Gedichte

Marjana Prochasko

TEIL 1

17-18.01.2022

ZWEI ÄNGSTE

Keine Angst:
Ich weiß, um welches Geschenk du bald bittest:
Dass man dir keine Geschenke mehr macht.
Oder, poetisch gesagt, dass man dir
Raum
Ruhe
und Stille schenkt.
Oder noch poetischer:
Nichts.
Keine Angst:
Ich mache dir dieses Geschenk noch bevor du mich bittest.
Keine Angst.
Aber ich habe
Angst.

Wie denn:
Werde ich dir
nie wieder
etwas schenken
dürfen
?

18.01.2022
U n b e l i e v a b l e 1

Du musst wissen.
Etwas ist passiert.
Ich bin schwanger
Vom Schreiben mit dir.
Ein Wunder.
Du weißt schon:
Die Wissenschaft
Hält eine Schwangerschaft
nach der Menopause
für ein Wunder.


20.01.2022 -23.01.2022

INTIMISSIMI

Meine beste Freundin,
Die all meine Todesnöte mit mir durchlebte wie ihre eigenen,
Kam nach meiner neunten Todesnot
Von weit her
Um einen Tag
Mit mir zu verbringen.

Wenn ich sterbe,
Aber dennoch
am Leben bleibe,
Bekomme ich
verschiedene Geschenke.
Nach meiner sechsten Todesnot etwa
schenkte mir Rita
neue Flamenco-Schuhe, und Asja
malte nach der vierten
ein Porträt von Billie Eilish
für mich.

Meine beste Freundin
Kam also zu mir
Von weit her, um
etwas mit mir zu unternehmen:
Austern essen oder
ein Radiodiktat schreiben,
Wir gingen in den Steinbruch,
Machten ein Selfie, doch trug ich eine Sonnenbrille,
Damit man nicht sah,
Wie verschwollen mein Gesicht war.

Aber eigentlich ist dieses Gedicht
über einen Pyjama.
Meine beste Freundin,
Die nach einer drastischen Verschlechterung
Meiner Krankheit gekommen war,
Brachte mir einen wunderbaren Seidenpyjama von INTISSIMI
Als Geschenk
Mit Spitzen!
Ich wusste gar nicht, dass ich von so einem träumte,
Aber ich habe davon geträumt.

Im Seidenpyjama schläft es sich
ganz anders, als im Baumwollpyjama,
und als im Viskosepyjama sowieso.
Fast so herrlich,
Wie ohne Pyjama,
Oder vielleicht einen Hauch besser sogar.
Und ich schlief.
Wunderbar!

Aber nicht lange.
Fünfzehn Nächte vielleicht.
Ein allzu kurzes Leben für einen Pyjama.
An einem Morgen stellte ich fest,
Dass die Hose an zwei Stelle aufging
oder durchgewetzt war. Ich weiß nicht warum.
Und war traurig.
Existentiell.

Später,
Als ich den Verlust bereits akzeptierte,
Dachte ich mir etwas aus,
Das es mir leichter machen sollte.
Ich würde aus der Hose eine Blume machen –
Eine Art Schmuck, den man ans
Kleid oder ans Sakko
Steckt.

Und als
Ich das alles
Sofia erzählte,
Sagte sie etwas, das nur sie sagen konnte:
Jede Hose will eine Blume sein.
Ich konkretisierte, um den Witz weiterzuführen:
Jede Seidenhose!
Nein, widersprach sie fest.
Jede Hose.
Ein außergewöhnlicher Wesenszug
Meiner besten Freundin ist
ihr Wissen Über
die Natur
der Dinge.

23.01.2022

POESIE

Falls
Es so ist
Dass ihr nie Gedichte geschrieben habt und
Mich fragt
Wie das ist
Antworte ich
So

Es ist wie ein Gesicht in Stein zu meißeln
Nein in Holz zu schnitzen
Wie einen Tiger zu zähmen, nein
Einen Schmetterling zu fangen
Es ist wie mit unsichtbarem Pfeil mitten
In eine Blüte zu treffen, die sich nur einen Moment lang öffnet,
Oder
Eine Herde Schafböcke
Zu ordnen und vielleicht
Einen davon zu umarmen und sich zu verletzen
An seinen gebogenen Hörnern.

Das erste Gedicht
Ist ein gezähmter Tiger
Das zweite ein gefangener Schmetterling
Das dritte ein Pünktchen
Das vierte
Ein Schafbock
Das fünfte
Dein in Luft geschnitztes Gesicht
Und dieses hier –
Mein Fußabdruck
Im Schnee
Auf dem Weg
Zum Friedhof.


25.01.2022

СONVERSIO

Mein Engel führt einen Hund,
einen Beagle, aus.
Mein Engel lebt in einem aufgelassenen Theater und schiebt dort Wache.
Ein Leben als Wache –
Das passt meinem Engel.

Mein Engel ist schmutzig
Doch seine Flügel sind immer rein.
Er ist krankhaft dünn,
Und hält sich erstaunlich gerade.
Er nennt mich charmant
Und sagt, ich gefiele ihm,
Wenn er ein Menschenmann wäre.

2018 am Tag vor Weihnachten
Bat er mich, zum Theater zu kommen,
Und trug seine Gaben heraus: drei Rosen,
die er nur durch ein W U N D E R
in den Schneemassen hatte finden können
und sagte
Diese herrlichen Blumen
Sind für dich.

Ich weiß
Es klingt wie erfundener Kitsch
Aber genauso war es.
Damals glaubte ich daran:
In jedem Schnee
besteht eine Chance auf
Blüte.

Ich weiß
Nicht jeder hat das Glück zu Lebzeiten
Bekanntschaft mit seinem Engel zu machen.
Seid aufmerksam: Meinen
Erkannte ich an dem Hund
Einem Beagle.


27.01.2022
U n b e l i e v a b l e 3

Wusstest du -
„Adam verbrachte von der Erschaffung bis zum Sündenfall nur 7 Stunden im Paradies: nach alter Zählweise von der 1. bis zur 7. Stunde nach Sonnenaufgang, oder von 6 Uhr Früh bis 1 Uhr mittags nach der uns vertrauten Zählweise“
?
Ich bin sprachlos. Das ändert alles.

Und wusstest du -
„Adam verbrachte von der Erschaffung bis zum Sündenfall nur 7 Stunden im Paradies: nach alter Zählweise von der 1. bis zur 7. Stunde nach Sonnenaufgang, oder von 6 Uhr Früh bis 1 Uhr mittags nach der uns vertrauten Zählweise“
?
Ich bin sprachlos.
Letztlich ändert das gar nichts.


PORTRÄT AUF BESTELLUNG
(Anm. d. Übers: der Mann spricht auf Russisch)

Frühling.
„Künstlerin!!!“, schreit Tuko immer, wenn er mich im Hof sieht. „Wann malst du ein Porträt von mir?!“
„...“

„Künstlerin, wann malst du denn ein Porträt von mir?“
„...“

„Künstlerin, du bist so schön! Wann malst du ein Porträt von mir?“
„...“

„Künstlerin, komm her! Willst du Wurst? Sie ist gut!“
„...“

Sommer.
„Künstlerin, wann malst du ein Porträt von mir?“
„...“

„Künstlerin, du hast keinen Mann, ich hab‘ keine Frau. Lass uns heiraten.“
„...“

„Künstlerin, gib mir ein paar Erdbeeren!“
„...“

„Ich weiß, dass du ein gutes Mädchen bist. Wann zeichnest du wieder?“
„...“

Herbst.
„Künstlerin, wann malst du endlich ein Porträt von mir! Himmel, was für einen Hintern du hast!“
„..“

„Künstlerin, heute Abend fick‘ ich dich!“
„!“

„Künstlerin, einen Scheiß bist du Künstlerin! Die dort ist eine!“
„.“

„.“
„.“

Winter.
„Servus.“
„.“

„Hallo.“
„.“

„Hallo, Künstlerin.“
„.“

„Hallo, Schätzchen.“
„.“

Frühling.
„Künstlerin, wann malst du ein Porträt von mir!!?“
„...“


02.02.2022

ECOLE NORMALE

Meine Flamenco-Lehrerin sagt: Tanzen, das sind nicht die Schritte, sondern was zwischen den Schritten ist.
Mein Literaturlehrer sagt: Ein Text, das sind nicht die Wörter, sondern was zwischen den Wörtern ist.
Mein Bildhauerlehrer sagt: Die ausdrucksvollste Form ist der Raum zwischen den Formen.
Mein Geschichtelehrer sagte: Das Interessanteste spielt sich im Grenzland, an der Grenze, dazwischen ab.

Ein Gedanke taucht auf:
Wir, das sind gar nicht wir, sondern was zwischen uns ist.
Dann ein neuer Gedanke:
Deshalb sind wir da
Damit es ein Zwischen
gibt.


10.03.2022

BABYLON SPRICHT (1-15)
(die meisten Wortmeldungen ertönen auf Ukrainisch, ein Teil auf Russisch, zwei auf Ungarisch und eine auf Englisch)
- Ich verstehe ... die Deutschen, aber Russland?!!!!
- Endlich begreift ihr‘s. Russland ist eure liebste Hure.
- Der Krieg ist zu ...
- Mama, stell dir vor, Vika hat gedacht, Bomben sind solche Kugeln, die man in die Badewanne wirft ...
- Oh Gott ...
- Angeblich werden die Grenzen morgen oder übermorgen geschlossen ...
- Jetzt lässt man alle raus, sogar ohne Pass. 1940 hat man Benjamin nicht nach Spanien gelassen, weil er kein Visum hatte ... Er hat sich das Leben genommen.
- Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich habe einen Jungen, der Autist ist, und ein acht Monate altes Baby.
- Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen, wir haben genug Essen!
- Verstehst du, sie haben alles verloren. Alles.
- Ich danke ihnen! Von ganzem Herzen!
- Einen schönen Tag noch! Einen wunderschönen Tag.
- Es wird keinen Krieg geben ...
- Aber ukrainischen Braten habt ihr nicht.
- Kein Wunder – an der Grenze ist ja der Teufel los ...
- Singt, ich bitte euch, singt ...
- ... im Krieg bereichert man sich ...
- Gute Leute, helft einem Krüppel mit den Arztkosten!
- Wie kann das sein, Frau Eva? Wieso kann niemand diesen putin umbringen?
- Frau Ilona, es ist unmöglich, er versteckt sich im Bunker...
- Sind selbst in ihr Berlin gefahren und wir müssen unser Land verteidigen ...
- Sie sind schon hier, gehen aber herum wie Zombies.
- Denk an unseren Sex ...
- Der Krieg ist zu …
- Ihr Hurensöhne sollt schrecklich leiden, drei Milliarden Jahre in der Hölle schmoren und dann verrecken!
- Und sie verreckten noch eine Million und fünfhundert Jahre.
- ... ich will, dass sie eine Million Jahre leiden, ewig in der Hölle schmoren, und dann verrecken, dass sie noch eine Million fünfhundert Jahre vor sich hin sterben und dann in Den Haag vor Gericht stehen.
- Du bist mein Ein und Alles.
- ... niemand werden, der sich über Leichen freut.
- Sie hat das Chinchilla zu Hause gelassen. Können Sie die Tür einschlagen? Es muss gefüttert werden.
- Schöne Frau, gib mir ein paar Hrywnja! Gott beschütze dich!
- Ihre Katze hat Epilepsie. Such in den Apotheken nach Medikamenten. Solche haben wir nicht. Nein, es sind welche, die auch Menschen nehmen. Menschenmedikamente.
- Aber ich kann hier nicht leben! Ich verstehe nichts!
- Er hatte eine Besprechung mit der UNO, und der Kleine wollte ständig auf seinen Schoß ...
- ... die Schweine haben mir zwei Ladungen Hilfsgüter abgenommen.
- Dass nur alles ruhig ...
- Sie ist im siebten Monat schwanger, ihr Mann ist in der Türkei, der Ältere 7 Jahre alt, sie haben beide Covid, ständig fallen Bomben, kannst du ihnen Lebensmittel bringen? Sie brauchen ...
- Der Arm ist abgerissen ...
- Sie sind im Keller ...
- Das war eine Explosion.
- Nordkorea ...
- Zivilisation ...
- Zahnbürsten, Seife ...
- Du musst nicht denken. Mach, was ich sage.
- Aber nein, er ist einfach gestorben. Auf natürlichem Weg. So etwas kommt vor.
- Du wirst deine Trampoline bekommen, mein Schatz, etwas später.
- Bitte geben Sie das Sturmgewehr weg. Ich bin Journalist ...
- Wir sind keine Programmierer, aber wir kennen uns mit Computern aus ...
- Sie wollen, dass man sie mit einem Kleinbus nach Italien bringt, mit dem Bus, sie haben Katzen, drei Katzen, sie können zahlen, sie werden bezahlen ...
- Unter Beschuss ...
- Ich liebe dich jede Sekunde.
- Schusssichere Westen, Wärmebildkameras ... Funkgeräte ...
- Maniküre?
- ... 2014 wurde er bei der Stadt Schtschastja verletzt. Jetzt ist er irgendwo in der Region Schytomyr. Er hat ein Foto geschickt: eine Dorfhütte, er und sein Kollege schlafen auf einem Bett, angezogen, in Stiefeln, daneben das Gewehr– man könnte verrückt werden ... vor Gefühlen ...
- Ehre den Helden!
- ... Windeln ...
- ... eine Panzerkolonne ...
- Eine Geburtsklinik wurde in die Luft gejagt ...
- ... bei uns ist alles gut.
- Ich will nach Hause. Ich will in meinem eigenen Bett aufwachen - wie früher - wenn alle noch schlafen, im Pyjama in die Küche gehen, Kaffee kochen, die Tasse herrichten, die Maria aus Saint -Malo mitgebracht hat, aus dem Fenster schauen, in den Himmel schauen, und es soll ruhig sein ...
- Ich weiß. Halt durch, Schätzchen. Noch ein bisschen.

TEIL 2

23.03.2022
DARF ICH EINE PFLANZE WERDEN?

Es gibt Momente im Krieg und nicht nur
Denn in Wahrheit herrscht immer Krieg
Wenn das menschliche Sein so unerträglich wird
Wenn der einzige Weg des eigenen Seins
Die Einordnung in die Pflanzenwelt ist.
Obwohl das leider von keinem Naturgesetz
Vorgesehen ist.
Und nur als Fantasie über
die einzige Möglichkeit des Seins existiert.
Ein kleiner Junge zeichnet den Krieg:
Zwei Figuren: eine stehend und stolz
Die zweite nichtsnutzig daliegend
Unter der ersten steht Unsterblicher Selenskyj
Unter der zweiten verreckter putin
So konstruiert er erneut den Mythos von Gut und Böse
Die ewige menschliche Fantasie
Dass das Böse für immer verschwindet
Und es nicht einmal verdient
Tot genannt zu werden
Sondern verreckt, denn der Tod
Ist ein allzu mächtiges Wort für das Böse.
Putin schreibt man seit langem klein
nicht nur um die Nichtigkeit des Menschen
mit diesem Namen zu unterstreichen
sondern weil putin
längst ein Phänomen und kein Eigenname
mehr ist. Viele meinen,
putin sei ein ureigener Teil
jedes Russen, und haben recht,
aber die bittere, unerträgliche Wahrheit ist, dass
putin ein Teil jedes Menschen ist
ein kleiner oder ein mittelgroßer vielleicht
oder ein riesiger wie eben bei putin selbst.
Doch im Krieg ist es unmöglich so zu denken
unerträglich so einen Blick zu haben
- man könnte mich dafür kreuzigen
weil ich das berühmte Thema erweckte
ohne den putin in mir zu bemerken
- denn er handelt maskiert.
Die Wahrheit erkennen künftig
Die Kinder des kleinen Jungen,
Der nach dem Krieg den Krieg vergessen wird,
um weiter leben zu können, doch
Seine Kinder beginnen nach einiger Zeit
Nachzufragen und sich zu erinnern.
Werden erinnern, damit „Nie wieder“.
Noch einmal.
Aber vielleicht bin ich dann eine Pflanze?
Ein Baum.
Ein Nussbaum.


04.04.2022

SELBSTPORTRÄT, GEBET

Als griechisch-römisch Katholische
Als Phänomenologin und Taschenphilosophin
Als Geisha Flamenco-Tänzerin Priesterin und verlorene Tochter
Als Dichter Dichterin Dichterin mit Eiern und Dichterin mit üppigen Formen
Als Stammgästin von Bars Spelunken Liebling der Misanthropen Einsiedlerin
Als ewige Neophytin im Erlernen von Sprachen einschließlich dem Ukrainischen
Als schlaffe Stoikerin und asketische Hedonistin
Als Künstlerin
Reich an Enttäuschung Verlust Betrug Verzicht
Expertin in Sachen Tod und Ignorantin in Lebensfragen
Entsetzt vom Beweis der Menschheit bewegt vom Beweis der Menschlichkeit
Als beste Freundin meiner besten Freundin
Als beste Freundin meines Kochs
Als Ex-Frau und Ex-Schwägerin, als Herumtreiberin
Als Kinderbuchautorin, Geliebte und Lehrerin von Ergriffenheit in der Strafkolonie für Psychoanalytiker
Als einmal aus dem Paradies Vertriebene und mehrmals ins Paradies Geladene
Verführt, verführerisch, eine Verführerin
Als alte Frau, als junge Frau, als Mädchen
Als Mensch mit kleinem Anfangsbuchstaben
Als Punkt
Wage ich auf die ewige Frage:
Soll es sein oder soll es besser nicht sein?
zu bitten:
Es soll sein!
Vater!
Unser!


05.04.2022

KNOSPE

Ich habe den halben Krieg herausgeweint
Ich habe die halbe Liebe herausgeweint
Der halbe Krieg ist geblieben
Die halbe Liebe ist geblieben
Die halbe Liebe hat Knospen nach außen getrieben
Der halbe Krieg Wunden nach innen geschlagen
Erklärt mir
Wie ist der Krieg mit der Liebe verbunden
Erklärt mir
Wie ist die Liebe mit dem Krieg verbunden
Wunden und Knospen
Knospen und Wunden.

Einen Augenblick lang
Wurde meine Liebe
Zum Krieg. Gut
Möglich, dass dies
Der Moment der Wahrheit war.


22.05.2022 -26.09.2022
L o n g i n g 3

QUADRAT DER SEHNSUCHT

Ich warte auf den Moment
wenn die Sehnsucht ein behaglicher Ort wird
ich bestimme einen Ort für die Sehnsucht –
vielleicht ein Quadrat –
es umfasst alles
wie die Sehnsucht alles umfasst
besonders das Warten.

Ich benutze mein Quadrat der Sehnsucht
als Yogamatte
mal hart wie Holz
mal weich
wie Gras und manchmal
wie eine Pfütze mit
Kirschblütenblättern bestreut.

Schmutziges Wasser das Regen war
dringt in mich ein als bitteres Wissen zwischen den Blütenblättern
ergießt sich salzig als Meer
rund um meine Insel
um mein rundes Quadrat –
und keine Flasche mit Brief von dir
wird ans Ufer geschwemmt.

Mein Organ – zuständig für die Verbindung von Herz und Verstand –
hat keinen Namen denn sein Platz im Körper
verändert sich ständig es irrt umher
nicht wie andere Organe –
mal in der Ferse und
mal im Bauch, mal auf der Zungenspitze
wäscht es den Schmerz aus dem Dreck.

Mein Organ ohne Namen
- zuständig für das Schenken
und somit fürs Vergeben
denn schenken bedeutet vergeben –
das ständig umherirrt
findet in meinem Herzen Platz und
zärtlich nenne ich es „zartes Herz“.

Einst schenktest du mir
Teile deiner Kindheit
die Biographie deiner Wünsche –
die krumme Linie zu deinem zarten, im Dickicht des Paradieses verborgenen Herz
und meine Liebe zur Geradlinigkeit
führte mich in die Irre –
krumme Linien führen zu dir, nicht gerade.

Einmal werde ich mein Quadrat der Sehnsucht als fliegenden Teppich benutzen
in krummen Linien
trägt er mich in den Rest deiner Kindheit –
die du mir nicht schenken konntest –
erwachsene Freude erfüllt dich
Und dein wiedergefundenes, mutig erschaffenes zartes Herz erkennt die Freude des Schenkens
und des Vergebens denn schenken heißt auch vergeben.

Ich suche einen Ort
an dem die Sehnsucht zu einer behaglichen Zeit wird
ich bestimme eine Zeit für die Sehnsucht –
vielleicht j e t z t – im Jetzt
machen Erinnerung und Traum Bekanntschaft
wie in der Sehnsucht Vergangenheit
und Zukunft.

Ich warte nicht auf die Zeit
wenn die Sehnsucht ein behaglicher Ort wird –
ich wurde selbst die Zeit
ich wurde selbst der Ort
ich wurde selbst die Sehnsucht
zum Quadrat.


14.06.2022

LIBELLE

Für Warwara

Entgegen dem Gesetz ging ich
Zwei, ja drei Mal in ein und denselben Fluss.
Im Sommer führt mein Fluss wenig Wasser
Und ich wage das Experiment
Ihn zu durchqueren
Ich steige auf Steine
Studiere bedacht den Grund
Wollte keine nassen
Füße bekommen
Um nicht voreingenommen zu sein
Um Abstand zu halten
Um zu begreifen warum
Ich immer wieder dieselben Fehler mache
Und warum
Ein Tropfen
In den letztlich der ganze Ozean passt
Dem Menschen nicht ausreicht
Um zu verstehen
Warum das Eintauchen
In eine Million
Tropfen
So begehrenswert ist.
Die Sonne brennt vom Himmel.
Die Teenagerin, die hinter mir geht,
Rastet, sie sitzt auf einem Stein und
Lässt die Füße ins Wasser baumeln.
Ich mache es ihr nach.
Meine innere Landschaft
Verschwimmt mit der äußeren –
Fantasie und Realität
Werden eins
Und das Verlangen zu begreifen quält mich nicht mehr
In dieser Konstellation mit ins Wasser hängenden Füßen
Auf einem Stein sitzend
Neben dem Mädchen
Das eine Libelle auf Schilfrohr
zu fotografieren versucht


17.07.2022-20.07.2022
M u s e 1

MEINE MUSE IST EIN MANN

Die Muse verließ mich
auf einer dunklen Straße
wenige Minuten vor der Ausganssperre
mit den Worten
„Ich werde dich nicht betrügen“.
Wer außer der Muse
wagt es im Augenblick des Betrugs
solche Worte zu sagen?

Meine Muse ist ein Mann, dessen Schönheit
Frauen die Sprache
kostet, oder ihnen
die Sprache schenkt.
Ich gehöre zu diesen
und jenen.

Meine Muse ist ein Mann von Widersprüchen
deren Oberfläche man als Zauber oder
als Arglist versteht. Ich aber wollte
mit dem Sternenhagel meiner Wünsche
die Widersprüche
durchbrechen.

Meine Muse ist ein Mann mit Lippen in einer Farbe,
mit der man sich maximal nah
vermengen will.
Die Form dieser Lippen will jeder Finger
erinnern, der sie berührt.
Und auch jeder Blick.

Meine Muse ist ein Mann mit einem Blick,
in dessen Tiefe ich meine Abgründe sah,
und an dessen Oberfläche meine Freude
die ich für seine Freude hielt.
Meine Abgründe
hielt ich für nichts.

Meine Muse ist ein Lehrer der Wissenschaft vom Betrug
als Merkmal der Treue
und von der Liebe, durch Schuld
erhellt – rein wie die Unschuld.
Ich tat alles, um seine
Lieblingsschülerin zu werden.

Meine Muse ist ein Mann, der von sich
nur mit fremden Stimmen zu reden vermag,
doch so, dass die fremden Stimmen zu seiner eigenen werden.
und die eigene zur ureigenen.
Auf der Suche nach seinem Widerhall
hörte er die wichtigsten meiner Worte nicht.

Meine Muse ist ein Mann, der mich verließ,
als wäre es kein Verlassen; mit den Worten
„Geh gerade, lass dich von der Kreuzung nicht täuschen“ zeigte er mir den Weg.
Immer noch gehe ich auf der dunklen Straße. Ich habe Angst.
Aber die Kreuzung meiner Abgründe,
sie ist wahrlich immer bei mir.
Die Kreuzung unserer Widerhalle.
Erhellt den Weg.

 

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Maria Weissenböck