Charkiw, 1995, 1997

JURI ANDRUCHOWYTSCH

Aus dem Zugfenster konnte ich den Namen des letzten Haltepunkts vor Charkiw lesen: Nowa Bawarija. Das reichte, um eine lange Kette historischer Assoziationen in Gang zu setzen: Hitler, Bier, das Jahr 33, Postyschew, Fackelzüge, Sportlerinnen-Kolonnen am 1. Mai, wieder Bier, ganztägige Verhöre, der verirrte Galizier Les Kurbas, Stacheldraht an den Genitalien, Liebe zum Vaterland.

In Charkiw lag massenhaft Schnee – Frühlingsschnee, Aprilschnee, Halswehschnee, die schlimmste Sorte, auf die die Menschheit nie vorbereitet ist und gegen die sie nichts ausrichten kann. In nur vierundzwanzig Stunden war so viel Schnee gefallen wie sonst in einem halben Jahr, die Autos waren bis zu den Stoßstangen eingeschneit, die Fahrer konnten die Adressen nicht finden, und mein leichter Nachtzugkater erhöhte die Realität in einen Zustand fast surrealer Leichtigkeit. Die Hauptstadt der mythischen Arbeiterukraine blieb sich treu, beeindruckte mit postindustriellen Ruinen in unmittelbarer Bahnhofsnähe: Diese städtische Landschaft musste einfach zur Geburtsstätte von Punk, Poesie der Verzweiflung und proletarischer Melancholie werden.

Ich kam zum zweiten Mal nach Charkiw, und zum zweiten Mal versetzte mir die Authentizität des Ortes einen fast mystischen Schock.

Wir standen im Innenhof des ehemaligen Schriftstellerhauses „Slowo“, „Wort“. Mein Stadtführer zeigte mir eine halb offen stehende Fensterluke im ersten Stock. Dort lag jenes Arbeitszimmer, aus dem am Sonntag, dem 13. Mai 1933, das Geräusch eines Schusses in den Hof drang, des treffendsten, einfach zur Treffsicherheit verurteilten Schriftstellerschusses. Gleich nebenan, in der Wohnung von Mychajlo Semenko, fand am Vorabend ein Fest statt, man hatte bis vier Uhr morgens gefeiert, der Aufbruch dauerte lange, man sang und konnte sich auch draußen noch nicht beruhigen, auf den Straßen roch es schon nach den halb verwesten Leichen der an Hunger gestorbenen Bauern, wahrscheinlich störte der Lärm von Semenkos Gesellschaft den Dichter Chwyljowyj in seiner letzten Nacht. So erzählte es mir mein Stadtführer.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Sabine Stöhr
© Insel Verlag Berlin 2016

Auszug aus: Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik