insekt über den Kronen der Bäume.

und das ist gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht.


wir waren hier

Tiefab im Tobel liegt ein Haus,
Zerfallen nach des Försters Tode,
Dort ruh' ich manche Stunde aus,
Vergraben unter Rank' und Lode;

Annette von Droste-Hülshoff

komm ich bau uns ein Haus
aus Propangas und Hitze bist du auch so‘n lausiger
Vater und schraubst mit eisernem Willen an meinen Verstand
weil Männer eben Mechaniker sind?
bin ich auch so‘ne klägliche Mama
und jammer mit losen Gefühlen den eigenen Kindern was vor? komm schon.
wir lagen im tosenden Gras und drehten die verdammten Silberblätter um. aber
immer fehlte uns eins. wird’s reichen zum Streichen der Mauern? wird’s gleichen
dem Bild vom Haus mit Silbergabeln goldenem Retriever?
du und ich wir sind
diese Familiengrundstücke so leid.
ich bin das Kind mit der Fliegerbrille und du
mein Hans mit Krumen im Kopf.
Mann ich will mehr als im Kaffeesatz der
Chromosomen zu lesen und das in Vergangenheitsform!! also nimm
deinen Retriever und ich meine Norm wir lassen nichts hier.
ooh
über die golden zerzauste Fellformation dieser Landschaft im
Sommer steigt ein Ballon ins Luftmeer hinauf.
okay etwas
Pathos darf auch mit als Übergewicht. aber mehr nicht.
tiefab im Tobel liegt ein Haus zerfallen nach des
Försters Tode. dort ruh‘ ich manche Stunde aus
vergraben unter Rank‘ und Lode
Zapfen
von oben Kornblumen Mohn Kronleuchter
in allen Bäumen ein Fest!
so‘n Ballon ist sinkbar schon klar.
so‘n Ballon ist nicht lenkbar. also
schreib‘s in die wärmere Luft:

wir waren hier.
du warst Propangas
ich deine Hitze.

nach Friederike Mayröcker

Ins lichtblaue nämlich mit zärtlichen Schwalben
im Dunkel vernehm ich die Vogeltonalben

des Frühlings in diesem finsteren Jahr.
Friederike (sie war doch gerade noch da?)

grüßte den wirbelnden Rittersporn: hi!
aber ich bin voll Zorn und verliere den Faden

für mein mützchen v. fury, bin so im diamond.
über uns beiden süsz verbeult schwankt

der Vollmond v. gestern und mitten in seinen Pupillen
schwarz wie dein Haar, sitzen zwei Schwestern:

die Liebe und die geschliffene Anmut v. Sprache
und leuchten uns einen Weg durchs

Wäldchen im Herzen = dunkles Jahrzehnt
v. fury und Furcht. aber hi! trotzdem tanz ich

trotzdem schreibe ich munter: Schwertlilienmonat
2022, Kriegswoche 16, Weltseele kopfunter

If you could choose to disappear slowly or fast,

be a mountain softened by tides,
a landmine of time, until nothing of you
is left but a pebble in a pup’s mouth.

If we could convince each other
we were not alone, that there were footsteps
that followed at a distance,
that everything we touch exists
because we speak their name,

would we still own more than what’s in
our jaws? Mine is empty today. I am Eve,
the kid of a goddess with wave-permed hair,
who taught me to keep a low profile if
I want to be safe here. Be soft, dear.

Today, I am not Ewa in Bucha who was shot
in the mouth after being raped for hours
before the eyes of her youngest. I swallow
the bullet I didn’t receive and laugh as if
I had been in a film shoot of sorts.

We don’t even own our words for despair.
All we have are the traces we follow.
They disappear fast. In dust, in snow.

Tishani Doshi & Ulrike Almut Sandi


Чорне море

ich fürchte, ich hab dich, wie immer, zu Tode gedacht.

während sich meine Damen und Herren zu Hause
in Fragen der Reinheit des Wassers
aufs Messer verzehren

färbt sich der Wellenkamm am Meer
deiner Kindheitsurlaube
schwarz.

frage noch einmal: wen trifft die Welle?
sag doch noch einmal: go
fuck yourself.

jetzt, wo wir wissen, dass der Tod sich ellyptisch bewegt

frag mich doch nochmal nach dem Versteck
in der Dunkelheit unter
den Dielen

frag es auf englisch
weil deine Sprache zu schwer ist
um nicht in Bedeutungslosigkeit zu versinken

und nimm zur freundlichen Antwort von meinen Geschenken:

1 Steinschleuder und 1 kyrillischen Kiesel
als letzte Mittel gegen die Mutter
mit pechschwarzem Haar.

sie wirbelt über den Wogen und ruft wieder
ihre Version der Geschichte
fürchte ich, aus.

es ist eine alte Form von Verehrung, ein Sirenengesang.


Klagelieder in VI Runden

I. Runde

der kleine Mann in meinem Kopf heißt Omid.
er zieht seine Runden durch alle Wunder
meines Gehirns, im verhaltenen Run der Gejagten
die das Gejagtsein gewohnt sind.

meine Wunder lassen ihn kalt. der kleine Mann
in meinem Kopf geht immer rennen, niemals
reisen. er trägt eine Nummer im Pass, die ihm noch
das Scheißen verbietet. er nennt sie sein „Aufeintal…“

sein Aufenthalt schlägt als Phantomherz im Hals
eines Läufers, der Schmerzen gewohnt ist.


II. Runde

der kleine Mann besitzt eine Frau, die Schmerzmittel
braucht. die Frau des kleinen Mannes bewohnt
seinen Kopf, denn Frauen wie sie entkommen
der Herzregion und ihren irren Wunderkammern

niemals allein, sagt Omid. sie misst seine Hypophyse
fürs neunte Kinderbett aus. sie isst Tabletten
gegen Herzschwäche und gegen den Birnbaum
in ihrem Kopf, der rauscht wie der Birnbaum früher

im Hof. seine Blätter füllen sie aus. sie füllt Omid aus.
Runde um Runde zieht er durch mein Gehirn.


III. Runde

der kleine Mann in meinem Kopf, er hatte
sieben Söhne. der erste stand an der Bushaltestelle
als eine Drohne einschlug. der zweite sprengte
sich selbst in die Luft. der dritte zählte bis tausend

als jemand dem Lehrer die Kehle durchschnitt.
der vierte blieb an der Küste für einen Job beim Schlepper
der eigenen Leute. der fünfte Sohn fiel aus dem Boot.
die jüngsten verstehen die Wörter des kleinen Mannes

nicht mehr. sie spielen an meiner Aorta, Omid.
sie lachen im Schlaf. die sind dir geblieben.


IV. Runde

der kleine Mann in meinem Kopf, er hatte
eine Tochter. er liebte, wie sie das Hackfleisch
zerkochte, er liebte, wie sie widersprach.
er liebte das Wunder ihres Aufeintals in Omid.

für den Gegenwert eines Tickets nach Deutschland
hat Omid seine Tochter verkauft. heute rief sie
ihn an. sie klang, als säße sie in seinem Gehörgang.
dem Birnbaum im Hof ginge es gut. seit Wochen

sei sie nicht draußen gewesen. oh, draußen
sagt Omid in sich hinein, erwartet dich nichts.


V. Runde

der kleine Mann in meinem Kopf, er hatte
einen Bruder. der half den Deutschen beim
Wörterfinden in seinem Land und hat darüber
sein Leben verloren. hast du noch gar nicht

ورور ه tippt Omid in sein Handy und hängt noch
ein Bruderherz dran. bist doch im Safe House, du
weißt, was das heißt! aber sein Bruder weiß, wie
man Lippenbekenntnis ins Paschtu übersetzt.

fahr jetzt zum Airport, schreibt er als Letztes.
melde mich, wenn ich in Sicherheit bin.


VI. Runde

der kleine Mann in meinem Kopf liest Ovid.
er liest ihn in den Blättern des Birnbaums im Kopf
seiner Frau, die die Wörter hier besser versteht
als er, ohne ein einziges schreiben zu können.

Omid liest Ovid im Skype seiner Tochter
die seit ihrer Hochzeit die Hand nicht mehr
stillhalten kann. ich bin am Ende mit meinem Latein
sagt er, und sie ins Handy: بابه جان ich hör nichts!

Aufeintal folgt ein Berg!, ruft Omids Frau in den Wehen
im Singsang von denen, die Wehen gewohnt sind.

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