Die Brücke aus Papier war in den letzten fünf Jahren ein wichtiger kultureller Vermittler zwischen der Ukraine und Deutschland. Sie stellte vielfältige persönliche Kontakte her und gewann einen halbinstitutionellen Charakter, fand allerdings an unterschiedlichen Orten in der Ukraine statt, nicht in Deutschland. Ihre Initiatorin und ihre Teilnehmer_innen reagierten mit ihrem Engagement auf ein wahrgenommenes Defizit bzw. einen Mangel. Es war selbstverständlich der Euromajdan von 2013 bis 2014, der dieses Fehlen als Defizit bewusst machte. Als Historiker ist mir bereits vor einigen Jahren deutlich geworden, dass dieses Thema nicht nur eine politische und aktuelle, sondern auch eine wichtige historische Dimension hat, die wir ansprechen und untersuchen müssen. Denn kulturelle Vermittlung ist immer auch gewachsen. Formen ihrer Institutionalisierung – die Gründung einer Botschaft, einer Kommission, eines Institutes – sind nicht nur ein Anfang, sondern auch ein Ergebnis eines vorherigen Prozesses.
Ich möchte heute einige erste Ideen zu diesem Thema präsentieren, in dem ich einen Rückblick auf das 20. Jahrhundert werfe. Um das Thema etwas zu schärfen, weise ich zunächst auf folgende drei Punkte hin:
I.
Erstens hat es zahlreiche und vielfältige Vermittler zwischen Deutschland und Polen sowie Deutschland und Russland gegeben. Der neue Leiter des deutschen Polen-Instituts in Darmstadt Peter Oliver Loew hat vor einigen Jahren das Thema indirekt angesprochen, in dem er eine Geschichte der polnischen Minderheit in Deutschland veröffentlicht hat. Darin stellte er auch die Frage der Vermittlung.¹ Als die Gewerkschaft Solidarnosc zu Beginn der 1980er-Jahre in Polen verboten wurde, kam es in der westdeutschen Gesellschaft zu einer breiten Solidarisierung mit Polen, die allerdings bei den Schriftstellern und Schriftstellerinnen nicht ganz so breit war. Aber ich erinnere mich noch an eine wichtige Pressekonferenz von Heinrich Böll, damals PEN-Vorsitzender, und einigen anderen Schriftstellern, die im Jahr 1981 zur Solidarisierung mit der polnischen Freiheitsbewegung aufrief. Schon zu Sowjetzeiten gab es auch zahlreiche kulturelle Vermittler zwischen Russland und Deutschland, zum Teil aus dem Dissidenten- und Emigrantenmilieu. Ich möchte den in Kiew geborenen Moskauer Germanisten Lew Kopelew als ein Beispiel für einen solchen Vermittler in den 1970er- und 1980er-Jahren nennen, der über einen längeren Zeitraum an der Wuppertaler Universität ein Forschungsprojekt über die gegenseitigen deutsch-russischen kulturellen Kontakte und Wahrnehmungen leitete. Aus diesem Projekt ist eine mehrbändige, noch heute relevante Publikation hervorgegangen, die vom Mittelalter bis zu seiner Gegenwart führte. Hier ist zunächst nicht wichtig, dass das Leben und Denken Kopelews auch in vielfältiger Weise mit der Ukraine verknüpft gewesen ist. Aus dem Umkreis seiner deutschen Freunde weiß ich, dass Kopelew seine Erinnerungen zunächst ‚Von Kiew nach Köln‘ betiteln wollte, aber der Journalist Klaus Bednarz davon abriet und den Titel ‚Von Moskau ins Rheinland‘ vorschlug, da sich das Buch dann sehr viel besser verkaufen ließe. Hier möchte ich hervorheben, dass es keine generellen Mangeln an kulturellen Vermittlern zwischen Deutschland und dem östlichen Europa gegeben hat, wie die Verweise auf Polen und Russland zeigen. Stattdessen gibt es spezifische Gründe für den Mangel an kulturellen Vermittlern zwischen Deutschland und der Ukraine.
Zweitens möchte ich zwischen kulturellen Vermittlern und Experten unterscheiden. Es ist nicht ganz einfach, den Unterschied zwischen beiden Begriffen festzumachen. In der deutschen Sprache ist der Begriff kulturelle Vermittler verständlich, klingt aber etwas steif und neudeutsch. Es gibt ältere und einfachere Wörter wie Grenzgänger oder Brückenbauer, die ähnliches meinen.² Der Begriff kulturelle Vermittler ist vielleicht auch zum Teil eine Rückübersetzung aus dem Englischen, in dem es entsprechende Begriffe wie cultural brokers oder intermediaries gibt. Im Jahr 2014 und danach wurde in der deutschen Öffentlichkeit mit Bezug auf die Ukraine auch häufig von einem Mangel an Experten gesprochen. Ukraineexperten gab es sowohl unter den deutschen Historiker_innen als auch bei den Literaturwissenschaftler_innen und in anderen akademischen Disziplinen, wenn auch nicht sehr viele. Weniger Expert_innen fanden sich unter den Politikwissenschaftler_innen, da hier die Osteuropaexpertise in den Jahren nach 1991 stark abgebaut worden war. Das moderne Expertentum, basierend auf spezifischen Wissensformen, entstand in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts, und das 20. Jahrhundert ist auch als das Jahrhundert der Experten beschrieben worden. Experten, die zum Beispiel der Regierung beratend zur Seite stehen und über die Medien in die Öffentlichkeit wirken, sind aber nicht unbedingt lebensgeschichtlich mit einem anderen Land verbunden. Insofern unterscheiden sich – trotz Überlappungen – beide Gruppen sowohl von den biografischen Hintergründen als auch von den Zielen ihres Tuns her.³
Außerdem möchte ich noch auf einen dritten Punkt hinweisen. Besondere Bedeutung haben unter den kulturellen Vermittlern charismatische Persönlichkeiten, die zugleich öffentliche Personen sind. Häufig sind solche Personen hauptberuflich Journalisten oder Schriftsteller und kulturelle Vermittler quasi nur in ihrem Nebenberuf. Sie können aber zweitweise sozusagen hauptberuflich zu kulturellen Vermittlern werden. Unbedingt hinweisen möchte ich darauf, dass es neben den häufig bekannten öffentlichen kulturellen Vermittlern die vielen weniger bekannten Vermittler auf lokaler oder regionaler Ebene gibt, zumindest in den letzten Jahrzehnten, wohl weniger in der Zeit davor. Sie sind historisch einzubeziehen, auch wenn sie häufig weniger geläufig sind oder nichts über sie überliefert ist. Man kann durchaus argumentieren, dass in der weiteren Gegenwart ihre Präsenz und Aktivität entscheidend oder entscheidender geworden ist. Denn kulturelle Vermittlung ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht auf politische Instanzen oder Beziehungen konzentriert ist und reduziert bleibt und der über die kulturellen und anderen Elitegruppen hinausreicht.
II.
Der Erste Weltkrieg und die Jahre danach sind uns heute weit entrückt und längst nicht so präsent im Gedächtnis wie der Zweite Weltkrieg, die darauf folgenden Jahrzehnte des Kalten Krieges, die Jahre 1989 bis 1991 sowie die Gegenwart. Und doch muss ich hier ansetzen, denn in diese Zeitperiode fallen die erste Erklärung einer ukrainischen Staatlichkeit, ein erster Friedensvertrag zwischen den Mittelmächten mit Deutschland als führender Macht sowie der Ukraine, der sozialistischen, aber nicht bolschewistischen Ukraine der Zentralrada, in Brest-Litowsk sowie die deutsche (oder deutsch-österreichische) militärische Besatzung der Ukraine (1918). Das deutsche politische / geopolitische Denken hatte während des Ersten Weltkriegs begonnen, sich mit der so genannten ukrainischen Frage zu beschäftigen. Die Ukraine bzw. die potenzielle oder zukünftige Ukraine wurde in diesem Denken als Teil der so genannten Randstaatenpolitik oder Dekompositionspolitik diskutiert: eine pro-ukrainische Haltung meinte eine anti-russische Haltung, während es mit der Einbeziehung Polens in diesem Kontext schwieriger war. Der Erste Weltkrieg führte auch dazu, dass erstmals ukrainische Kriegsgefangene in großer Zahl in Deutschland in Lagern lebten, getrennt von andersnationalen Kriegsgefangene, die zum Teil nach dem Ende des Krieges nicht zurückkehrten. Teile von ihnen akkulturierten sich in der Folge auch in die russische Emigration, zumal keine Pässe mit dem Eintrag ‚Ukrainer‘ geschaffen wurden. Mit der Etablierung bolschewistischer Herrschaft kam eine politische Emigration hinzu, die sich zunächst häufiger in Wien und Prag niederließ, später aber auch in München und Berlin. Die ukrainische politische Emigration in Berlin war durch Hetman Pavlo Skoropads’kyj und seine Anhänger geprägt, zu denen zum Beispiel auch Vjaceslav Lypyns’kyj und Dmytro Dorosenko gehörten. Ihnen gelang es nach mehreren Jahren Vorarbeit, 1926 das Ukrainische Wissenschaftliche Institut in Berlin zu gründen. Es entfaltete in Berlin in den späten 1920er- und in den 1930er-Jahren ein aktives wissenschaftliches Leben, unterhielt auch vielfältige Kontakte zu staatlichen Dienststellen, blieb aber gesellschaftlich doch sehr isoliert.⁴ Insofern lässt sich hier kaum ein kultureller Vermittler finden.
Auf deutscher Seite sticht in dieser Zeitperiode Paul Rohrbach (1869-1956) heraus. Er war ein aus dem baltischen Kurland stammender ausgebildeter evangelischer Theologe, der sich zunächst von 1903 bis1906 im Kolonialdienst in Deutsch-Südwestafrika betätigte, danach während des Ersten Weltkrieges im Auswärtigen Amt in Berlin arbeitete und sich seit dieser Zeit bis zu seinem Lebensende 1956 immer wieder – wenn auch nicht kontinuierlich – mit der Ukraine beschäftigte. Rohrbach war vor allem ein Publizist und ein stetiger Leitartikler in großen deutschen Zeitungen während der Weimarer Republik. War er aber ein kultureller Vermittler? Rohrbach schrieb viel über die Ukraine, bereiste sie aber nur ein einziges Mal, und zwar im Mai 1918, als die sozialistische Rada gerade mit deutscher Unterstützung durch das autoritäre Skoropads’kyj-Regime ersetzt worden war. Deutschland stützte die Ukraine militärisch gegen die russischen Bolschewiki, plünderte das Land aber ökonomisch zusammen mit Österreich aus – und Rohrbach wandte sich gegen diese Politik. Er gab von Dezember 1918 bis Ende 1922 die erste in Deutschland erscheinende Zeitschrift zur Ukraine heraus: „Die Ukraine. Monatsschrift für deutsch-ukrainische Volks-, Wirtschafts- und Kulturpolitik“. Gleichzeitig gründete er mit Zustimmung des Auswärtigen Amtes die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft; er war auch ihr Vorsitzender, Mychajlo Hrusevs’kyj und Oleksandr Sevrjuk, der erste Botschafter 1918 in Berlin, saßen im Ehrenvorstand.⁵ Seit 1915 sprach sich Rohrbach regelmäßig für eine selbständige Ukraine als Mittel der Deimperialisierung Russlands aus. Hier ein Zitat aus einer Veröffentlichung von 1915: „Die letzte und entscheidende Voraussetzung dafür, daß die russische Macht aufhört, eine zunehmende Gefahr für Deutschland und die europäische Kultur zu bilden, ist die Lostrennung der Ukraine von dem Gesamtkörper des moskowitischen Rußland.“⁶ Ich zitiere ihn wieder mit einer Äußerung aus dem Jahr 1926, „daß die ukrainische Frage die osteuropäische Kernfrage ist“.⁷ Ähnliche Äußerungen sind auch aus den Jahren nach 1945 überliefert, in denen er die Sprengkraft der ukrainischen Frage für das sowjetische System hervorhebt.
Dieser instrumentelle Charakter der deutschen Haltung zur Ukraine, die sich bei Rohrbach und einigen anderen deutschen Autoren zeigt, bildet eine lange, dominante Tradition im deutschen politischen Denken und wird vielleicht erst heute politisch überwunden. Sie wurzelt im Denken in Großmachtkategorien und ließ und lässt sich wohl nur europäisch überwinden. Rohrbach war allerdings kein Kulturvermittler im genuinen Sinne, er fungierte lediglich als Herausgeber einer Zeitschrift und als Vorsitzender einer Vereinigung. Zwar hatte er Kontakte ins ukrainische Emigrantenmilieu, aber keine vielfältigen und gewachsenen Kontakte in die ukrainische Gesellschaft Polens oder in die Sowjetukraine. Doch andere Persönlichkeiten mit einer ähnlichen öffentlichen Wirkung kenne ich nicht. Die großen deutschen Sowjetunionjournalisten der 1920er-Jahre wie etwa Arthur Just haben kaum über die sowjetische Ukraine geschrieben, Schriftsteller wie Alfred Döblin oder Joseph Roth, deren literarisches Thema Ostgalizien war, können auch nur bedingt als Kulturvermittler bezeichnet werden. Und ob es auf lokaler Ebene und / oder bei ehemaligen Kriegsgefangenen zu einem regelmäßigen kulturellen Austausch kam, darüber wissen wir fast nichts. Während des Holodomor gab es zum Beispiel über die deutschen Konsulate in der Ukraine Kontakte zwischen der katholischen Kirche Österreichs und Deutschlands in die Ukraine, aber lediglich zu den dortigen deutschen Gemeinden.
III.
Es ist wenig sinnvoll, von kultureller Vermittlung zwischen Deutschland und der Ukraine während der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu sprechen, auch wenn etwa einige Geschichten der Ukraine während dieser Jahre in deutscher Sprache erschienen, die wenig von nationalsozialistischem Gedankengut infiziert waren. Kunstraub, um ein Beispiel zu nennen, war viel typischer für diese Beziehungen, und dieser Kunstraub wird jetzt auch näher erforscht.
Auch für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Beispiele kultureller Vermittler mager. Nach 1945 lebten in den großen deutschen Städten zehntausende ukrainische Displaced Persons, hinzu kam eine neue Welle politischer Emigranten. Das europäische Zentrum für all diese Menschen war München bzw. Süddeutschland, hier entstanden auch kurzfristig einige Zeitschriften. Unter ihnen restrukturierten sich in der Folge die ukrainischen politischen Lager aus der Zwischenkriegszeit in Polen und aus der Kriegszeit, zum Teil auch aus den Jahren der Ukrainischen Revolution (z.B. Petljura-Regierung). Zu einem intensiveren Austausch mit der deutschen Gesellschaft ist es allerdings nicht gekommen.
Es scheint so, als ob die Vermittlung am ehesten über Polen und – in geringerem Maße – über Russland stattgefunden hat. Eng mit Jerzy Giedroyc und der polnischen Exilzeitschrift Kultura waren die beiden in Deutschland lebenden Publizisten und Wissenschaftler Borys Lewytzkyj (1915-1984) und Bohdan Osadczuk (1920-2011) verbunden. Beide wuchsen in der polnischen Westukraine der Zwischenkriegszeit auf, sind während des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland gekommen und konnten in den Nachkriegsjahrzehnten in Westdeutschland Fuß fassen und hier in deutschsprachigen Medien schreiben, und damit nicht in ukrainischen Exilzeitschriften wie der in München erscheinenden Sucasna Ukrajina / später: Suchasnist‘ und Widnowa. Sie waren allerdings nicht enger mit den amerikanischen Rundfunksendern Radio Free Europe und Radio Svoboda verbunden. Borys Lewytzkyj hatte noch in Lemberg studiert und promoviert. Er arbeitete nach 1945 in Düsseldorf beim Forschungsdienst „Osteuropa“ sowie bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, bevor er sich nach 1967 als freier Publizist in München niederließ und auch enge Beziehungen zur Ukrainischen Freien Universität pflegte, die nach 1945 eine neue Heimat in München gefunden hatte.⁸ Zwar publizierte er in den 1960er- und 1970er-Jahren einige wichtige Bücher über die Sowjetukraine, die sowjetische Nationalitätenpolitik und Polen. Personen, die ihn in diesen Jahren näher kannten, haben mir aber berichtet, dass er sich zeitweise sehr isoliert fühlte und seine Expertise nicht sehr nachgefragt war.⁹ Bohdan Osadczuk,1920 geboren und damit fünf Jahre jünger als Lewytzkyj, war dagegen erfolgreicher. In Berlin gelang ihm nach 1945 eine erfolgreiche Karriere als Journalist und Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin (seit 1966), der vor allem über Polen und die Ukraine schrieb und über ein vielgerühmtes Netzwerk an Kontakten verfügte. Als Journalist schrieb er u.a. regelmäßig für den Berliner Tagesspiegel und den Münchner Merkur (freier Journalist) sowie nach dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand von 1956 für die Neue Zürcher Zeitung (offizieller Korrespondent) über Polen, die Ukraine und die Sowjetunion und auch im Radio (RIAS) und im aufkommenden Fernsehen (ARD).¹⁰
Die (Sowjet-) Ukraine muss aber etwa in den 1960er- und 1970er-Jahren sehr weit vom deutschen Horizont entfernt gewesen sein. Osadzuk berichtet in einem Interview zum einen, dass er in dieser Zeit gute persönliche Beziehungen zu Willy Brandt hatte, zitiert zum anderen aber auch einen bezeichnenden Satz von Egon Bahr, dem damaligen Mitarchitekten der Neuen Ostpolitik: „Bahr behauptete, wir Ukrainer hätten mit den Deutschen kollaboriert.“¹¹
Von einer kulturellen Vermittlung über Moskau bzw. Russland lässt sich dagegen kaum sprechen. Der von mir zu Beginn erwähnte Lew Kopelew war einer der wenigen Vermittler russischer Kultur in Deutschland, die überhaupt die Existenz der Ukraine und der Ukrainer ansprachen. In seinen Erinnerungen berichtete er offen über seine eigene Verstrickung als junger Kommunist in den Holodomor zu Beginn der 1930er-Jahre, und er konnte damit mehr und eher als die ukrainische Emigration in Deutschland und Nordamerika oder die deutsche historische Osteuropaforschung die deutsche Öffentlichkeit über das Ereignis informieren. In einem Gespräch aus dem Jahr 1981 über die Bedeutung von Heimat und über die Unterschiede zwischen Vaterland und Heimat nannte er Kiew als seine „kleine Heimat“: „Für mich war es immer Kiew, die Stadt, in der ich meine ersten fünfzehn Lebensjahre verbrachte. Kiew sehe ich immer wieder mit einem ganz besonderen Gefühl, selbst wenn es nur auf einer Postkarte ist. (…) Ästhetische Empfindungen ebenso wie alle im Unterbewußtsein wurzelnden Gewohnheiten und Vorstellungen haften ja sehr stark, und die wird man nicht los, sein Leben lang. Für mich sind die ukrainischen Lieder für immer die schönsten: ukrainische Muster auf Hemden, auf Handtüchern sind für mich für immer überaus schön, obwohl, wenn ich rational denke, ich mir gut vorstellen kann, daß es anderswo auch viel Schönes gibt.“¹² Allerdings unterhielt er weder engere Beziehungen zu zeitgenössischen ukrainischen Künstlern noch sprach und dachte er über die politische Ukraine nach.
Die aus der Südbukowina stammende und seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland lebende Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Bürgerrechtlerin Anna-Halja Horbatsch (1924-2011) und ihr erst 1995 gegründeter Verlag Brodina für ukrainische Literatur waren dagegen für Westdeutschland zweierlei: Zum einen ein Kleinod und ein Zeichen für die Möglichkeiten von Vermittlung, denn in ihrem Hause traf sich seit den 1960er- Jahren die ukrainische Diaspora in einer Art „Salon“. Zum anderen war all dies aber zum anderen auch ein Zeichen für die furchtbare Marginalisierung der ukrainischen Literatur und Kultur in Westdeutschland bis zum Ende der 1980er-Jahre, denn Horbatsch erreichte mit ihrem Wirken nur einen kleinen Kreis.
IV.
Vor diesem Hintergrund sowie der Wiedervereinigung Deutschlands und der ukrainischen Staatsgründung 1991 lässt sich von einer Explosion der kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen in den letzten 30 Jahren sprechen. Doch die eigentliche Aufgabe ist wohl, diese neue Dynamik einzuordnen und damit auch zu relativieren. Vermittlung hatte jetzt andere, neue politische Bedingungen und Möglichkeiten. Gleichzeitig zeigten sich Beharrungskräfte und Grenzen.
Es entstand eine neue Vielfalt an Akteursgruppen, die ich ansprechen möchte. Vielleicht lässt sich auch von einer Demokratisierung von Vermittlung bzw. von dem Beginn eines Austausches im eigentlichen Sinne des Wortes sprechen. In Städtepartnerschaften entwickelten sich zum Beispiel auf lokaler Ebene neue Formen des Austausches, häufig durch Partnerschaftsvereine organisiert. Bis Mitte der 1990er-Jahre kam es zu folgenden Städtepartnerschaften: Baryshivka – Pullach bei München, Donezk – Bochum, Charkiw – Berlin? und Charkiw – Nürnberg, Lwiw – Freiburg, Odessa – Regensburg, Poltava – Leinfelden, Echterdingen und Filderstadt, Sumy – Celle, Symferopil – Heidelberg, Evpatoria – Ludwigsburg.¹³ In einer Publikation über „Nürnbergs ukrainische Partnerstadt“ Charkiw / Charkow aus dem Jahr 1990 heißt es: „Am 29. April 1990 wurde der offizielle Städtepartnerschaftsvertrag zwischen Nürnberg und Charkiw unterzeichnet. 45 Jahre nach Kriegsende setzte Nürnberg damit ein Zeichen der Versöhnung und Annäherung zwischen Ost und West im gemeinsamen Haus Europa. Charkiw als zweitgrößtes ukrainisches Industrie- und Wissenschaftszentrum schien für Nürnberg auch mancherlei wirtschaftliche und kulturelle Anknüpfungspunkte zu bieten. Die Städtepartnerschaft stieß auf großes Interesse und löste vielfältige Aktivitäten sowie einen regen Austausch der unterschiedlichsten Gruppen aus. Allein zu den ,Nürnberger Tagen in Charkiw’, die 1991 stattfanden, reisten über 150 Nürnberger Bürgerinnen und Bürger, von denen viele auch weiterhin Anteil an der Partnerschaft nahmen. Was hat nicht schon alles stattgefunden: gemeinsame Konzerte, Foto- und Bilderausstellungen, eine Ausstellung über Tschernobyl; Künstlerbegegnungen; Tanz- und Theatervorführungen; ein Symposium zur Aufarbeitung der Geschichte; Bürgerreisen; Praktika für Banker und Wirtschaftsleute in Zusammenarbeit mit der IHK; Ukraine-Tage der IHK; Austausch von Jugendlichen, Kunststudenten, Journalisten, Lehrern, Schriftstellern, Verwaltungsfachleuten; Hilfstransporte; Kindererholungsmaßnahmen und vieles mehr.“¹⁴ Die Broschüre hebt hervor, dass seit 1996 in jedem Jahr fünf Kunststudenten aus Charkiw für einen Monat Nürnberg besuchen sowie gleichzeitig Nürnberger Künstler und am Ende des jeweiligen Aufenthalts eine gemeinsame Ausstellung steht, unterstützt vom Bayerischen Kultusministerium unterstützt. Selbstverständlich entwickelten sich nicht alle Städtepartnerschaften so dynamisch, etwa nicht die Partnerschaft zwischen Regensburg und Odessa.
Eine zweite Form von Austausch und Vermittlung entstand in vielen Initiativen auf lokaler Ebene, die sich mit Zwangsarbeit bzw. Ostarbeitern beschäftigten. Das Thema erhielt in den 1990er-Jahren in Deutschland neue Aufmerksamkeit, weil die historische Erinnerung und der Generationenzusammenhang noch lebendig waren, aber sich auch ein Generationenwandel abzeichnete und mit dem medialen Wandel die Frage nach der Zukunft der Erinnerung stellte. Auch hier möchte ich mich auf ein Beispiel beschränken. Aus einer Initiative in der DDR erwuchs 1990 ein Projekt der linksprotestantischen Martin-Niemöller-Stiftung mit dem Dorf Peremoha, etwa 80 km nordöstlich von Kyiv gelegen. Das Dorf war beim Rückzug der Wehrmacht 1943 verbrannt worden, zuvor wurden viele Einwohnerinnen ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit deportiert. Über ein Jahrzehnt war der Pastor Stefan Müller die tragende Person dieses Projektes, weder ukrainisch- noch russischsprachig, aber mit unbändigem Einsatz. Die Geschäftsführerin der Niemöller-Stiftung, die bis heute so viel für den Austausch und die historische Verständigung mit diesem Dorf geleistet hat, hat mir folgendes über die alltagskulturellen Missverständnisse aus den 1990er-Jahren mitgeteilt: „Manchmal funktionierte die ,Kulturvermittlung’ überhaupt nicht, und ich dachte oft: Warum hat er uns das nicht gesagt. Er hätte es doch wissen müssen. Als wir beispielsweise unseren ersten Besuch im Dorf auf Vorschlag eines Pfarrers, der den Osten überhaupt nicht kannte, als ,Seminar’ planten, mit Vorträgen und Diskussion. Das ging gründlich schief. Zuerst wurde gefeiert, gegessen, getrunken und getanzt; danach waren wir bei den Vorträgen unter uns, weil ein wichtiger Boxkampf im Fernsehen kam. Immerhin konnte er aber dem Vorschlag, Einladungen zum Seminar in den Briefkasten zu verteilen, ein Veto entgegensetzen.
Das ,Vermitteln’ stieß auch an seine Grenzen angesichts der Idee, man könnte in dem Dorf bzw. Landkreis eine zivilgesellschaftliche NGO gründen, die auf Augenhöhe mit westlichen Partnern eine Begegnungsstätte plant und betreut. Und naiv war auch die Vorstellung, die Entscheidungsträger vor Ort seien unsere ,Freunde’ und daher immun gegen Bestechlichkeit und Unterschlagung von Geldern und Gütern. Auch von hart arbeitenden Menschen mit wenig Geld zu erwarten, dass sie sich ehrenamtlich für eine gemeinschaftliche Sache engagieren, war naiv.“¹⁵
Eine dritte Form des neuen Austausches hängt sicherlich mit dem Tschernobyl-Unfall von 1986 zusammen, der zu vielen Initiativen auf lokaler Grundlage führte, am prominentesten vielleicht Initiativen für so genannte „Tschernobyl-Kinder“. Häufig engagierten sich in den 1990er- und 2000er-Jahren diese Initiativen allerdings für Kinder aus Belarus, das noch schwerwiegender durch den Atomunfall betroffen war als viele ukrainische Gebiete. Ein Beispiel ist die 1990 gegründete Initiative „Hilfe für Kinder aus Tschernobyl e.V. Weimar“, die zu den Initiatoren der Tschernobyl-Hilfe in Deutschland gehört. In einer Broschüre aus dem Jahr 2003 wird hier an die Anfänge des Engagements und der Organisation erinnert, an spontanes persönliches Engagement von Gasteltern und Kinderheimen des Landkreises und der Stadt Weimar, die Kinder aus Belarus und der Ukraine zu so genannten Genesungsaufenthalten eingeladen hatten.¹⁶ Die Initiative erweiterte auch ihr Engagement, wollte den Kindern „eine andere Welt mit Schönheit und Ordnung“ vorstellen. So kam es zum Beispiel 1994 zu einem Auftritt eines Kiewer Kinderchores und einem Benefiz-Konzert in Weimar.¹⁷
Ich kann und will die Konjunkturen und Konflikte in diesem Austauschprozess nicht näher kennzeichnen, das Engagement ließ sicherlich seit den späten 1990er-Jahren nach. Zu einem umfassenderen Bild würde eine Kennzeichnung des Austausches im Bereich der Literatur – die neue Konjunktur der 1990er-Jahre –, Malerei, Film, bildender Kunst und auch der Geschichte gehören. Erkennbar ist, dass sich Austausch und Kenntnisse auf lokaler Ebene ausbreiteten, es neue institutionelle Formen gab und auch auf dieser Ebene charismatische Persönlichkeiten prägend waren, deren Lebenswege über einen längeren Zeitraum zwischen der Ukraine und Deutschland verflochten waren. Es wäre zu prüfen, ob sich dieser Austausch über die Jahre 2013 bis 2014 hinaus intensivierte oder verlagerte.
Stattdessen möchte ich mit zwei allgemeinen Beobachtungen zu den letzten fünf Jahren schließen. Zum einen zeigt sich seit dem Euromajdan und dem Krieg im Donbas eine verständliche Politisierungstendenz, welche die gesamten Austauschformen erfasst hat, wenn auch sicherlich Kultur und Politik unterschiedlich aufeinander bezogen wird. Hier gibt es bereits Ursprünge in der orangen Revolution von 2004, etwa mit der Gründung des Kiewer Dialoges. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den kulturellen und künstlerischen Eliten, wie sie etwa in diesem Projekt „Eine Brücke aus Papier. Mist z Paperu“ versammelt sind. Eine starke politische Aufladung ist auch ein Erbe der bilateralen Beziehungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und es ist mir ein Anliegen, darauf aufmerksam und es bewusst zu machen. In diesem Kontext lässt sich auch die Frage stellen, ob es Grenzen für bilateralen Austausch gibt, der keine dritten oder vierten Seiten mit einbezieht. Leben wir heute in einer global stärker vernetzten Welt als früher, die eine kritische Prüfung einer solchen Vorgehensweise nötig macht, war auch früher die Konzentration auf bilateralen Austausch irgendwie künstlich oder ist es eine notwendige oder natürliche Form des Austausches?
Zweitens möchte ich auf die weiterhin engen Grenzen der Institutionalisierung des Austausches zwischen der Ukraine und Deutschland hinweisen, auch mit Hinblick auf mein eigenes Gebiet, die Geschichte. Charismatische Persönlichkeiten können auf Dauer Institutionalisierung nicht ersetzen. Finanzielle Förderungen sind häufig nur auf Projektbasis zu bekommen. Es gibt ein Deutsches Historisches Institut in Warschau und in Moskau, aber keines in Kiew. Neue Formen der Institutionalisierung, die auf längerfristigen Austausch angelegt sind und sich von den Formen der Diaspora- oder Emigrantenmilieus des 20. Jahrhunderts abheben, sind für eine weitere Entwicklung nötig.
¹ Peter Oliver Loew: Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland. München 2014.
² Siehe Jan Claas Behrends, Jürgen Danyel (Hrsg.): Grenzgänger und Brückenbauer. Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang. Göttingen 2019.
³ Siehe zum Beispiel Martin Kohlrausch et al. (eds.): Expert Cultures in Central Eastern Europa….Osnabrück 2010.
⁴ Siehe Carsten Kumke: Das Ukrainische Wissenschaftliche Institut zu Berlin. Zwischen Politik und Wissenschaft. In: JGO 43 1995) Heft 2, S. 218-253.
⁵ Peter Borowsky: Paul Rohrbach und die Ukraine. Ein Beitrag zum Kontinuitätsproblem. In: Immanuel Geiss u.a. (Hrsg.): Deutschland in der Weltpolitik des 19. Und 20. Jahrhunderts, S. 437-462, hier S. 453.
⁶ Ebenda S. 441.
⁷ Ebenda S. 459.
⁸ Sie hatte allerdings kein Recht, Deutsche zu unterrichten (Kerski S. 120).
⁹ Über ihn siehe Kerski, S. 136-137.
¹⁰ Basil Kerski u.a. (Hrsg.): Ein ukrainischer Kosmopolit mit Berliner Adresse. Gespräche mit Bohdan Osadczuk (Alexander Korab). Osnabrück 2004, S. 104.
¹¹ Ebenda S. 113.
¹² Lew Kopelew: Worte werden Brücken. Aufsätze, Vorträge, Gespräche. München 1989, S. 141-143.
¹³ Hans-Joachim Torke, John-Paul Himka (eds.): German-Ukrainian Relations in Historical Perspective. Edmonton et al. 1994, S. 230.
¹⁴ Nürnbergs ukrainische Partnerstadt Charkow Charkiw Charkov. Hrsg. vom Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg und dem Partnerschaftsverein Charkov-Nürnberg. Nürnberg 2000, S. 14.
¹⁵ Aus der e-mail von Claudia Sievers.
¹⁶ Hilfe für Kinder aus Tschernobyl e.V. Weimar. Festschrift 111. Kindergruppe 11.11.2003, S. 5-6.
¹⁷ Ebenda S.7 und S. 9..