Wiesenstein

Hans Pleschinski

Die Wagenkavalkade näherte sich ihrem Ziel.

Dreck klebte nach zweitägiger Reise an den Felgen und Karosserien. Am Ende der Kolonne fuhr ein amerikanischer Dodge mit rotem Stern. Er gehörte wohl zu den Lieferungen der USA an die Sowjetunion während des Krieges. Auf seiner Ladefläche hockten Rotarmisten neben Reservefässern mit Treibstoff, Ersatzreifen, Proviantkisten und Zelten für Übernachtungen unter freiem Himmel.

Dem Dodge voraus schob sich ein grüner Wanderer die Bergstrecke hinauf. An seinem Steuer saß Hauptmann Weiss. Neben ihm hielt Leutnant Chanov seine empfindliche LOMOKamera auf dem Schoß. Der Besuch beim Nobelpreisträger, falls er noch lebte, sollte vom Fotokorrespondenten dokumentiert werden. Dank der Schleichfahrt konnten ein asiatischer Rotarmist und ein holländischer Kommunist mit Maschinenpistole im Anschlag auf den breiten Trittbrettern stehen. Allen voran kroch ein Horch, den der oberste deutsche Kulturbeauftragte in der sowjetisch besetzten Zone, westlich von Oder und Neiße, selbst lenkte. Zigarettenrauch wehte aus den beiden offenen Fenstern des Horch. Neben dem Lyriker und nunmehrigen Präsidenten des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands Johannes R. Becher rauchte auf dem Beifahrersitz auch der Journalist Gustav Leuteritz Kette.

«Schlimmer, als ich vermutete. Ich kann kaum hinschauen», sagte Becher, als sie in Hermsdorf/Sobieszów eine Reihe geplünderter Gehöfte passierten: «Grausame Quittung.» 

(…)

«In diesem ganzen Osten», bemerkte Johannes R. Becher, «wird ein deutscher Gehäuserest bleiben, in dem neues Leben stattfinden wird, aber lange wird ein Jammer über dem Land liegen. Vergessen wir nie, dass der Brand bei einem Fackelzug in Berlin 1933 gelegt wurde.»

(…)

«Auf Sie, Genosse Becher, wurde ich durch Ihr Gedicht Verbrüderung aufmerksam: Der Dichter meidet strahlende Akkorde. Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill. Er reißt das Volk auf mit gehackten Sätzen.»

Der Fünfzigjährige am Lenkrad rauchte geschmeichelt. Bechers Stirn war frei, sein akkurat frisiertes Haar war stark gelichtet, die runde Brille ließ das weiche Gesicht noch melancholischer erscheinen. Seinen Anzug hatte der Präsident des Kulturbunds während der Reise mehrmals abgebürstet. Auch Hemd und Krawatte des bewährten Kommunisten wirkten tadellos.

«Und Ihr Aufschrei, Genosse, gegen das Kapital, Kapitalisten und ihre Helfershelfer hat sich nicht nur mir eingeprägt. Augen zu: Lasst Guillotinen spielen! Menschenknäuel übern Platz gefegt – Dass die Strahlen euerer Finger zielen durch den Raum, ins Herz der Kaiser schräg!! – Wir müssen das neue Deutschland stark machen. Gegen Nazis, Mitläufer. Auch die waren gnadenlos.»

Johannes R. Becher nahm kurz die Hand vom Steuer und schien die eigenen frühen Verse dämpfen zu wollen. «Wir tun alles, Leuteritz», sagte er leise, «für eine frische Welt, auferstanden aus Ruinen, dieselben Rechte und Möglichkeiten für alle. Kein Untertanengeist mehr, nicht Oben und Unten, sondern erhobenen Hauptes ein jeder der Zukunft zugewandt. In Frieden und in Völkerverbrüderung. Auf dass die Sonne über Deutschland wieder scheine.»

Der Kollege von der Rundschau nickte. Leuteritz behielt, was Becher nicht mochte, auch im Auto seinen Hut auf. Der Journalist wusste es offenbar nicht besser. Das Legere, ja ein wenig Bürgerliche, fehlte Leuteritz voll und ganz.

«Also persönlich bin ich Hauptmann nicht begegnet.» Johannes R. Becher packte wieder mit beiden Händen den Lenker. «Doch 1925, als ich wegen meines Appells an die Arbeiter: Streik, Bajonett, Terror, Bombe … verhaftet wurde und mir der Prozess gemacht werden sollte, da unterzeichnete neben Döblin, Hermann Hesse, beiden Brüdern Mann, auch Gerhart Hauptmann das Protestschreiben gegen die Zensur.»

«Vermutlich das übliche Mitleid statt Empörung und Wille zum Umsturz», befand Gustav Leuteritz.

«So gängig ist Mitgefühl nicht, Genosse», vernahm er vom berühmten Parteimitglied der KPD, das nach allem Dafürhalten dazu auserkoren war, ein Kulturministerium der deutschen sozialistischen Republik auf dem Boden der Sowjetzone zu begründen. «Und sein Wort bleibt gewichtig: Kunst ist immer nur freie Kunst. Kunst, durch Gesetze geknebelt, ist keine.»

«Hm, Genosse Becher, das kommt doch auf die Umstände an.» Becher blickte fragend.
«Der Bürgerschund ist vorbei. Die proletarische Kunst bringt uns voran. Und so muss das in der Zukunft auch geregelt werden. Statt Schnörkel und Gefühlsgedusel das Lied der Bauarbeiter und der revolutionären Mütter.»

«Gewiss, Genosse», Becher sann kurz nach, «trotzdem brauchen auch Kommunisten gute Komponisten.»

Leuteritz wusste nicht, ob er über das Wortspiel lachen sollte. Meistens war es ratsam, wie in Russland, nicht zu lachen. Und Becher war eine heikle Persönlichkeit mit heikler Vergangenheit. Der Journalist lenkte ab: «Bei den Genossen in Moskau haben Sie einen Stein im Brett.»

«Eigentlich ein merkwürdiger Ausdruck: im Brett», meinte der Funktionär beim Schalten.

«Ihr Hymnus auf Lenin war der eindringlichste Text in der Juli Rundschau: Er rührte an den Schlaf der Welt/Mit Worten, die wurden Maschinen …»

«Der Mensch muss hoffen», sagte Becher, «auf den Fortschritt.»

«Jetzt fehlt noch Ihr Lobpreis Stalins», Leuteritz schob mit der Fingerspitze den Hut nach hinten. «Stalin hat hier alles befreit von der braunen Pest. Noch zwei Fünfjahrespläne, und wir stecken den Westen in die Tasche. Gegen den Willen und gegen die Kraft des Volkes kommt keiner an. Volksherrschaft plus Elektrifizierung gleich Glück.»

«Ja, Genosse Stalin, ein Titan.» Becher spähte kurz durchs Seitenfenster auf das Pflaster und wich einem Schlagloch aus. «Hat seine Völker wie ein Vater geeint. Ist wachsam, wenn die Verräter in den eigenen Reihen mit dem Feind liebäugeln, wenn sie Bequem lichkeit und privaten Profit einer Reinigung der Welt vom Unrecht vorziehen.»

«Sie haben die Moskauer Schauprozesse an Ort und Stelle erlebt, Genosse Becher.»

«Die Hauptverschwörer, Leuteritz, lasen ihre Geständnisse vom Blatt ab. An den Übrigen wurde die Todesstrafe nach meiner Einschätzung nicht vollstreckt.»

«Ah, dann ab ins Arbeitslager. Das ist ja human. Insgesamt Millionen Opfer der Säuberungen, krakeelen einige im Westen. Ich meine, Abtrünnige.»

Becher äußerte sich nicht und wischte sich einen Tabakkrümel vom Jackettärmel. Die Manschettenknöpfe des Kulturkaders waren wohl nicht bloß vergoldet.

«Aus dem Pakt, den Genosse Stalin mit Hitler zur Teilung Polens schloss», sinnierte der Journalist, «bin ich nie ganz schlau geworden. Schulterschluss mit dem Erzfeind. Der Pakt sah 1939 nach vereinbartem Landraub aus.»

«Die Stunde, Leuteritz, war bitter und schwer verständlich für jeden Kommunisten. Aber das Bündnis musste sein. Die Nachwelt könnte erfahren, warum. Stalin ist in der Seele des Volkes verankert. Ihm unterlaufen keine Irrtümer.»

«Natürlich nicht, Genosse Becher.»

(…)

Gewiss hatten höchste Zirkel den schillernden Künstlerfunktionär Becher – hier seine Guillotine für den Klassenfeind, dort der Spielraum für das Individuum – bewusst auf seinen Posten gesetzt. Becher erschien alles in allem linientreu, er hatte einen Namen, und er verunsicherte nachgeordnete Genossen durch Härte und Melancholie. Und Verunsicherung darüber, wie weit man sich jemandem offenbaren durfte, galt als wirksames Mittel, um die Parteidisziplin zu wahren. Der Mitarbeiter der Täglichen Rundschau traute keinem Genossen.

Das neue Schlesien – Śląsk – würde jedenfalls zum Kosmos des revolutionären Aufbruchs, der brüderlichen Gleichheit und des siegreichen Lichts gehören. Dafür hatten Unterdrückte gekämpft und würden sich die Millionen der Opfer lohnen.

(…)

Becher wischte sich mit zwei Fingern über die Stirn.

Er blickte ins Talrund, dessen Ortschaften und Wälder im Abenddunst verschwammen. (…) Reifen am Lastwagen und am luxuriösen Wanderer der sowjetischen Offiziere hatten insgesamt nur drei Mal gewechselt werden müssen. Anstatt in den Militärzelten zu nächtigen, hatte der Tross Unterkunft in umfunktionierten Wehrmachtskasernen der Roten Armee gefunden.

Eine aufwendige Mission.

(…)

«Oh, wir sind nicht vergessen. Wir sind nicht vergessen! Gütiger Gott. Es gibt einen Gott im Himmel.»

Eine kleine Weißhaarige, die kaum ihren Weg über den Schotter zu finden schien, eilte auf die Delegation zu. Schluchzend warf sich Margarete Hauptmann an die Brust Johannes Robert Bechers: «Die Ersten seit Monaten. Wie sind Sie durchgekommen? … Wurde niemand angeschossen? … Hatten Sie zu essen? … Aus Berlin. Wie ist Berlin? … Haben Sie Strom im Reich? … (…) Das mit dem Potsdamer Beschluss kann doch nicht stimmen. – Sie denken an meinen Mann, an mich und an uns! Seien Sie gesegnet … Wir sind so verloren hier. (…)»

Ihre spindeldürren Finger krampften sich durch den Anzugstoff um Bechers Arme.

«Aber kommen Sie doch», sie zog ihn mit sich. «Seit Ihrem Anruf warten wir. Kommen Sie aus dem Dunkel, das ist gefährlich. Ah, Sie haben Soldaten dabei. (…) – Pietsch hat Feuer im Kamin gemacht. Ich glaube, heute darf Rauch aufsteigen. Haben Sie daheim Arzneien?»

Johannes R. Becher folgte den kraftlosen Anstrengungen der Hausherrin. «Erzählen Sie doch. – Haben Sie die Breslauer Autobahn genommen? Für den Winter hat uns der Starost von Hirschberg, das ist der Landrat, Koks zugesagt. – Den Namen des neuen amerikanischen Präsidenten können wir uns nicht merken.»

«Harry S. Truman», sagte Becher.

«Er hat Bomben über Japan abgeworfen?»

«Atombomben», präzisierte Becher, «ohne die Kapitulation hätten sie Deutschland verheert und verstrahlt.»

«Noch mehr verheert?» Sie lachte bitter auf. «Wir waren noch bei Präsident Hoover zu Gast.» (…)

Becher stützte mit seinem Arm die Dame und musste selbst auf den Pfad achtgeben. Dem Kulturbeauftragten folgten Kapitan Grigorij Weiss, der Fotokorrespondent Leutnant Chanov und Gustav Leuteritz. Die Rotarmisten und ihr Fahrer rauchten am Dodge. Neben dem Eingangslöwen des Kastells harrten einige Leute aus, darunter ein Dienstmädchen mit Haube. Leuteritz und auch die sowjetischen Offiziere mutmaßten, dass es sich um die letzte Zofe zwischen Eisernem Vorhang und Wladiwostok handelte. Ein dürrer Butler verbeugte sich.

«Dass man sich über Russen so freut, hätte keiner gedacht», Margarete Hauptmann lächelte zu den Uniformen, «meistens hört man nichts Förderliches aus Russland. Nun bringt es, unter einem energischen Staatsmann, Herrn von Becher zu uns. Russland wirkt stark, wenn dort nur einer das Sagen hat.»

(…) «Becher. Einfach Becher», korrigierte der Besucher. «Natürlich», Margarete Hauptmann ertastete die erste Stufe, «mein Mann hat damals gegen Ihre Inhaftierung protestiert. Wie doch alles verwoben ist.»

 

(…)

 

Am Personal vorbei zwängte sich die Delegation in die Halle. Die verfehlte ihre Wirkung nicht. Im Schein des flackernden Kaminfeuers pulsierten die Farben, die Lustengel und Blumen noch heftiger. Adam und Eva schienen sich Hand in Hand von der Wand lösen zu wollen, eine gemalte Geigerin musizierte geradezu hörbar. «Wärmen Sie sich erst einmal auf», empfahl Margarete Hauptmann, «das ist Fräulein Pollak, die Sekretärin meines Gatten. Lassen Sie Ihre Soldaten doch auch eintreten. Es sind gewiss schmucke Kerle.»

«Künstlerhaushalt», erklärte Becher dem Kapitan, welcher von sich aus gut verstand. Sämtliche Menschen rundum, bis auf den ostzonalen Kulturpräsidenten, registrierte Grigorij Weiss erneut: skeletthaft und in schlotternder Kleidung. «Mein Mann wird Sie im Biedermeierzimmer empfangen, das ist für ihn nicht so weit», kündigte Margarete Hauptmann an. «Wir sind höchst besorgt.» – Auf der Treppe erschien Gerhart Pohl. «Jonny!», rief er nach unten. «Du?», fragte Becher nach, aber er erkannte den früheren Kollegen schnell. Gemeinsam hatten beide Ende der Zwanzigerjahre in der Redaktion der Neuen Bücherschau Neuerscheinungen besprochen. Sie fielen sich in die Arme.

«Viel zu berichten», sagte Pohl.

«Wohl wahr, alter Geselle», Johannes R. Becher befreite sich aus der Umarmung. Pohl hatte sich damals nicht zum Eintritt in die Partei Ernst Thälmanns bewegen lassen. Und wer, wie Pohl, im Lande geblieben war, musste erst einmal erklären, wieso er ohne sichtlichen Schaden das Dritte Reich überstanden hatte. Der Wiesenstein war bekanntermaßen ein Sammelbecken für vielerlei Geister und Ungeister gewesen.

«Junge», Gerhart Pohl klopfte dem Lyriker auf die Schulter: «Am Leben. Du bei uns. Mit Eskorte. Das waren doch viele Jahre in Moskau.»

«Nicht nur, Gert, manchmal ging es fast bis an die Front, um unsere Flugblätter für die deutschen Stellungen vorzubereiten. Folgt einem Wahnsinnigen nicht in den Tod! Ihr werdet verheizt! Werft die Waffen weg! Lauft über!»

«Diese Zeit werden wir nie verkraften, Jonny. Gut, dich zu sehen. Gut.»

«Wir tauschen uns aus», nickte Becher, «die, die noch die Sonne sehen, müssen zusammenhalten. Wir haben Mehl, Konserven, Zucker mitgebracht.»

«Zucker!», rief es in der Halle durcheinander. Becher war entgeistert über die Wirkung seiner Mitteilung. (…)

Pietsch geleitete die Gäste ins Biedermeierzimmer. Vor dem Porträt Joseph von Eichendorffs im Kerzenschein zitierte Becher, wie viele Besucher vor ihm, die Verse Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus … nicht laut.

Becher hob beim Platznehmen die Bügelfalten seines Zweireihers, zog die Krawatte zurecht. Der müde Mann wischte sich über die Stirn. Die Offiziere deponierten ihre mehr als tellergroßen Schirmmützen neben ihnen auf dem Tisch. (…)

Ein Klumpen?

Was nahte da?

Eine Monstranz?

Die Ostherren stemmten sich aus den Fauteuils, Chanov offenen Mundes.

Unter dem Ächzen seiner Helfer erschien Gerhart Hauptmann. Er musste es sein. Zwei Männer trugen die Last aus Kopf, dunkle Hausmantel, baumelnden Beinen auf ihren Armen, eine Krankenschwester stützte sie von hinten ab. Das schlohweiße Haar hing strähnig.

Becher war verstört. Möglicherweise war es bereits zu spät, den Patriarchen aufzusuchen. Die Offiziere wirkten gefasster; sie hatten den blutigsten aller Kriege durchlebt.

Die Helfer platzierten den Greis auf dem Polster eines Sessels, zwischen dessen Lehnen der Moribunde fast versank.

«Danke, Metzkow,», sagte die Schwester leise. Die Träger zogen sich zurück. Die Schwester nahm auf einem Stuhl neben der Kommode Platz. Ein Anflug von Panik und Erinnerungen an die russische Soldateska schienen sie zu überkommen. Aber diese Sow jets trugen Orden.

Gerhart Hauptmanns Kopf hing schief. Über dem edlen Schal schimmerte Speichel in seinem Mundwinkel. Die Augen waren blutunterlaufen. Ihm war das Gebiss eingesetzt worden. Becher blickte die Schwester fragend an. «Nur zu», beschied sie, «er freut sich sehr. Besuch baut ihn auf. Das Fieber ist weg. Dr. Schmidt hofft, dass er den Höhepunkt der Krisis überwunden hat. Es war eine schlimme Entzündung.»

Becher war medizinisch nicht firm. Doch vom Erscheinungsbild einer eingedämmten Erkrankung hatte der Laie andere Vorstellungen. (…) Johannes R. Becher richtete sich auf: «Großer Dichter, ich entbiete Ihnen die herzlichen Grüße und Wünsche der Genossen Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Unter ihrer Führung wird ein neues Deutschland erstehen.»

Die Grußadresse zeitigte keinerlei Reaktion. Wie sollte der Wiesensteiner die Führungsriege bisheriger deutscher Exilkommunisten – zwei gelernte Tischler und ein Buchdrucker – auch kennen und einschätzen können?

«Sie, Be-Becher … « Der Angesprochene horchte, der weiße Finger deutete gekrümmt auf ihn, «Sie, hoffnungsvoll. Einiges InIngenium …»

Der Präsident und Lyriker dankte mit einer Verbeugung. Hauptmann verstand und sprach. Er rutschte sogar in eine bequemere Sitzposition. Die sowjetischen Offiziere beobachteten den Vorgang gespannt. Becher musste nach der beschwerlichen Anreise seinen Vorstoß wagen: «Ich stehe, großer Gerhart Hauptmann, als Vorsitzender des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands vor Ihnen.»

«Nur … zu.»

«Voller Gram erfuhren und erleben wir, wie die Jahre und Gebrechen, die damit verbunden sind, und wie Not Ihnen zusetzen. Umso froher stimmt es, dass Sie den schlimmsten Anfeindungen weiterhin Ihre Kraft entgegensetzen.» Es war nicht zu deuten, wie es um diese Energie im Moment bestellt war; die Hände des alten Mannes ruhten fahl auf den Lehnen. Becher setzte sich; er musste keine Volksrede halten. «Denken wir an die Zukunft», sagte er.

«Ja, ja.»

«Für ein neues Deutschland habe ich es mir zur Pflicht gemacht, sämtliche Emigranten, die guten Willens sind, in der derzeitigen Ostzone zusammenzurufen. Bevor das vereinte Deutschland wiederersteht – was mir, wie jedem Patrioten, ein Herzensanliegen ist –, wird Mitteldeutschland, beziehungsweise nun Ostdeutschland, unter dem Schutze unserer sowjetischen Freunde zur Pflanzstätte einer friedvollen und sozialistischen Kultur werden.

(…)

In nicht ferner Zukunft, Gerhart Hauptmann, wird sich der Wunsch erfüllen, den Sie in Ihren sozialen Dramen auf der ganzen Welt verkündet haben. Die Weber werden nicht mehr hungern müssen. Das entrechtete Mädchen Hannele wird nicht mehr elend und fiebernd gen Himmel fahren müssen.»

Hauptmann hob den Blick und richtete sich leidlich auf.

«Zu viel Eigentum von Wenigen wird bei uns in Allgemeinbesitz überführt werden. (…) Nationale Überheblichkeit und Rassenwahn werden wir mit Stumpf und Stiel … beseitigen. Entscheidend dafür, Gerhart Hauptmann, sind Bildung, Erziehung und Kultur. (…) »

Der Greis nickte anerkennend.

«Ich plane Kulturhäuser im ganzen Land. Mobile Leihbüchereien werden die Bevölkerung mit anspruchsvoller Unterhaltung und Werken des Humanismus versorgen. Vornehmlich Kinder von Arbeitern und Bauern – bisher und noch weltweit Fußabtreter sogenannter Eliten – werden Zugang zu Universitäten erhalten. Die klassenlose Gesellschaft kann nur von unten her aufgebaut werden. Die Truppen der sozialistischen Völkergemeinschaft, die sich soeben bildet –»

«Dies schrecklichste der Jahrhunderte», vernahm man Gerhart Hauptmann. Er saß beinahe aufrecht und tupfte sich mit dem Einstecktuch aus seinem orientalisch anmutenden Hausgewand die Lippe trocken.

«– die Söhne des Volkes werden auf Friedenswacht stehen. Von unserem Land wird kein Krieg mehr ausgehen. Nie und nimmer!», rief Becher so laut, dass fast das Kerzenlicht flackerte. Hauptmann Weiss stimmte klärend zu: «Keine Zwille bekommt ihr in die Hand.»

(…) Gerhart Pohl trat leise ein, schlich zum Kanapee. (…)

Johannes R. Becher beugte sich vor. Seine Stimme klang freundlichkultiviert. «Sie befinden sich auf dem Weg der Gesundung.»

Niemand widersprach.
«Sie, Poeta Laureatus, sofort mitzunehmen, ist heikel.» «Gewiss», pflichtete der Fotoleutnant besorgt bei.

«Die Strecke ist strapaziös. Sie bedürfen noch der Ruhe. Sie wollen vielleicht das eine oder andere Erinnerungsstück mitnehmen. Ihre Frau und nächste Menschen.»

Hauptmann war sichtlich wacher geworden, was in diesem Fall hieß, dass seine Augen heller und größer geworden waren.

«Ich erwähnte», fuhr der Gast fort, «dass ich fortschrittliche und bedeutende Emigranten in Ostdeutschland versammeln möchte. Bertolt Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Hanns Eisler sind meinem Ruf gefolgt. Lion Feuchtwanger überlegt noch. (…)

Sie haben Anfechtungen nicht vollends widerstanden, Herr Hauptmann. Wer in diesem Haus verkehrte, will ich nicht wissen. Doch wer in unserem Land nach reinen Seelen sucht, müsste es zuvor entleeren. Leider. Wir müssen gerade trübes Wasser abkochen.»

Gerhart Pohl stimmte mit einem Nicken zu.

«Sie sind eine geistige Großmacht. Weltweit steht Ihr Name», Becher schüttelte lächelnd den Kopf, «für Menschlichkeit. Kommen Sie nach Berlin! Werden Sie Schirmherr meiner Akademie. Stehen Sie mit uns für die humanistische Tradition und eine lichte, friedvolle Zukunft.»

Der Kerzendocht verbrannte knisternd.
«Ostberlin?» Gerhart Pohl erhob sich.
«Falls die Bürde des Amtes eines Akademiepräsidenten zu schwer ist», Becher wog jedes Wort ab, «dann bieten wir, mit dem nötigen Komfort, Dresden als Bleibe für Gerhart Hauptmann an. Generalfeldmarschall Paulus, der Totengräber der 6. Armee bei Stalingrad, befindet sich bereits auf dem Weg nach Dresden. Aus dem preußischen Militaristen ist in der Gefangenschaft ein Antifaschist geworden.»

«Es geht doch», flocht Kapitan Weiss ein, «aber Paulus als Nachbar? Nur noch ein Nervenbündel.»

«Seine Träume möchte keiner haben», sagte Chanov.

 (…)

«Ausreise? Mein, mein Bruder ruht hier.» Der Hausherr zeigte sich nach Kräften geistesgegenwärtig. Leutnant Chanov blickte ihn aufmunternd an. «Meine Ahnen ruhen hier. Eegal, da sie ruhen, könnte man natürlich auch fort. Länder bleiben, Menschen entschwinden.“ (…)

In dem Halbdunkel um den Mahagonitisch (…) sortierte der Hausherr seine Gedanken: «Sie dürfen es übermitteln … wem Sie wollen, geschätzter Herr Becher, es ist meine Grußadresse: Es gibt keinen Augenblick, in dem ich nicht Deutschlands gedenke, obgleich mein Teil leider nicht, nicht mehr die Kraft besitzt, so zu wirken, wie ich möchte.» Er schnappte nach Luft. «Ich begrüße das Bestreben Ihres Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung», die Stimme sackte bei längeren Wörtern manchmal ab, «und ich hoffe, dass sie gelingen wird. Meine Wünsche sind in diesem Sinne … bei ihm.»

«Dürfte ich das in diesem Sinne veröffentlichen?»

«Das dürfen Sie.»

(…)

«Pohl», wandte sich der Hausherr an den Vertrauten: «Welches Gedicht von Herrn Becher schätzen wir, wir besonders?»

«Zu wenig, Herr Doktor, haben wir geliebt.»

«Genau», sagte Hauptmann, «habe vorhin das Bändchen holen lassen. War mit meiner Bibliothek auf dem neuesten Stand. Für, für die Bücher bräuchten Sie Güterwaggons.»

Während Becher sich neben den Offizieren erhob, begann Pohl etwas verlegen:

 «Aus weiter Ferne die Gespräche führen,
Die unterlassenen. Fremd ging ich vorbei
Mit meinem Wissen, und an mir vorüber
Ging wieder einer mit noch besserem Wissen.
O überall war besseres Wissen, jeder
Besaß die Weisheit ganz. Doch die Liebe fehlte
Und die Geduld. Und das Beisammensitzen.
Aussprache alles dessen bis ins kleinste,
Was nottat und was marterte die Seele.»

S. 450 bis 469 der Buchausgabe (gekürzt)
Auszug aus: Hans Pleschinski, „Wiesenstein“
Copyright © 2018 Verlag C.H. Beck, München