Gedichte Uschhorod I-V

Dagmar Leupold

Uschhorod I
 
(September 2023)
 
Transkarpatien. Klingt wie
ein Versprechen: auf Räuber-
geschichten mit gutem Ausgang,
auf Holzfeuer und Hemden, bunt bestickt.
 
Wenn man nichts weiß, ist
die Welt im Nu Folklore und
dreht sich gemütlich um eine
Handvoll Anekdoten.
 
Doch auch hier herrscht Krieg,
und beim Luftalarm klafft
der tadellose Himmel jäh auf
wie eine unversorgte Wunde
 
mit Brandfraß.


Uschhorod II
 
Dem Puschkin hat man
den Kopf abgeschlagen,
er heißt nun, kopflos, Joe Dassin,
 
Sänger mit Wurzeln in Odessa,
von Amerika aus berühmt geworden,
mit einem Lockenschopf ähnlich
 
dem Puschkins. Niemals aber
wurde er zur Verehrung von
oben herab in Stein gemeißelt.
 
Um den Sockel herum
Trittspuren
der Nähe.


Uschhorod III
 
Um die Kreisverkehre herum
adrette Blumenrabatten, Astern
und Chrysanthemen, Boten des Herbsts.
 
Keine rußgeschwärzten Ruinen,
keine Beschussspuren von Artillerie –
vom Usch her weht ein Wind, satt
 
an Flussduft und Gebirgsluft,
Karpatencocktail. Am Ufer
der winzige Platz der Freiheit:
 
ein rotes Lämpchen auf
dem Kopf einer Miniatur-Miss Liberty
blinkt nachts, Zündholz
 
der Hoffnung.


Uschhorod IV
 
Vor dem Eingang eine
tote Taube, die Flügel
gestreckt wie im Flug,
Starfighter, geköpft.
 
Sauberer Schnitt, als hätte
ein Chirurg das Geschäft
des Tötens erledigt und
den Kopf als Exponat
 
für ein Museum des Kriegs
präpariert, unheiliger Geist,
von wegen Colomba. Vielleicht
 
hat man dich, Friedenstäubchen,
für eine Drohne gehalten, wie
neuerdings alles, was fliegt –
 
die freien Gedanken zuerst.
 
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger sie schießen.
 
O doch.


Uschhorod V
 
Märchenstunde: Hier lebten (und leben)
die Huzulen, in den waldreichen Tälern,
den windzerzausten Hochebenen, die
 
Trembita erklingt, lang wie ein Alphorn,
Kreistänze, fröhlich, Weidenrutenkörbe, Mieder
und Schürzen, Fellbehang und Milchkrug.
 
Vorgestern als Utopie.
Gestern war längst Krieg