Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn wir hier über eine historische, im Josephinismus geschaffene Region, die nur zu einem Teil zur Ukraine gehört, sprechen, dann sind aus deutscher Perspektive mindestens zwei Vorannahmen einzukalkulieren. Auf der einen Seite eine fast schon mythische Wahrnehmung des deutschen und jüdischen Czernowitz und eventuell des nördlichen Teils der Bukowina, auf der anderen Seite eine fast völlige Unkenntnis, was das rumänische Cernăuţi, das polnische Czerniowce oder eben das ukrainische Černivci betrifft. Diese Unkenntnis lässt sich ohne weiteres auf die gesamte Ukraine erweitern, die zumindest bei Teilen der publizistisch-intellektuellen Eliten in Deutschland offenbar immer noch innerhalb eines russophilen Rahmens wahrgenommen wird. Ich will nun nicht auf das erneute Versagen intellektueller oder auch kultureller Schichten in Deutschland eingehen, aus aktuellem Anlass sei nur ein in meinen Augen durchaus peinliches Beispiel Ihnen hier präsentiert, dem Sie mit Sicherheit bei Ihrem Gang durch Weimar schon begegnet sind. Sie sehen hier das sicher gut gemeinte Banner am Deutschen Nationaltheater Weimer, welches seit Kriegsbeginn, genauer seit Beginn eines imperialistisch motivierten und völkisch begründeten Überfalls mit genozidalen Absichten auf ein friedliches Nachbarland der Öffentlichkeit eine Lösung dieses Konflikts meint anbieten zu können. Was ich dabei mit Peinlichkeit meine, wird an zwei Beispielen vielleicht deutlicher. In Prag an der Salvator-Kirche, in der im frühen 19. Jahrhundert der Religionsphilosoph Bernard Bolzano seine berühmten Erbauungsreden an jedem Sonntag des akademischen Jahres hielt, findet man zumindest die Nennung des Aggressors, wie Sie hier sehen können, die in Weimar merkwürdigerweise vermieden wird. Und auch die Variante am Prager Ständetheater, in dem seinerzeit Mozarts Don Giovanni seine erfolgreiche Uraufführung erlebte, zeigt eine Solidaritätsbekundung frei von Weimarer Peinlichkeiten. Offenkundig verstehen die Prager, um ein gleichwohl nicht verbürgtes Mozart-Zitat aufzugreifen, die Ukrainer besser als die Weimarer (und die übrigen Deutschen). Selbst 2014 wurde in einer emphatischen Art der Opfer des Euro-Maidan gedacht, die mir in Deutschland nicht begegnet war – an der Statue des hl. Wenzel oder wie hier auf dem Bild an der Mauer des Prager Clementinums.
Aber wie angedeutet möchte ich nicht auf die z. T. verquasten intellektuellen Debatten hierzulande eingehen, sondern auf eine kulturelle europäische Tradition hinlenken, die immer noch zu wenig bekannt ist und für die die Bukowina als ein pars pro toto der Ukraine insgesamt fungieren darf. Es geht darum, einer europäischen Kultur die Dignität zu verleihen, die ihr schon längst zukommen müsste. Dies soll heute mein Thema sein.
1. Wahrnehmung einer literarischen Region
Gründe für eine Beschäftigung mit der Bukowina liegen zunächst, jenseits der literarischen Entwicklungen, in der symbolischen bzw. mythisierten Dimension, mit der Ort wie Region – vor allem aus deutscher bzw. österreichischer Perspektive – verbunden sind und an der Literaten, Publizisten und Wissenschaftler maßgeblich mitgewirkt haben: Czernowitz bzw. die Bukowina fungieren seit der habsburgischen Phase, also seit 1774/75 als Sinnbild einer Synthese aus Ost und West, einer Synthese aus byzantinischer und lateinischer Zivilisation, als Beispiel des (friedlichen) Zusammenlebens von Völkern, Kulturen, Sprachen, Religionen, als habsburgisches Experiment einer supranationalen Region, als ‚Versuchsstation für Vielvölkerexistenz‘ (Colin 2017), ein ‚halbasiatischer‘, maghrebinischer Zwischenraum, ein Orient-Okzident oder auch nur als ein Habsburg im Kleinen bzw. als Klein-Wien. Gemäß diesem argumentativen Muster lassen sich zentrale Charakteristika und Entwicklungen der ‚großen‘ Habsburgergeschichte im kleinen Raum der Bukowina gebündelt wiederfinden, womit häufig eine retrospektive Idealisierung und Idyllisierung einher ging. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hieß es in einer in Wien 1845 herausgegebenen Landeskunde der Bukowina des rumänischen Autors Theodor Bendella:
Dieses Land wird von den verschiedenartigsten Völkerschaften bewohnt …: und kaum dürfte es ein zweites Ländchen von so kleinem Flächeninhalte geben, das so viele Völker und Regionen nebeneinander in geübter Eintracht leben sieht. (zit. n. Turczinski 1993: 84)
Karl Emil Franzos, der seine schulische Sozialisation in Czernowitz erfuhr, beobachtete einen „nationalen und confessionellen Frieden“ (Franzos 1876: 182) und ein der Schweiz vergleichbares Territorium:
Was anderwärts ähnliche Bestrebungen geschädigt und lahmgelegt: historische-politische Eigenthümlichkeiten, religiöser Fanatismus, Eifersucht der anderen Nationalitäten, dies Alles fehlt hier gänzlich. (Franzos 1876: 143)
Gerade bei Franzos findet man aber eine mit kolonialem Impetus formulierte Valorisierung von Exotik und Partikularität bzw. deren Inszenierung mit einer stereotypen Hyperbolisierung, bei der letztlich ein assimilatorisches Modell unter dem Primat deutscher Kultur propagiert wird, handele es sich bei dem „Deutschtum“ doch um „das herrschende Element des Landes“ welches die „anderen Nationalitäten nicht“ unterdrücke, sondern „ihnen den versöhnenden, bildenden Einigungspunkt“ biete (Franzos 1876: 137).
Ungeachtet solcher zugleich idealisierend-idyllisierender wie auch kolonialisierender Zuschreibungen handelte es sich bei der Bukowina in der habsburgischen Phase und darüber hinaus um eine polykulturelle, multikonfessionelle, -linguale und -ethnische Region mit unterschiedlichen Literatursprachen (u.a. deutsch, jiddisch, polnisch, ukrainisch, rumänisch, ferner armenisch, romani und russisch) und Schriften (hebräisch, kyrillisch, lateinisch) und den damit verbundenen transregionalen Kanonisierungen. Es handelte sich um ein Gebiet, in dem
- unterschiedliche Ethnien in einem nationalen Austausch, aber auch Wettbewerb standen;
- in dem mehrere Sprachgruppen mit zum Teil wechselnder Dominanz oder Ausgleichsphasen nebst der Entstehung von Mischkulturen vorhanden waren;
- in dem intensive kulturelle und sozioökonomische Kontakte existierten;
- auf das unterschiedliche, aufgrund historischer Argumentation legitimierte territoriale Ansprüche erhoben wurden;
- und schließlich handelte es sich um ein ‚Vertreibungs- bzw. Vernichtungsgebiet‘ – Teil der Bloodlands – mit retrospektiven Konstruktionen unterschiedlicher regionaler kollektiver Gedächtnisse.
Auf der Folie sehen Sie einige der zentralen, jeweils nationalhistorisch fundierten Argumente, mit denen Besitzansprüche auf das Territorium erhoben wurden. Wir finden ein:
- habsburgisches Narrativ mit seiner Kultur- und Zivilisationstopik auf Basis einer Stunde-Null-Situation im Jahr 1774/75 und einer Delegitimierung älterer Ansprüche; nach 1918 angesichts repressiver Rumänisierung fortgesetzt und im Konzept des Bukowinismus als alternatives Sozialisationsmuster mündend;
- rumänisches Narrativ, welches von der Tradition des Fürstentums Moldau zwischen 1359 und 1775 und dem illegitimen Raub der Bukowina durch die Habsburger ausging und mit dem in der Folge eine gezielte demographische Veränderung der Region sowie eine Germanisierung des Bildungs- und Schulsystems erfolgt sei. Gemäß dieser Autochthonie-Topik handele es sich bei den orthodoxen Ruthenen eigentlich um Rumänen, die ihre Sprache vergessen hätten. 1918, also die Rumänisierung der Region, wird als legitime Revision eines Rechtsbruchs konnotiert;
- ukrainisches Narrativ in der Tradition des Fürstentums Halič bzw. der Zugehörigkeit der Region zu den ökonomisch florierenden Knezaten als Vorläufer eines ukrainischen Staates seit dem 10. Jh., gemäß einer konkurrierenden Autochthonie-Topik wird die Zugehörigkeit der Bukowina zur Moldau als unrechtmäßig betrachtet, 1940/44 wird als Wiedergutmachung konnotiert;
- jüdisches Narrativ, gekoppelt an Emanzipation und Rechtsstaatlichkeit in der habsburgischen Phase und, insbesondere nach 1945, die Topik der unwiderruflich zerstörten deutsch-jüdischen Symbiose.
Bei diesen Narrativen handelt es sich um endogen und exogen konzipierte, intra- und interregionale Sinnstiftungsangebote, die gerade in kultur- und literaturpolitischen Diskursen zur Integration nach innen, aber auch zur Abgrenzung nach außen eingesetzt wurden.
Wichtig erscheint mir, dass unabhängig von diesen unterschiedlichen nationalen Erzählungen und unabhängig von den totalitären Gewalten des 20. Jahrhunderts, die gravierende soziale und demographische Veränderungen verursachten, der Charakter eines Transfergebietes mit regionalem Zugehörigkeitsbewusstsein über die habsburgische Phase, über die Zugehörigkeit zum Königreich Rumänien (1918–1940, 1941–1944), über die Sowjetunion (1940/41, 1945–1990) hinaus bis zur heutigen Ukraine (seit 1991) überdauern konnte, wobei insbesondere nach 1991, mit der orangenen Revolution immer stärker eine markante Rückbesinnung auf die multilingualen Traditionen der Bukowina bzw. Czernowitz‘ erfolgte. Als These ließe sich formulieren, dass zunächst ein regionaler Bukowinismus, wie er in der Kriegsausgabe des Allgemeinen Czernowitzer Tagblatt am 6.12.1918 propagiert wurde, als Alternativmodell gegen drohende nationale Desintegration in Form rumänischer Unifizierung und Homogenisierung etabliert wurde. In dem Leitartikel wird, eines der ersten Beispiele, ein bukowinisches Sozialisationskonzept popagiert:
es lebt in diesem Lande eine eigene Spezies, die nicht deutsch, rumänisch, ruthenisch, jüdisch oder polnisch ist. Der homo Bucovinniensis [sic!] ist ein eigener Typus, der es verdiente, daß man ihn sich als solchen ausleben lasse. Er hat sich aus einer Gemeinsamkeit von fünf Nationen auf enger Scholle herauskristallisiert und gerade der Umstand, daß diese Nationen trotz kulturellen Wetteifers friedlich miteinander auskamen, ja im Großen und Ganzen auf einander angewiesen waren, gerade dieser Umstand hat ein Bukowinertum geschaffen, in welchem man bei liebevoller Prüfung die intellektuellen Potenzen und Geistesgaben aller fünf Nationen entdecken konnte. Das Dichterwort kam hier zur Geltung, daß der Mensch sovieler Menschen Wert habe, als er Sprachen kenne. (Allgemeine Czernowitzer Tagblatt, 6.12.1918, S. 1).
Dieses Alternativmodell, das in der Folge weitgehend delegitimiert wurde, erfuhr insbesondere im ukrainischen Černivci eine markante symbolpolitische Aktualisierung. Bereits 1992, als kurz nach der Unabhängigkeit, wurde eine Celan-Büste gegenüber dem Volkspark errichtet, es folgten u.a. im Rahmen der von Petro Rychlo und Helga von Loewenich initiierten bukowinisch-galizischen Literaturstraße Denkmäler für Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger, man findet aber auch Monumente für Eminescu und natürlich für die ‚nationalen‘ Dichter Fedkovič, Ivan Franko, Ol’ha Kobylans’ka, Osyp Makovej und Taras Ševčenko. Nur am Rande sei auf eine Re-Habsburgisierung verwiesen, die sowohl in der Restaurierung des Kaiserfelsens als auch in der Errichtung einer anthropomorphen Kaiser Franz-Joseph-Statue ihren markantesten Ausdruck fand, die gleichwohl nicht ohne ikonoklastische Reaktionen verblieben. Die Bronzemedaille mit dem Franz-Josephs-Relief am Kaiserfelsen fiel Metalldieben zum Opfer, auf die Statue erfolgten mehrfach Farbattacken, die allerdings von Anwohnern beseitigt wurden, wie Sie hier sehen können.
Damit komme ich zum Konzept der Kulturregion Bukowina.
2. Zur Konzeption der Kulturregion
Die seit 1774/75 habsburgische, 1849 zum Kronland erhobene Bukowina war ein Experimentierfeld unter national-identifikativen Aspekten, in dem sich unterschiedliche Prozesse landespatriotischer und nationaler Loyalitäten sowie Kulturen resp. Literaturen herausbilden konnten. Bei der Entstehung von Kulturregionen kommt neben den Akteuren auch den Institutionen und Medien eine raumformende Funktion zu: Verlage und Buchhandel, Vereine und kulturelle Institutionen, das Theater und die 1875 gegründete Franz-Josephs-Universität mit den überhaupt ersten Lehrstühlen für rumänische und ukrainische Sprache und Literatur, vor allem aber die Publizistik. In Czernowitz erschienen Zeitungen in bis zu sechs Sprachen – deutsch, ukrainisch, rumänisch, polnisch, jiddisch und hebräisch, später auch russisch. Gleichwohl auf distinkter Gruppenzugehörigkeit basierend bildeten diese ein regionales Kommunikationsnetz und trugen zu einem regionalen Bewusstsein bei. Als ein weiteres Beispiel seien die ‚nationalen‘ Vereinshäuser genannt. Czernowitz ist die einzige mir bekannte Stadt in Zentraleuropa, die nicht nur über fünf Nationalhäuser verfügte, sondern die heute wieder, wenngleich mangels Minderheiten stark verkleinert, existieren und das Stadtbild symbolisch prägen, wenn auch nicht mehr wie um 1900 national besetzen: das Ruskij Narodnyj Dim (1887); ab 1910 Ukrainisches Volkshaus ggü. der Armenischen Kirche, die Casa Poporului um 1891 am Ringplatz, das Dum Polski 1905 und das Deutsche Haus 1910 in der Herrengasse und das Jüdisches Haus 1908 am Theaterplatz. Die Nationalhäuser fungierten als „Veranstaltungs-, Begegnungs- und Vernetzungspunkte für sprachnational definierte Teile der urbanen Bevölkerung“ und waren Ausdruck einer Verschränkung von „kultur-, wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischen Aktivitäten unter explizit nationalen Vorzeichen.“ (Haslinger et al. 2013: 1) Heute erinnern sie primär an die multilinguale Tradition der Stadt und stellen sich verstärkt in den Dienst einer kommunalen Kulturpolitik.
Diese Beispiele bieten uns Indizien auch für die vielfältigen literarischen Entwicklungen der Bukowina. Allerdings, und dies mag heute noch bestehende Rezeptionsdefizite erklären, wurden diese unter dem Primat einer Literaturgeschichtsschreibung organisiert und tradiert, die als lineare, dem Fortschrittsparadigma verpflichtete Erzählung mit Koppelung an ein national gedeutetes Territorium konzipiert war. Man kann dies an den unterschiedlichen, nationalliterarischen Kanonisierungen erkennen. So ruht der ‚deutsche‘ Blick, nachdem sie lange als entkontextualisierte Autoren wahrgenommen wurden, weitgehend auf den bekannteren deutschschreibenden Repräsentanten der Region, primär auf Paul Celan und Rose Ausländer. Eventuell nahm man noch Elieser Steinbarg im Hinblick auf die jiddischsprachige Fabeldichtung zur Kenntnis, was für Mihai Eminescu oder für Ol’ha Kobylans’ka kaum noch angenommen werden kann. Diese wiederum avancierten in ‚ihren‘ Kulturen zu nationalen Heroen, was für den als ‚rumänischer Goethe‘ konnotierten Eminescu genauso wie für Kobylans’ka als – mit jeweils unterschiedlicher Konnotation – sowjetischer und ukrainischer Nationaldichterin gilt. Allerdings wurden beide ebenfalls entkontextualisiert rezipiert, war doch z. B. im kommunistischen Rumänien jegliche Erwähnung von Toponymen wie Bukowina oder Czernowitz tabuisiert.
Entgegen dem späteren Kanonisierungen zugrundeliegenden Einheitsprinzip mit seiner Tendenz zur Kulturalisierung, Naturalisierung und Distinktion literarischer Traditionen war der Knotenpunkt Czernowitz allerdings von vielfältigen transnationalen Verflechtungen über sprachliche und literarische Grenzen hinweg geprägt. Für eine Betrachtung der Literaturen der Bukowina ist somit eine mehrdimensionale, nationale und supranationale Perspektive notwendig, die auch die regionale Verankerung und den Transfer zwischen den Literaturen berücksichtigt. Auf der einen Seite haben wir es mit einer supranational-habsburgischen bzw. landespatriotisch-regionalen bukowinischen Tradition zu tun, die – vor allem retrospektiv – mit Konzepten der Multikulturalität, -lingualität und -konfessionalität sowie kulturell-sprachlicher Hybridität semantisch und emotional aufgeladen wird, wobei Gefahren der Austro- bzw. Germanozentrik in Wahrnehmung und Rezeption des Raumes einzukalkulieren sind, wie bei Franzos gesehen. Akteure für diese häufig habsburgische Perspektive sind erstens die deutschen wie jüdischen Nachgeborenen, die Nachkommen der Überlebenden, Ausgesiedelten, Vertriebenen auf der Suche nach ihren Wurzeln; zweitens Interessenten an jüdischer Geschichte bzw. an deutschschreibenden Czernowitzer Autoren sowie drittens Habsburg-Nostalgiker, die sich letztlich auf der Suche nach dem erwähnten mythischen Czernowitz, an dem sie ständig selbst mitarbeiten, befinden.
Auf der anderen Seite findet man Narrative national-eigenkultureller Vereinnahmung der Region, was bereits an den ‚geschichtswissenschaftlichen‘ Narrativen gezeigt werden konnte. Als ein Beispiel sei hier Ion Nistor erwähnt, der 1918 angesichts der auf den „Trümmern“ der alten Reiche „emporwachsenden“ „verjüngten Nationalstaaten“ ein „Verschwinden“ des habsburgisch konnotierten „Bukowinismus“ forderte: „Die Bukowina hat sich mit Rumänien vereinigt und innerhalb dessen Grenzen ist kein Platz für den homo bucovinensis, sondern nur für den civis Romaniae.“ (zit. n. Judson 2017: 575) Und der zeitweilige Kulturminister Nicolae Iorga fomulierte 1938 seine Kritik an der habsburgischen Politik in der Bukowina:
In seine Täler hat die österreichische Regierung alle ihre Völker hergeführt, und sie leben jetzt da, indem sie gemeinsam diesen moldauischen Boden bebauen und sich die Rechte daran gegenseitig streitig machen. Die schlaue Berechnung hat hier das hervorgebracht, was der zufälligen Vermischung niemals zu bewirken imstande gewesen wäre. Und dank der Fürsorge derselben Regierung haben diese verfeindeten Bewohner als Zeichen ihrer Vereinigung denselben Parasiten bekommen, der jetzt anfängt, sogar sich selbst gegenüber zum Parasiten zu werden: den Juden. (Iorga 1998, 124)
Im Gegensatz zu solch exkludierenden Zumutungen möchte ich die Bukowina als Verflechtungsregion mit vielfältigen literarischen Transferprozessen betrachten, in der charakteristische regionale wie gesamteuropäische Bedingungen, Entwicklungen und Traditionen sowie wechselseitige Einflüsse, Rezeptionen und Wirkungen in deutscher, jiddischer, polnischer, rumänischer und ukrainischer Sprache konstitutive Wirkungen entfalten konnten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Beispiele unterschiedlicher sprachlicher Sozialisation angeführt: Ludwig-Adolf Simiginowicz-Staufe als erster gebürtiger deutschsprachiger Dichter der Bukowina, der väterlicherseits ukrainisch, mütterlicherseits deutscher Abstammung war; Osip-Jurij Fedkowič mit polnisch-ukrainischen Wurzeln und einem Sprachwechsel vom Deutschen zum Ukrainischen; Isidor Worobkiewicz, der in deutscher, rumänischer und ukrainischer Sprache dichtete; die gebürtigen Rumänen Janko und Theodor Lupul sowie Jonél Kalinczuk Ritter von Chominski, die auf Deutsch schrieben; Ol’ha Kobylans’ka mit ihrem Sprachwechsel vom Polnischen und Deutschen zum Ukrainischen; Osyp Makowej mit einem Sprachwechsel vom Deutschen zum Ukrainischen. Moses Rosenkranz wuchs in einem Haushalt auf, in dem jiddisch, deutsch, ukrainisch und polnisch, später auch tschechisch und rumänisch gesprochen wurde, seine Literatursprache war das Deutsche. Der Lyriker Alfred Gong verwendete deutsch sowie rumänisch als ‚Stiefmutter‘-sprache, Manfred Winkler war bilingual deutsch und hebräisch, Rose Ausländer verfasste ihre Texte sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache, Aron Appelfelds Muttersprache war Deutsch, seine Literatursprache Hebräisch. Damit verbunden war eine vielfältige Übersetzungs- und Dolmetschertätigkeit, hier seien nur Immanuel Weißglas, der aus und in das Rumänische übersetzte, oder Paul Celan und dessen multilinguale Kompetenz genannt. Celan beherrschte nicht nur rumänisch, französisch, englisch, italienisch und hebräisch – zumindest übersetzte er aus diesen Sprachen ins Deutsche –, sondern wirkte nach Kriegsende in Czernowitz als Dolmetscher für die Rote Armee. Will man einen Idealtypus von in der Bukowina sozialisierten Schriftstellern erstellen, so könnte als ‚Muster‘ der von Alfred Kittner gewürdigte Itzig Manger dienen, der sich „als tiefgründiger Kenner der lyrischen Dichtung aller Völker und Zeiten“ erwies und der „immer wieder auf die Dichtungsfolklore der orientalischen wie der slawischen und nordischen Völker verwies“ (Kittner 1998, 198). Viele der Autoren der Bukowina bestätigen zentrale Merkmale, die zur Charakterisierung von Weltliteratur Verwendung fanden: sie stechen durch besondere Belesenheit heraus, verfügen über z.T. bilinguale Fremdsprachenkompetenz, waren häufig zum Orts- und Landeswechsel gezwungen und vertraten ein Denken jenseits inklusiver nationaler Kategorien. Und eine weitere Erfahrung wies die Autoren der Bukowina quasi zwangsläufig auf die Notwendigkeit zum interkulturellen Dialog. Sie alle, gleich welcher Sprache, lebten in einem regionalen Umfeld, durch dessen begrenzte Binnendifferenzierung bzw. ausgeprägte Peripherisierung sie die Erfahrung von kleinen Literaturen (im Sinne Franz Kafkas) machen mussten.
Jede kulturelle Positionierung innerhalb dieses polyvalenten Geflechts Bukowina erfolgte geradezu zwangsläufig in Aneignung oder Abgrenzung von anderen Optionen. Die Analyse der Literaturen der Bukowina darf somit gerade keine Perpetuierung nationalphilologischer Traditionen intendieren, sondern muss im Gegenteil die inter- und transkulturellen Interdependenzen und die damit zusammenhängenden Formen von Sprachwechsel, Übersetzung, Hybridität etc. berücksichtigen. Als ein Beispiel sei hier ein Zitat aus den Erinnerungen Gregor von Rezzoris an sein Kindermädchen Kassandra angeführt:
[…] sie sprach beides, rumänisch sowohl wie auch ruthenisch, allerdings beides gleicherweise schlecht – was indes in der Bukowina ziemlich allgemein der Fall war. Sie vermengte die beiden Sprachen und mischte darunter Brocken aus allen anderen ein, die bei uns im Umlauf waren. Das Ergebnis war jenes absurde Kauderwelsch, das nur noch von mir verstanden wurde (…). Seit ich geboren war, hatte ich vor allem anderen dieses Idiom gehört. Es war mir so natürlich wie die Luft, die ich atmete (…), und erst, als man mich fortgesetzt korrigierte (…) wurde mir bewußt, daß meine und Kassandras Sprache etwas sehr Partikuläres sein mußte, ein Geheimidiom innerhalb unserer allgemeinen Umgangssprache, aber dermaßen aus allen Winkeln zusammengefegt, daß das Geheimnis gewissermaßen löchrig, darum doch nicht leichter aufzuschlüsseln war. Der Hauptteil dieses Idioms war ein niemals richtig und zur Gänze erlerntes Deutsch, dessen Lücken ausgefüllt waren mit Wörtern und Redewendungen aus sämtlichen anderen Zungen, die in der Bukowina gesprochen wurden. So war jedes zweite oder dritte Wort entweder ruthenisch, rumänisch, polnisch, russisch, armenisch oder jiddisch; auch ungarische und türkische habe ich gefunden. (Rezzori 1989b, 50)
Der individuelle Makkaronismus, die Vermischung der unterschiedlichsten Sprachen bis hin zu Kommunikationsverhinderung bzw. Formen einer Geheimsprache, wird in ironischer Diktion in Rezzoris Roman Ein Hermelin in Tschernopol auf die Bewohner der „Teskowina“ und ihre ethnische Hybridität und vor allem ihre gesamte Geschichte verallgemeinert:
daß in unseren Adern das Blut von Dakiern, Römern, Gepiden, Awaren, Petschenegen, Kumanen, Slawen, Ungarn, Türken, Griechen, Polen und Russen umging. Die Teskowina war demnach, wie es hieß, ‚ethnisch stark gemischt‘. (Rezzori 1989a, 16)
Diese Erinnerungen an das historische Erbe belegen nach Rezzori eine spezifische Mentalität der Einwohner von „Tschernopol“, gewissenmaßen in der Kontradiktion einer „festen Ansiedlung von Nomaden“ (Rezzori 1989, 14), ein Konzept, bei dem möglicherweise Robert Musils Kakanien-Kapitel aus dem Mann ohne Eigenschaften Pate stand:
Ich kenne keine wachere, keine bewußtere Stadt. Da leben ein Dutzend der verschiedenartigsten Nationalitäten und ein gutes halbes Dutzend einander grimmig befehdender Glaubensbekenntnisse in der zynischen Eintracht gegenseitiger Abneigung und wechselseitigen Geschäftemachens beieinander. Nirgendwo sind die Fanatiker duldsamer, nirgendwo die Toleranten gefährlicher als bei uns in Tschernopol. (Rezzori 1989a, 14)
Entgegen gängigen nationalphilologischen Grenzziehungen, aber auch jenseits landsmannschaftlich-nostalgischer Zuschreibungen eines interethnisch konfliktfreien Zusammenlebens bis 1914/18, geht es somit um eine transkulturelle Neuvermessung einer literarischen Region Gegen Vorstellungen von Nationalliteratur per gemeinsame Geschichte, Mythen und Identifikationsangeboten sowie ethnisch-kulturellen Selbst- und Fremdbildern geht es um Text-Reihen von Literatur vor dem Hintergrund interkultureller Verflechtung und kultureller Vielfalt in der Bukowina. Das Kronland bzw. die Stadt Czernowitz wird damit als repräsentativer Mikrokosmos rekonstruiert, in dem sich für das gesamte Zentraleuropa charakteristische ethnische, sprachliche, konfessionelle und kulturelle Differenzen in Form eines ‚gemischten‘ Kontextes konstituieren, der losgelöst von seinen historischen Determinanten auf die multilinguale Situation heutiger europäischer Metropolen verweist.
Dieser ‚gemischte‘ Kontext Bukowina – ein paradigmatischer ‚dritter Raum‘ mit einer die nationalistischen Vorgaben und Traditionen überschreitenden kulturellen Vielfalt jenseits essentialisierender Kategorisierungen hatte über 1918 hinaus Bestand, mit ihm war eine Distanz zu den nationalen Kommunikationsräumen markiert, deren jeweilige Rhetoriken und Ideologien u.a. durch Hybridisierung in Frage gestellt wurden.
Man kann die Bukowina somit als eine Arena kulturell-gesellschaftlicher und literarisch-publizistischer Verhandlungsprozesse beschreiben, in denen kulturelle Vielfalt als ein niemals zur Ruhe gelangender Prozess kontinuierlicher, interdependenter Beziehungen und Aushandlungen entstand. Rose Ausländer fand hierfür das Bild einer „buntschichtigen Stadt“ Czernowitz, „in der sich das germanische mit dem slawischen, lateinischen und jüdischen Kulturgut durchdrang“ (Ausländer 2001b, 106). Selbst der Assimilator Franzos (1876, 189) griff auf die Metapher des Hybriden zurück und verwies auf die „Czernowicienserinnen“, in denen „West und Ost eigen zusammen“ fließen würden. Rose Ausländer transferierte diese Erfahrungen auf die ‚bukowinische‘ Sprache der Poesie:
Unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinandergriffen und dem Wortlaut, dem Laut- und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten. (Ausländer 2001b, 106f.)
Die Vermischung, ob in kultureller, konfessioneller, sozialer oder sprachlicher Hinsicht, erscheint als das Spezifikum von Stadt und Region. Dieser gemischte Kontext geriet partiell nach 1918, endgültig nach 1940 unter den Druck nationalistischer und rassistischer Zumutungen, in deren Ergebnis – bezogen auf die Literatur und Kultur – Vereinheitlichungsprozesse unter dem Paradigma nationalphilologischer bzw. ideologischer Kategorisierungen durchgesetzt wurden. Als Beispiel sei die Anthologie von Alfred Klug, Bukowiner Deutsches Dichterbuch, Stuttgart 1939 angeführt, die keine deutschschreibenden jüdischen Autoren der Bukowina aufnahm. Die multilinguale Vergangenheit wurde in der Region zunehmend marginalisiert und tabuisiert.
Dass man gerade im heutigen Černivci bzw. der Nordbukowina daran anknüpft – ob mit der erwähnten bukowinisch-galizischen Literaturstraße, ob mit dem Festival Meridian Czernowitz, ob mit vielerlei Editionen, Anthologien und Übersetzungen bukowinischer Dichter, bspw. Petro Rychlos Übertragung Celans ins Ukraninische, oder einer literarischen Aneignung der Region z. B. in Form von historischen Romanen wie durch Maria Matious –, all diese Aktivitäten sind nicht nur Ausdruck einer mitteleuropäischen Zugehörigkeit, sondern belegen ihren dezidiert europäischen, aktuell in höchstem Maße bedrohten Charakter.