Kriegstagebuch in „Die Welt“

Juri Durkot

Lemberg, 1. März 2022, abends

Es tut gut, viele Freunde in aller Welt zu haben. Viele melden sich bereits in den ersten Stunden, noch mehr am ersten Tag des Überfalls. Sie sind bestürzt, fassungslos, fühlen sich ohnmächtig, sind in Gedanken bei uns. Viele bieten auch einen Unterschlupf an.
Ich weiß gar nicht mehr, ob ich in diesem Tsunami von Meldungen aller Art jede beantwortet habe. Es tut mir leid, wenn ich irgendjemand vergessen habe. Man möge mir verzeihen, es ging einfach nicht.
Eigentlich mag ich Europa sehr. Wie viele Länder habe ich bereits besucht? Dreißig? Vierzig? Ich weiß es nicht mehr. Ich mag die gebrochene Linie norwegischer Fjorde, das flache Licht Finnlands, die Öresund-Fähren, welche die Einheimischen nutzen, um sich mit steuerfreiem Alkohol zu betanken, die Strenge der Halligen im Spätherbst, polnische Seen und Wälder, die Geschäftigkeit Berlins, das Gefühl der Hilflosigkeit auf den Britischen Inseln, wo man immer wieder beim Überqueren der Straße den Kopf in die falsche Richtung dreht, die Wohnboote der Holländer, die Luftströme in den Alpen, die dich bei einem Gleitschirmflug tragen, den Sprachensalat der Schweizer, die Unkompliziertheit der Italiener, die leichte Überheblichkeit der Franzosen oder die Brücken von Istanbul. Nun ist unsere Reise von Nord nach Süd zu Ende. Man hätte genauso gut auch eine andere Route nehmen können.
Einmal habe ich sogar geträumt, wie meine Asche über der Nordsee vom Winde verweht wird. Wahrscheinlich habe ich mir am Abend davor „The Big Lebowski“ angesehen.
Und dann noch die Häfen – jeder mit seinem eigenen, unverwechselbaren Flair, aber alle mit einem besonderen Gefühl der Freiheit und kosmopolitischem Stolz. Das einzige, was Lemberg fehlt, ist ein Hafen. Legenden zufolge, also in einer Zeit, die niemals existierte, soll es hier auch einmal einen großen Fluss gegeben haben. Heute ist es nur ein kleines Bächlein, das die Österreicher vor 150 Jahren aus hygienischen Gründen unter die Erde verbannt haben. Hätten wir aber einen Hafen gehabt, wäre der Aufstieg Lembergs zu einer Weltmetropole unaufhaltbar gewesen.
Zählte ich alle Einladungen, die schwierigen Zeiten im Ausland zu überwintern, zusammen und nähme ich jede für nur eine Woche in Anspruch, könnte ich wahrscheinlich mindestens zwei Jahre lang Urlaub machen. Das mache ich vielleicht tatsächlich. Irgendwann in der Zukunft.
Aber heute gehen wir nicht. Nicht, weil Männer im wehrfähigen Alter das Land nicht verlassen dürfen. Und nicht, weil man im Moment hier im Westen des Landes noch in ziemlicher Sicherheit ist. Es wäre einfach ein Verrat an Menschen, die gestorben sind oder alles verloren haben. Die Bilder von CNN oder Reuters bestätigen dies jede Minute. Man könnte einfach den anderen nicht in die Augen schauen, wenn man weg gewesen wäre und erst zurückkehren würde, nachdem alles vorbei ist. Wir werden nur dann gehen, wenn es unser Land nicht mehr gibt. Aber wir sind gerade dabei, das zu verhindern. So tun alle, was sie nur können. Frauen mit kleinen Kindern, Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben müssen sich ins Ausland retten. Wir nicht.
Die gesamte Welt macht nun alles, um uns zu helfen. Na ja, fast alles. Wenn wir es aber überleben – wir Ukrainer, aber auch alle Europäer, die gesamte Welt, der Planet Erde oder was sich sonst noch in dieser Galaxie um sich selbst dreht –, wenn Menschlichkeit, Vernunft, Freiheit und Menschenwürde (also alles, was heute in einem verrückt gewordenen Zehntel der Landfläche auf dieser Erde gar nichts mehr zählt) nicht endgültig zugrunde gehen, und wenn ihr danach wieder mit Diskussionen anfangt und uns nicht so schnell wie möglich in die Europäische Union aufnehmt – werden wir euch das nie verzeihen. Niemals.
Ich habe gerade festgestellt, das von allen Wörtern in diesem langen Text das Rechtschreibprogramm meines Computers nur drei nicht versteht: Gleitschirmflug, Sprachensalat und Unkompliziertheit. Und noch Lebowski dazu. Damit kann man gut leben.

Lemberg, 7. März, abends

Sechsundzwanzig Stunden. Neunhundert Kilometer. Fünfzehn Personen. Ein Viererabteil. Ort der Handlung: ein Zug. Strecke: Krywyj Rih, Region Dnipro, Ostukraine – Lemberg Hauptbahnhof. Zwischenstationen: unbekannt. Aber immer wieder. Atemluft: eingeschränkt vorhanden. Anzahl der WCs pro Waggon: zwei. Anzahl der Abteile: neun. Anzahl der Fahrgäste (im Schnitt pro Abteil): siehe oben. Anzahl der Fahrgäste in den Gängen: Niemand zählt nach.
Meine schlimmste Erfahrung in einem total überfüllten Zug war bisher ein ICE von Hamburg nach Kassel. Ich stand die ganze Zeit auf anderthalb Beinen neben meinem Koffer im Einstiegsbereich. Eine Mutter mit dem Kinderwagen hätte, wenn sie irgendwo in der Mitte des Waggons säße und aussteigen wollte, kaum eine Chance gehabt. Aber von Hamburg nach Kassel schafft es die Deutsche Bahn, wenn sie sich nicht verfährt, in etwa zweieinhalb Stunden. Selbst wenn man die Verspätung einkalkuliert. Ich werde mich nie mehr über meine Reisen mit der Deutschen Bahn beschweren.
Wäre die Deutsche Bahn mit der Evakuierung dieses Ausmaßes überfordert? Ganz bestimmt. Jede Bahngesellschaft dieser Welt wäre überfordert. Auch die ukrainische ist es. Aber sie schafft es bisher immer wieder, die Menschen aus den gefährdeten Städten herauszubringen. Auch wenn ihre Züge in friedlichen Zeiten nicht so schnell fuhren wie ein ICE.
Die Menschen im Abteil erzählen ihre Geschichten. Eine ältere füllige Frau will nach Italien. Ihre Tochter arbeitet dort seit Jahren. Sie wird von einer anderen Frau begleitet, die selbst in Italien arbeitet und der Tochter versprochen hat, ihre Mutter mitzubringen. Offenbar hat die ältere Frau Herzprobleme, ihr geht nicht gut, sie atmet schwer. Zufällig fährt eine Ärztin im selben Abteil mit. Ein paar Tabletten helfen, zumindest vorübergehend. Viel mehr kann man nicht tun.
In der Nacht müssen die Jalousien voll herabgelassen werden, am Tag nur zur Hälfte. Unterwegs werden Kontakte ausgetauscht, die Menschen im Abteil bilden eine Gruppe im Viber-Messenger. In Lemberg steigen alle aus. Einige bleiben in der Stadt. Die anderen wollen weiter nach Polen. Mit einem anderen Zug oder in einem Bus. Die ältere Frau und ihre Begleiterin stellen sich am Ende einer langen Schlange an.
Julias Mutter kommt auch mit diesem Zug nach Lemberg. Sie ist die Ärztin, die in dem Abteil mitgefahren ist. Am nächsten Tag kommt im Chat die Nachricht, dass die ältere Frau gestorben ist. Am Grenzübergang. Sie hätte es beinahe nach Polen geschafft.

Lemberg, den 22. April 2022, nachmittags

Was macht den Unterschied aus zwischen einem Tagebuch und einer Kolumne? Vor allem die Selbstdisziplin. Jeder seriöse Tagebuchschreiber betrachtet die Texte als sein Lebenswerk. Oder zumindest als Therapie. Das verpflichtet. Man könnte dafür ein noch schöneres, typisch deutsches und deswegen für einen Ausländer absolut unaussprechliches Wort verwenden: Es ist eine Selbstverpflichtung. Daran hat mich Juri Andruchowytsch vor paar Jahren erinnert.
Ich weiß nicht wirklich, wie es funktioniert. Ich habe noch nie ein Tagebuch geschrieben. Aber ich stelle mir vor, dass man fleißig und regelmäßig schreiben muss. Und ein echter Tagebüchler müsste sein Leben lang schreiben. Keine Ahnung, ob das Tagebuchschreiben – wie der kaum übersetzbare Begriff der „Innerlichkeit“ – in Deutschland erfunden wurde, beides passt aber gut zusammen. Es ist bemerkenswert, dass es zu dieser Klopstockschen Wortschöpfung nur in der deutschen Wikipedia einen Eintrag gibt. Sonst in keiner anderen Sprache.
Bei Kriegstagebüchern ist es anders. Weil alle Kriege irgendwann enden, muss man sich die Frage stellen: Was macht man danach? Ich weiß nicht, warum ich gerade heute darüber nachdenke. Vielleicht ist es bloß ein verregneter Karfreitag vor dem orthodoxen Ostern.
Bei einer Kolumne hat man dagegen mehr Freiheit. Und mehr Zeit. Da dieses Genre eher wöchentlich – wenn man das Glück hat, ein berühmter Autor zu sein, zweiwöchentlich oder sogar monatlich – praktiziert wird, sieht es eine gewisse Muße vor. Man kann sechs Tage in der Woche seinen Vergnügungen nachgehen, damit in dieser Zeit ein paar geniale Gedanken heranreifen, bevor man am siebten Tag ein paar Zeilen niederschreibt.
Nach diesem Prinzip hat eine der besten ukrainischen Wochenzeitungen funktioniert. Damals redeten alle von einer „Zeitenwende“, und zwar von einer echten. Die von einem „Liefern-oder-nicht-liefern“-Waffendilemma geprägte Zeitenwende gab es damals noch nicht.
Es ist ein Rätsel, warum in mir in den letzten Wochen plötzlich so viele Erinnerungen aus den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren wach werden. Womöglich, weil ein Verrückter nun die Zeit zurückdrehen will. Vielleicht ist es nur ein Schutzmechanismus. Aber es war eine unglaublich spannende Zeit mit so viel Neuem an Freiheit, an Wissen, einer plötzlichen Vielfalt von Ideen und Gedanken, dass uns die Welt wie eine atemberaubende Reise erschien. Zu dieser neuen Welt gehörten auch die neuen Zeitungen.
Noch wichtiger als die Zeitenwende war möglicherweise die Tatsache, dass damals die ersten Computer in die Redaktionsräume Einzug gefunden hatten. Und die ersten Computerspiele. Ich glaube sogar, sie waren der Hauptgrund dafür, warum die Wochenzeitung ein besonders beliebtes Format war, obgleich Medienhistoriker auf absolut nebensächliche Faktoren wie Papierprobleme oder drucktechnische Engpässe hinweisen.
So füllte sich der Redaktionsalltag sechs Tage die Woche mit fröhlichen Computerklängen. Nein, man hat nicht nur an und mit den Rechnern gespielt. Man hat auch Geburtstage gefeiert. Und andere Feste. Am siebten Tag hat man die beste Zeitung aller Zeiten produziert. Dies hatte zugleich eine metaphysische Dimension: Man verstand die Mission nicht als Schöpfung, an der man sechs Tage arbeitet und sich am siebten Tag ausruht, sondern als Zerstörung – des alten Systems, der menschenverachtenden Ideologie, der Überbleibsel der verlogenen kommunistischen Welt. Als diese Welt endgültig zugrunde gegangen war, fiel es schwer, weiterzumachen. Mitte der 1990er-Jahre wurde das Blatt eingestellt. Viele dachten damals, dass Freiheit und Demokratie fast automatisch siegen würden.
Aber sie haben nicht automatisch gesiegt. Man hat dafür kämpfen müssen, mehrfach und immer wieder. Die Unabhängigkeit als Zerfallsprodukt des sowjetischen Imperiums war den Ukrainern nach allgemeiner Auffassung noch mehr oder weniger kampflos in den Schoß gefallen. 2004 bedurfte es schon einer – immerhin friedlichen – Revolution, um die Rückkehr des Autoritarismus zu verhindern. Zehn Jahre später während des Euromaidans zahlte man bereits einen viel höheren Preis an Menschenleben und anschließendem Gebietsverlust, um einen neuen Möchtegerndiktator zu verjagen.
Der schwarze Schatten Russlands hing all die Jahre am Himmel über Kiew und wollte es nicht freigeben. Nun kämpfen wir gegen den brutalen Wahn einer verbrecherischen russischen Kriegs- und Propagandamaschine. Diesmal müssen wir einfach gewinnen. Eine Niederlage können wir uns nicht leisten. Einen fünften Versuch wird es nicht geben.

Lemberg, den 5. Mai 2022, abends

Wer jemals in der Ukraine zu Stoßzeiten Straßenbahn gefahren ist, weiß, wie es funktioniert. Hat man noch keinen Fahrschein, kann man ihn bei der Straßenbahnfahrerin kaufen (meistens sind es immer noch Frauen, auch wenn heute manchmal Männer in diesem Job anzutreffen sind). Ist man aber hinten eingestiegen, kommt man nicht bis nach vorne durch. Man kann sich sowieso kaum bewegen.
Also holt man mit akrobatischen Verrenkungen das Geld aus der Tasche und reicht es seinem Nachbarn. Der reicht es weiter, seine Nachbarin wiederum streckt schon die Hand aus, und so wandern die Geldscheine oder die Münzen über die Köpfe der Fahrgäste bis zur Fahrerin. In ihrer Tür gibt es eine kleine Schublade, die sie an Haltestellen immer wieder checkt. Dann wandern die Fahrscheine auf dieselbe Weise zurück. Bestellung eingegangen, Bestellung erfüllt.
Hat man das passende Kleingeld nicht, kriegt man sogar den Rest zurück. Man muss nur sagen, wie viele Fahrscheine man braucht – und schon wandern sie zusammen mit dem Wechselgeld an den Fahrgast retour. Mit dem Entwerten sieht es ähnlich aus, nur sind die Wege etwas kürzer. Es gibt nämlich in einer Straßenbahn in der Regel mehr Entwerter als Fahrer.
Mit den Hilfslieferungen funktioniert es heute genauso. Deine Freunde sagen dir, dass im Ort A oder B – im Osten, im Süden oder im Norden des Landes – etwas dringend gebraucht wird, was derzeit in der Ukraine nicht aufzufinden ist. Bestimmte Medikamente zum Beispiel. Du rufst ein paar Freunde in Europa an oder schreibst Ihnen – und schon machen sie sich auf die Suche. Der Spendenfluss trocknet niemals aus.
Manche Artikel sind heute nicht mal im europäischen Ausland leicht zu finden, der Bedarf ist stark gestiegen. Aber irgendwann klappt es doch. Dann geht es zurück, wie mit dem Fahrschein in der Straßenbahn. Man muss sich nur vorstellen, dass es diesmal eine Straßenbahn ist, die mehrere hundert Kilometer lang ist. Also dauert es in der Regel etwas länger. Aber es funktioniert. Immer und zuverlässig.
Nun sind die Fahrer dran. Ohne sie würde das System nicht funktionieren. Sie sind Tag und Nacht unterwegs, stehen stundenlang an den Grenzübergängen, transportieren hunderte größere und kleinere Pakete in ihren LKW oder Kleinbussen, haben Listen mit hunderten Telefonnummern von verschiedenen Adressaten in verschiedenen Städten. Sie wissen auswendig, welche Straßen in der Ukraine derzeit befahrbar und sicher sind, und welche man lieber meiden sollte. Ich habe noch nie gehört, dass sie irgendetwas verwechselt haben und ein Paket an die falsche Adresse geliefert worden ist.
Manchmal verliert man den Kontakt, sie melden sich stundenlang nicht, vielleicht sind sie in einem Funkloch, man weiß heute aber nie, was unterwegs passieren kann, also macht man sich schon ein bisschen Sorgen. Aber bevor man sich echte Sorgen zu machen beginnt, sind sie wieder da, es hat halt länger gedauert, kein Problem.
Danach übernehmen es andere Helfer. Sie holen ab, packen um, sortieren und verschicken es weiter. In der Ukraine geht es inzwischen sogar wieder mit der Post.
Es ist ein Riesennetzwerk. Man hat Freunde in allen möglichen Städten und Ecken. Ohne alle diese nicht gleichgültigen und total engagierten Menschen aus allen Nationen, in allen Ländern der Welt hätten wir nicht überlebt. Man kann ihnen nicht genügend danken. Irgendwann werden wir ein Denkmal für den unbekannten Helfer aufstellen. Notfalls sogar in einer Straßenbahn.

Lemberg, den 27. Mai 2022, nachmittags

Einwegboote sind auf europäischen Flüssen seit dem späten Mittelalter
bekannt. Es waren sehr einfach konstruierte Holzkähne, die allerlei Waren in
nur eine Richtung, nämlich flussabwärts, transportierten. Am
Bestimmungsort hat man das Boot dann zerlegt und als Nutzholz verkauft.
Diese Art von Schifffahrt war auch im Donauraum verbreitet. Dort haben die
Kähne die ursprünglich zum Transport verwendeten Flöße allmählich
verdrängt, da für den Bau dieser einfachen Einwegboote viel weniger Holz
benötigt wurde.
Von Ulm donauabwärts verkehrten die Ulmer Schachteln. Ursprünglich war
es nur ein Spottname für die in Ulm gebauten schwarz-weiß gestreiften
Boote, die nicht gerade durch ihre Eleganz bestachen. Heute sind sie eine
doppelte Touristenattraktion – als Bild im Giebel des Ulmer Rathauses und
als romantische Freizeitboote. Nur die Verwendung hat sich geändert – sie
werden nicht mehr nach jeder Fahrt verheizt.
Immerhin waren die Männer und Frauen – später wurden auf Ulmer
Schachteln auch deutsche Siedler ins süd.stliche Europa befördert – auf
diesen Flussrouten relativ sicher. Auf den Einwegschiffen, die im 19.
Jahrhundert für Holztransporte von Amerika nach England gebaut wurden,
ging es dagegen viel gefährlicher zu. Wegen einer vom Vereinigten
Königreich erhobenen hohen Einfuhrsteuer auf Bauholz aus der Neuen Welt
kam man auf die Idee, das Holz sozusagen in Schiffsgestalt zu
transportieren. Eher schlampig gebaut, galten diese Schiffe als unsicher und
waren nur bei gutem Wetter und mit etwas Glück seetüchtig.
Außerdem konnte unter diesen Bedingungen niemand erwarten, dass die
Besatzungen zu den besten zählten. Oft waren es bunt zusammengewürfelte
Trupps aus Abenteurern und Gaunern, die überdies kaum für die Überfahrt
ausgebildet wurden. So gingen die Schiffe nicht selten zu Bruch. Die
Todesrate unter den Seemännern war recht hoch. Es waren gewissermaßen
Einwegmänner auf Einwegschiffen. Das Geschäft lohnte sich trotzdem und
florierte zumindest bis 1825, als zwei große Schiffe verloren gingen.
Die russische Armee scheint nach demselben Einwegprinzip zu
funktionieren. Zumindest solange man genug Nachschub von militärischem
Gerät organisieren kann und es genug Soldaten gibt, die in die Schlacht
geschickt werden können. Die Ausbildung und Ausrüstung der Männer
scheint dabei zweitrangig zu sein. In den abgefangenen Gesprächen fordern
russische Offiziere immer wieder einen Nachschub, dabei sprechen sie von
„Einwegmännern“. Mal 40 „Einwegsoldaten“ hierhin, mal fünfzig auf die
andere Flanke. Vor allem werden so Rekruten der Marionettenregime im
Donbass bezeichnet.
Früher hat man vom „Kanonenfutter” gesprochen. Dieser Ausdruck, der
möglicherweise auf Shakespeare zurückgeht, wird von russischen Offizieren
jedoch nicht verwendet. Vielleicht ist er in Russland inzwischen verboten,
weil er von einem Autor aus einem „feindlichem“ Land stammt. Manche
Politiker rufen mittlerweile dazu auf, den Englischunterricht aus den Schulen
zu verbannen. Die Kinder würden dort ja fremdsprachlich indoktriniert und
könnten schlimmstenfalls sogar Lust auf eine Londonreise bekommen. Also
lieber doch noch fleißiger die russischen Geschichtsfantasien einpauken.
Vielleicht erfindet das russische Militär aber auch nur neue Begriffe, die zur
russischen Parallelwelt passen. Es herrscht ja schließlich gar kein Krieg. In
einer „Sonderoperation“ kann es nur „Einwegsoldaten“ geben, die friedlich
aus Einwegflaschen trinken und von Einwegtellern essen.

Lemberg, den 8. Juni 2022, nachmittags

Der Juni war immer ein Monat der Kirschen gewesen. In den letzten Jahren
kamen die Kirschen aus Melitopol. Vielleicht nicht direkt aus der Stadt, aber
auf jeden Fall aus der Region oder allgemein aus dem ukrainischen Süden.
Sie waren groß, süß und fruchtig. Melitopol war die Hauptstadt der Kirschen.
Eine glanzvolle Metropole des Kirschimperiums. Auf den Lemberger Märkten
gab es in der Sowjetzeit keine Kirschen aus dem Süden, nur von
einheimischen Bauern. Sie waren kleiner und weniger saftig, weil den
Kirschbäumen in unseren geografischen Breiten die Sonnenstunden fehlten.
Das wussten wir damals nicht. Wir wussten nicht mal, dass es andere
Kirschen geben kann. Bis wir in den Ferien vor der letzten Schulklasse in
eine Kolchose in den ukrainischen Süden abkommandiert wurden, um den
dortigen Kolchosbauern bei der Ernte zu helfen. Wir freuten uns riesig auf
das Abenteuer. Die Zugreise dauerte ewig. Die Nacht in der ratternden
Eisenhülle des alten Waggons war schwül, und der Tag war heiß. Einen
frustrierten europäischen Intellektuellen oder einen unverbesserlichen
Romantiker hätte die Fahrt bestimmt begeistert. Wir hatten andere
Probleme. Hätten wir gewusst, dass es Klimaanlagen gibt, hätten wir von
einer Klimaanlage geträumt. Wir wussten es nicht. So träumten wir vom
Meer. Die Kolchose lag nicht am Meer. Man versprach uns, dass wir
unbedingt einen Ausflug machen würden (aber nur, wenn wir fleißig
arbeiteten), und brachte unseren bunten Schülertrupp in irgendwelchen
provisorischen Baracken unter. Gleich am ersten Abend durchsuchten die
Lehrerinnen und Lehrer unsere Reisetaschen. Es ging um Alkohol und
Zigaretten, wir waren ja noch minderjährig, auch wenn wir Erwachsene
spielen wollten.
Damit sie ihr Gesicht wahren konnten, verwendeten wir die „Macron-
Strategie“. Wir ließen sie die eine oder andere Schachtel Zigaretten oder
Bierflasche finden, den Rest hatten wir frühzeitig bei den Mädchen
deponiert. Sie wurden nicht durchsucht. Bei den Komsomolzinnen ging man
fest davon aus, dass sie nicht rauchten, kein Bier tranken, die Prinzipien der
kommunistischen Moral auswendig kannten und jungfräulich waren. Also ließ
man sie in Ruhe. Es ist mir ein Rätsel, warum diese kommunistische
Scharade im ganzen Land gespielt wurde. Jeder wusste, dass Schüler und
Studenten die Arbeit nur mimen würden. Das machte sowieso fast jeder in
der späten Sowjetzeit. Außerdem war es ein stillschweigendes Geständnis,
dass das System gar nicht funktionierte. Die Kolchosen waren nicht
imstande, ihre Ernte einzubringen, auch die Logistik funktionierte nicht,
sodass Obst und Gemüse nie in die leeren sowjetischen Gemüseläden
kamen.
Es wäre sowieso niemand auf die Idee gekommen, dort einzukaufen. Man
kaufte auf dem Markt vom Bauern. Erziehung durch fleißige, kostenlose
Arbeit für den Sozialismus gehörte aber zur kommunistischen Moral wie
Kirschen zur Marmelade. Das war einfach Pflicht. Also machten alle mit,
obwohl alle wussten, dass es keinen Sinn hatte. Für unsere Lehrer waren wir
eine Belastung, für die Kolchosbauern eine Beleidigung, und für die örtlichen
Teenager eine Belustigung. Zumindest hatte jeder Spaß daran. Bei den
Namen der Kolchosen herrschte eine gewisse Eintönigkeit. Als hätten die
Kommunisten ihre gesamte Fantasie für die Euphemismen aufgebraucht, die
sie für die Beschreibung der Zustände im Land und ihre Tätigkeit erfinden
mussten. Man hatte immer etwas normalisiert, verbessert, vertieft,
weiterentwickelt oder erweitert. Die Kolchosen trugen beispielsweise den
Namen des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution oder des Lenin’schen
Komsomol, auch wenn sich die sogenannte „Oktoberrevolution“, die die
Bolschewiken durch Putsch an die Macht gebracht hatte, zu jener Zeit eher
der Lebenserwartung eines angetrunkenen sowjetischen Arbeiters näherte.
Viel seltener kam vor, dass Kolchosen romantische Namen wie „Gartenriese“
bekamen. Über einen landwirtschaftlichen Betrieb namens „Gartenzwerg“ ist
mir nichts bekannt.
Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte der sowjetischen
Landwirtschaft und der ukrainischen Kolchosen wurden wir mit dem
Pflücken der Kirschen beauftragt. Wir bekamen ein paar hohe Leitern und
kletterten munter auf die Kirschbäume. Insgesamt verbrachten wir ungefähr
eine Woche in diesem Kirschparadies. Am ersten Tag aßen wir Kirschen wie
wilde Teufel und reagierten kaum auf die empörten Rufe der
Kolchosbäuerinnen, die uns daran erinnerten, dass wir das Plansoll zu
erfüllen hatten. Es war uns egal. Am zweiten Tag hatten wir nach der
Kirschsucht am Vortag mit einigen Gesundheitsproblemen zu kämpfen. Ab
dem dritten Tag ging es einigermaßen weiter. Die gepflückten Kirschen
gehörten in die Holzkisten. Es waren sehr schlampig aus ein paar krummen
Brettern zusammengezimmerte Behälter mit breiten Spalten im Boden und
an den Seiten. Man musste den Boden mit Laub abdecken, damit die
Kirschen nicht durchfielen.
Die Kisten füllten sich nur langsam. Bis jemand auf die Idee kam, dass man
auf die erste Laubschicht ein paar kleine Steine und Zweige legen könnte,
und das Ganze danach durch eine weitere Laubschicht abdecken sollte. Nun
füllten sich die Kisten wesentlich schneller. Wir waren sogar nahe dran, das
Plansoll zu erfüllen. Das war ein fester Bestandteil jeglicher Arbeit in der
späten Sowjetzeit. Jeder wusste, dass alle mogeln. Nach einigen Tagen
flogen unsere Mogeleien auf, weil jemand versehentlich eine Kiste umstieß.
Man sagte uns, dass wir dieses System nicht erfunden haben; es wiederhole
sich von Jahr zu Jahr in verschiedenen Variationen. Man war nicht wirklich
böse auf uns. Nur durften wir danach keine Kirschen mehr pflücken und
wurden bis zum Ende unserer Zeit in diesem fröhlichen Arbeitslager an lange
Tomatenreihen strafversetzt, die wir nunmehr jäteten. Es war nicht mehr so
spannend. Vielleicht standen die Tomaten bereits im Vorhinein auf dem
Programm, und man nutzte unseren missglückten Trick mit den Kirschen nur
als Vorwand.
Einen Ausflug ans Meer machten wir trotzdem. Nach dem Zerfall der
Sowjetunion brauchten die Bauern plötzlich keine unbezahlte Hilfe von
Schülern und Studenten mehr. Sie lernten sehr schnell, wie man gute
Kirschen, Wassermelonen oder Pfirsiche anbaut und im ganzen Land
verkauft. Überall wusste man, dass im Juni die besten Kirschen aus
Melitopol kommen werden. In diesem Jahr wird es keine Kirschen aus
Melitopol auf den Lemberger Märkten geben. Woanders auch nicht. Man
hört sogar, dass die russischen Besatzer im ukrainischen Süden wieder
Kolchosen einführen wollen. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis
wieder Schülerarbeit gefordert wird.

Lemberg, den 27. Juli 2022, abends

Derzeit berichten die Medien nur noch selten über Mariupol. Wenn überhaupt, dann sind es eher Geschichten von Menschen, denen die Flucht aus dem Inferno gelungen ist. Wie der Familie eines achtjährigen Jegor, der in seinem Tagebuch geschrieben hat: „Zwei Hunde, die Großmutter Galja und meine geliebte Stadt Mariupol sind tot.“ Darüber, wie es den Menschen in der fast vollständig zerstörten Stadt unter russischer Besatzung heute geht, erfährt man selten. Journalisten gibt es dort keine, die russischen Propagandamedien haben mit dem Journalismus genauso viel gemeinsam wie ein Meerschweinchen mit Meer. In den sozialen Netzwerken sind die Menschen extrem vorsichtig, um sich, ihre Angehörigen und ihre Freunde nicht zu gefährden. Kritik über die Lage kann man sich kaum erlauben. Die Namen tauchen selten auf. Trotzdem kann man manchmal ein Gefühl bekommen, wie das Leben in Mariupol aussieht.
Nelli schreibt immer wieder Tweets über ihre Stadt, postet Fotos, manchmal auch kurze Videos. Die breiten, grünen Kronen der Bäume versperren den Blick auf die Häuserruinen. Manchmal füllt ein zerstörtes Hochhaus den ganzen Computerbildschirm. „Ich weiß nicht, wie dieses Syndrom heißt“, twittert sie heute. „Ich schäme mich, es laut zu sagen, aber wenn ich auf die zerstörten Häuser schaue, verspüre ich keine Emotionen. Überhaupt keine.“ Bei einem kleinen Spaziergang am Vortag sah sie einen gepanzerten Mannschaftstransportwagen voller Tschetschenen. Er fuhr Richtung Süden, oben wehte eine tschetschenische Flagge. Es muss eine unheimliche Begegnung gewesen sein.
In den ersten Tagen nach dem Kriegsbeginn twitterte Nelli zunächst regelmäßig, der letzte Tweet war vom 2. März. Es regnete in Mariupol, ein dichter Nebel lag über der Stadt. Auf dem Foto konnte man ukrainische Flagge erkennen. Dann war Nelli weg, für mehrere Monate. Erst Ende Juni meldete sie sich auf Twitter wieder: „Wir haben überlebt. Unsere Katze auch. Überlebt in der Hölle mit Blick auf Asow-Stahl“. „Hölle“ ist das Wort, das in ihren Tweets immer wieder vorkommt. Ihr Haus bebte, als russische Flugzeuge Angriffe auf das Hüttenwerk flogen. Monatelang. Nachdem die Bombardierungen aufgehört hatten, qualmte Asow-Stahl noch lange weiter. Erst am 19. Juli schrieb Nelli, dass es nicht mehr qualme.
Auf einem Foto sieht die Stadt beim Sonnenuntergang fast idyllisch aus. Wenn man die zerstörten Häuser nicht sieht. Denn das Leben gebe es nur noch in einem Stadtteil – zwischen der Schule Nummer 65 und dem Taras-Park. Und bei den vielen Fotos, die Nelli twittert, fällt einem aufmerksamen Beobachter noch etwas auf. Man sieht keine Vögel darauf. Es wäre mir bestimmt nicht aufgefallen, wenn Nelli einmal nicht getwittert hätte: „Schickt uns weiße Tauben“. Denn es gibt keine weißen Tauben in Mariupol mehr. Es gibt überhaupt kaum noch Tauben in der Stadt. Die Vögel wurden gefangen und aufgegessen, als es gar nichts mehr zu essen gab. Der Grund, warum die weißen Tauben völlig ausgerottet wurden, ist übrigens ganz simpel. Nein, ihr Fleisch schmeckt nicht besser. Man kann sie halt im Dunkeln besser sehen.

Lemberg, den 1. September 2022, nachmittags

Ende August beginnt die große Völkerwanderung. Die Sommerhitze ist vorüber. Familien kommen aus dem Urlaub zurück, Studierende schleppen schwere Taschen in ihre Wohnheime und Mietwohnungen. Überall sind Hektik und Rastlosigkeit zu spüren. Die Straßenbahnen bimmeln, die Autos hupen. Etwas Wundersames, ein Zauber liegt in der Luft. Es ist wie vor Weihnachten oder Silvester, nur dass diesmal keine Adventskalender, Geschenke und Sekt gekauft werden, sondern Schulranzen, Bleistifte und Hefte. Am letzten Sommertag explodieren die Preise für einen Blumenstrauß wie für eine Taxifahrt beim Sturzregen. Am nächsten Morgen steht die ganze Stadt im Stau. Der Kollaps hat einen Namen: Schulbeginn.
Der deutsch-spanische Journalist Juan Moreno hat einmal in einer Kolumne behauptet, dass Karl Marx nie auf die Idee gekommen wäre, den Kommunismus zu erfinden, wenn er im Zeitalter des Automobils gelebt hätte. Denn das oft extrem individualistische Verhalten der Autofahrer widerspreche grundsätzlich der Idee einer glücklichen Zukunft ohne Privateigentum. Ich vermute sogar, dass die Autofahrer beziehungsweise der unausrottbare Wunsch des Menschen, eine kleine „Mobilie“ auf vier Rädern zu besitzen, einen wesentlichen Beitrag zum Untergang aller Arbeiter-und-Bauern-Staaten dieser Welt geleistet haben.
Etwas Ähnliches wie über den Urvater der kommunistischen Ideologie könnte man auch über den Mann sagen, der lange Sommerferien für Schüler und einen einheitlichen Schulanfang am 1. September erfunden hat. Dass es eine Frau hätte sein können, ist im Hinblick auf die historische Epoche eher unwahrscheinlich. Schade eigentlich, denn so wäre die Regel womöglich etwas flexibler ausgefallen.
Als in den meisten europäischen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, waren die langen Sommerferien eher als eine Notlösung gedacht. Sonst wären die Bauernkinder, die im Sommer den Eltern bei den landwirtschaftlichen Arbeiten helfen mussten, dem Unterricht ferngeblieben. In der Sowjetunion hat sich diese Tradition als äußerst lebendig erwiesen. Sie hat nicht nur Lenin und Stalin, sondern auch alle nachfolgenden Parteisekretäre und sogar den Zerfall des sowjetischen Imperiums überlebt.
Drei Monate Schulferien waren für junge Eltern ein Horror. Wohin mit dem Kind im Grundschulalter? Wer Verwandte auf dem Lande hatte, konnte das Mädel oder den Bub dorthin verfrachten. Ansonsten hatte man ein Problem. Damals wusste noch niemand, dass es Corona gibt. Manchmal halfen die Großeltern aus, wenn sie nicht mehr arbeiteten. Oft mussten der Papa und die Mama den Urlaub zeitversetzt nehmen. So konnte das Kind die Ferien einen Monat mit der Oma, den zweiten mit dem Vater und den dritten schließlich mit der Mutter genießen. Ansonsten gab es nicht viele Alternativen. Die Glücklicheren hatten ältere Geschwister. Die Unglücklicheren mussten ins Pionierlager. Oder umgekehrt. Dann sahen sich alle am 1. September in der Schule wieder.
In diesem Jahr ist es anders. Nicht alle Kinder werden wieder zusammenkommen. Hunderte sind von russischen Raketen getötet worden. Hunderttausende sind geflüchtet und in der Westukraine gelandet. Andere sind mit ihren Familien über ganz Europa verstreut. Manche Schulen sind zerbombt worden. In anderen ist der Präsenzunterricht aus Sicherheitsgründen gar nicht möglich. In den besetzten Gebieten fangen die Okkupanten indessen an, ukrainische Schulbücher zu beschlagnahmen und die „Putinsche“ Geschichte zu unterrichten. In Mariupol haben die Schulen am ersten Schultag gar nicht geöffnet. Sonst hätte man dort den Kindern eingebläut, dass es keine ukrainische Nation gibt.
Dass am 1. September nicht nur das Schuljahr beginnt, sondern auch der Zweite Weltkrieg angefangen hat, mag ein Zufall sein. Trotzdem begegnen sich beide Fakten immer wieder. Aber das ist eine neue Geschichte, die bei einer anderen Gelegenheit erzählt werden muss.

Lemberg, den 26. April 2023, abends

Vor einiger Zeit – es muss wohl im Herbst 2021 gewesen sein – schrieb mir
Viktoria eine E-Mail. Es war nichts Wichtiges, vielleicht etwas wegen einer
kleinen literarischen Übersetzung, vielleicht aber nur eine Frage nach
meinem Befinden. Es war immer noch Corona-Zeit, in den Geschäften und in
öffentlichen Räumlichkeiten galt die Maskenpflicht. Persönliche Kontakte
und Reisen waren seltener geworden, Online-Konferenzen, Messenger-
Chats und die altertümlichen E-Mails dominierten die soziale
Kommunikation. Was ein Briefumschlag ist, wussten die Kids schon lange
nicht mehr. Das Wort war aus dem Lexikon der U-16-Generation fast spurlos
verschwunden. Man hätte sie genauso fragen können, was ein
Kassettenrekorder ist.
Am Ende von Viktorias E-Mail standen zwei Telefonnummern – eine
ukrainische und eine US-amerikanische – und ein Logo. Drei Buchstaben
bildeten ein Dreieck, daneben stand “New Yorker Literaturfestival”. Ich muss
gestehen, dass die amerikanische Nummer mich etwas verwirrt hat. Ich
wusste, dass Viktoria einige Monate in den USA gewesen war, wo sie den
Ausbruch der Corona-Pandemie erlebt hatte. Sie war aber schon längst
wieder zurück. War sie etwa wieder in die USA gereist? Zugegeben, meine
Frage –ob sie in der Ukraine oder in Amerika sei – klang etwas unbeholfen.
Die Antwort fiel kurz aus: UA. Nun dämmerte es mir, dass es um ein anderes
New York ging. Und um ein anderes Literaturfestival.
Die meisten Menschen in der Ukraine dachten vielleicht, es mit einem Gag
zu tun zu haben , als vor etwa zwei Jahren auf der Landkarte des Donbass
ein Ort namens New York auftauchte. Es war kein Gag. Auch die deutschen
Mennoniten, die Ende des 19. Jahrhunderts am Ufer eines kleinen Flusses
etwa 40 Kilometer nördlich vom damaligen Jusowka (dem späteren Stalino
und dem heutigen Donezk) eine Siedlung gründeten, hatten wohl keinen
Scherz im Sinn. Die Kolonisten stammten aus der Gemeinde Jork in der
Nähe von Hamburg und sollten ihre neue Wahlheimat nach ihrem Heimatort
in Deutschland benennen. Aus Neu Jork (oder vielleicht aus einer
plattdeutscher Variante von ‘neu’) ist im Laufe der Zeit New York geworden.
Es ist aber nicht die einzige Legende, die den Ortsnamen zu erklären
versucht. Eine romantische Version besagt, dass ein deutscher Ingenieur, der
eine Zeitlang in den USA verbrachte, eine US-Amerikanerin heiratete und
später im ukrainischen New York, das damals zum Russischen Reich
gehörte, eine Fabrik baute. Den Namen soll er seiner Gattin zuliebe erfunden
haben. Und die bürokratische Version behauptet, dass es bereits 1859, also
mehrere Jahrzehnte bevor sich die Mennoniten dorthin auf den Weg
machten, im Gouvernement Jekaterinoslaw ein Ort namens New York
existierte. In der vom Statistischen Komitee des Innenministeriums
herausgegebenen “Liste der bewohnten Gebiete” wird er unter der Ziffer 881
verzeichnet und gehört zum Landkreis Bachmut. Der letzte Name erscheint
derzeit fast jeden Tag in den Schlagzeilen – oder zumindest in den täglichen
Einschätzungen der britischen Militäraufklärung – als die am härtesten
umkämpfte Stadt, welche die russische Armee seit nunmehr zehn Monaten
vergeblich einzunehmen versucht.
Zu diesem Wirrwarr mit dem Namensursprung kommt noch hinzu, dass die
mennonitischen Siedler nicht direkt aus Jork kamen, sondern aus einer
anderen deutschen Kolonie, die bereits um die Mitte des 19. Jahrhundert am
Dnipro, dem größten und wichtigsten ukrainischen Fluss, gegründet wurde.
Womöglich kann diese Tatsache zur Klärung des Namenursprungs beitragen.
Sie könnte uns auch weiter verwirren. Und den Historikern jede Menge
Arbeit bescheren. Es wäre viel einfacher, wenn es doch ein Gag gewesen
wäre. Vielleicht war es auch so.
Die Mennoniten – und die Lutheraner, die auch in New York ihre neue Heimat
gefunden hatten – überlebten den bolschewistischen Umsturz und die
Zwangskollektivierung (der Ort war schon längst zu einem Industriestandort
mit ein paar Fabriken und einer Kohlengrube geworden), nicht aber den
Zweiten Weltkrieg. 1941 wurden alle Deutschen aus New York in
Viehwaggons nach Kasachstan deportiert. Wer auf der Reise nicht gestorben
war, durfte im kasachischen Atbassar aus dem Waggon aussteigen. Kurz
nach dem Krieg verschwand auch der Ortsname, seit 1951 hieß die
Arbeitersiedlung Nowgorodskoje. Siebzig Jahre später bekam sie ihren
historischen Namen zurück.
Seit sieben Jahren liegt nun der Ort nur wenige Kilometer von der Frontlinie
entfernt. Dass er in lateinsicher Schrift anders als New York geschrieben
werden könnte, war undenkbar. Der alte deutsche Name – wenn Jork
tatsächlich als Namensgeber gestanden haben soll – ist beim erneuten
Transkribieren endgültig verschwunden. Lost in Translation. Nun wurde er mit
knapp zehntausend Einwohner endgültig zum kleinen Vetter des Big Apple
mit dessen fast zehn Millionen.
Hier hat die ukrainische Schriftstellerin Viktoria Amelina das erste New Yorker
Literaturfestival organisiert – mit viel Literatur, Poesie, Musik und Liebe. Trotz
der Frontnähe fühlte man sich absolut sicher in New York. „Hier leben in
nächster Kriegsnähe Menschen, die ihren Mut nicht verloren haben und
gekommen sind, um ukrainische und internationale Poesie zu hören”, sagte
sie damals.
Und da gab es noch eine andere Privatinitiative – einen Marathon. Den New-
York-Marathon. „Ein Marathon, den niemand laufen will“, lautete sein Motto.
Man musste ihn nicht unbedingt im ukrainischen New York laufen. Man
musste keinen Marathon laufen, eine beliebige Distanz reichte. Eigentlich
musste man ihn gar nicht laufen. Man musste sich nur anmelden. Alle
Teilnehmer bekamen eine Medaille mit einem kleinen Stück Patronenhülse.
Damit die Welt nicht vergisst, dass Russland Krieg im Donbass führt.
Innerhalb von zehn Tagen gab es mehr Anmeldungen als bei dem Klassiker
aus Übersee. Den Krieg im Donbass hat die Welt trotzdem vergessen.
2022 wollte Viktoria wieder ein Literaturfestival in New York organisieren. Es
kam nicht mehr dazu, auch wenn schon viel vorbereitet worden war. Im Jahr
2022 wollte Viktoria das nächste Literaturfestival in New York veranstalten.
Obwohl schon vieles vorbereitet war, fand es nicht statt. Doch fast zwei
Jahre nach dem ersten Festival - und hier weiche ich vom Originaltext ab -
fand etwas anderes statt: Das New York Camp, ein Bildungscamp für
Jugendliche aus dem ukrainischen New York, in den ukrainischen Karpaten.
Auch das war eine Idee von Vika. Wir standen in Kontakt, als ich meinen Text
schrieb – ich fragte sie nach etwas, und sie bat mich, das bevorstehende
Camp zu erwähnen. Und, wenn möglich, dass es von der Schweizer
Botschaft in der Ukraine unterstützt werden würde. Ich erwähnte das Camp,
aber nicht das alpine Uhrenland "einäugiger Pazifisten" (als einäugig hat
einmal George Orwell die Pazifisten bezeichnet). Ich habe sie in meinen
früheren Texten so oft angegriffen, dass es die Sache nur noch
verschlimmert hätte.
Von New York bis zum Fuß des Howerla, des höchsten Gipfels der
ukrainischen Karpaten, sind es etwa 1300 km. Die Entfernung zwischen New
York und Mount Mitchell, dem höchsten Berg der amerikanischen
Appalachen, ist nur unwesentlich geringer. Anders als die beiden New Yorks
sind die beiden knapp über 2000 Meter hohen Gipfel gar nicht weit
auseinander. Der ukrainische Howerla ist sogar um ein paar Meter höher. Der
Ausgleich ist geschafft. Die deutschen Mennoniten hätten sich gefreut.

Lemberg, den 31. Juli 2023, vormittags

Das Telefonbuch in meinem Smartphone füllt sich mit der Zeit mit Toten.
Langsam und unerbittlich. Das macht mich ratlos. Ich weiß nicht, was tun.
Vielleicht ist es nur ein sehr persönliches Problem. Eine Art Mätzchen eben.
Zum ersten Mal muss ich es in den frühen Nullerjahren bemerkt haben, als
Handys in einem rasanten Tempo die Welt eroberten. Vielleicht ist es sogar
ein wenig später passiert, nachdem mein erstes Handy gestohlen wurde.
Das Modell war klobig, eine kleine Antenne ragte aus dem Gehäuse hinaus;
ihre Spitze war abgestumpft, damit niemand seinen Gegner bei einem
heftigen Streit mit dem Ding verletzen konnte. Drückte man mit diesem
Stummel einem unter die Rippen, tat es trotzdem ziemlich weh. Der
technische Fortschritt machte den Stumpf schnell obsolet.
Bald war bei meinem Handy der Akku kaputt, damals hielten sie nicht
besonders lange. Also musste ich mir einen neuen Akku besorgen. In den
Anfangstagen der mobilen Kommunikation gab es dafür bei uns nur eine
einzige Option – einen Basar. Genauer gesagt, einen Radiobazar, wie
Flohmärkte für diverse elektronische Teile, gebrauchte Computerchips und
sonstigen Elektroschrott bezeichnet wurden. Dafür machte ein altes
sowjetisches Kino zwei oder drei Tage in der Woche auf. Zu seiner
eigentlichen Verwendung fand es nie mehr zurück – viele Kinos ereilte das
traurige Schicksal des kommunistischen Imperiums; ihr Untergang begann in
der späten Sowjetzeit mit dem Aufstieg der brasilianischen und
mexikanischen Seifenopern im Fernsehen, das nun zunehmend bunter
wurde.
Die Händler breiteten ihren Kram auf wackeligen Tischen aus, die in einem
Rechteck in der dunklen, spärlich beleuchteten Vorhalle aufgestellt waren. Es
war wie ein Ameisenhaufen, in dem jeder seiner Beschäftigung fleißig
nachging. Die Kunden feilschten, die Händler priesen ihre Ware an und die
Taschendiebe suchten sich ihre Opfer aus.
Ausgerechnet in dem Moment, als ich einen neuen Akku kaufte, klaute mir
jemand mein Handy aus der Jackentasche. Ich bemerkte es kaum fünf
Sekunden später, das heißt – fünf Sekunden zu spät. Den Dieb in der
Menschenmenge zu fassen war aussichtslos. Ich stand etwas blöd da mit
dem neuen Akku in der Hand, den ich nirgendwohin mehr einstecken konnte.
Der Händler schenkte mir einen bemitleidenden Blick, nahm den nunmehr für
mich nutzlosen Akku und gab mir das Geld zurück. Ich war wohl nicht der
erste Idiot, der auf diese Weise sein Handy losgeworden war. Das wilde
Osteuropa zeigte einmal mehr sein unbändiges Temperament, das von der
westlichen Regenbogenpresse so verteufelt und von den westlichen
Intellektuellen so vergöttert wurde.
Ich weiß nicht mehr, ob bereits im Telefonbuch dieses ersten Handys
Verstorbene gab. Auf jeden Fall musste ich im neuen Gerät sämtliche
Kontakte per Hand eintippen. Es ging relativ unproblematisch, damals gab
es ja noch nicht so viele. Doch spätestens ab jetzt trat ein neues Problem auf
– mit jedem neuen Toten. Ich konnte den Eintrag unmöglich löschen. Es wäre
wie ein Verrat an der verstorbenen Person gewesen, einem Löschen der
Erinnerung gleich. Also blieben all diese Menschen in meinem Telefonbuch.
Einmal bekam ich einen Anruf vom Jenseits (die Rufnummer wurde wieder
vergeben), ein anderes Mal trudelte bei mir eine Spam-E-Mail aus der
Unterwelt ein (der Account muss wohl gehackt worden sein).
Das Leben ging sorglos weiter und produzierte immer mehr Tote in meinem
Telefonbuch. Und immer neue Todesursachen. Schlaganfälle, Herzversagen,
Krebs, Autounfälle, unglückliche Stürze. Es waren vielleicht nicht übermäßig
viele, aber es waren immer mehr. Dann kam die Corona-Pandemie. Und
danach der russische Überfall. Als hätten russische Raketen, Mörser, Panzer
uns sonstige Waffen nicht nur die Aufgabe, deine Freunde und Bekannten –
nein, im Grunde genommen alle Ukrainer, die nicht Russen werden wollten
(und selbst jene, die es wollten), – zu töten, sondern auch Löcher in dein
Telefonbuch zu reißen. Nun reichte es nicht mehr, das Smartphone zu
wechseln.
Bei einem Notizbuch, wie man es einst verwendete, um Telefonnummern
und Adressen zu speichern, funktionierte es anders. Jeder Eintrag blieb nicht
mehr löschbar für immer ins Papier gekritzelt. Man könnte ihn
durchstreichen, ein Verwaltungsbeamter hätte darauf höchstens einen
Stempel gedrückt: „Verstorben“. Wir Normalsterbliche taten es nicht.
Ansonsten machte man nicht so oft von einem Notizbuch Gebrauch. Man
beschäftigte das Gedächtnis. Alle wichtigen Telefonnummern kannte man
auswendig. Und in der Zeit, als es nicht viele Telefonapparate gab, galt
praktisch jede Telefonnummer als wichtig. Man prägte sich schnell ein, wie
lange die Wahlscheibe nach der Wahl einer bestimmten Ziffer beim
Zurückdrehen ratterte; etwas später, bei Tastenapparaten merkte man sich
die Tonhöhe der einzelnen Ziffern und die Bewegungen der Finger.
Doch die Zeit der Notizbücher war zu Ende. Man musste nur noch einmal die
Nummer eintippen und speichern. Nun kannte man keine Telefonnummern
mehr. Genauso wie man heutzutage ohne Google Maps keinen Weg mehr ins
Hotel findet. Und im schlimmsten Fall, wenn die Navi verrückt spielt, sogar in
einem Fluss landet. Das menschliche Hirn ist faul und merkt sich keine
Sachen, die es nicht (mehr) braucht. Nun kam das Zeitalter der
Migrationsassistenten. Die Daten werden von einem Smartphone auf ein
anderes automatisch und schnell überspielt. Eine Option „Tote nicht
übertragen“ gibt es dabei nicht. Vielleicht kommt sie in der Zukunft noch
dazu, die künstliche Intelligenz wird die Funktion steuern. Und ab und zu
einen Fehler einstreuen. Dann werden einige Tote am Leben bleiben. Oder
umkehrt. Die KI kennt ihre Späßchen. Die Migrationsassistenten haben den
Menschen das Leben erleichtert. Nun muss man selber immer weniger
Entscheidungen treffen. Die Algorithmen haben uns die Wahl abgenommen.
Genauso wie der Kommunismus. Es ist kein Zufall, dass manche Menschen
eine Art Nostalgie darauf verspüren.

Lemberg, den 5. August 2023, vormittags

Es war keine gute Woche für den deutschen Frauenfußball. Nicht nur, dass
die Nationalelf bei der Weltmeisterschaft bereits in der Gruppenphase
ausgeschieden ist. Das Team hat auch noch im Konkurrenzkampf der
Themen in einer Morgensendung von Deutschlandfunk Kultur gegen die
ukrainische “Entrussifizierung” verloren. Schlecht für den Frauenfußball und
den Feminismus. Gut für die Ukraine, die immerhin im Mittelpunkt der
medialen Aufmerksamkeit bleibt.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Deutschen sich Sorgen machen.
Wegen der „Tötung“ der russischen Sprache und Kultur in der Ukraine. Und
des imperialen Erbes. Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Man wird heutzutage
leicht überempfindlich. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Deutschen sich
zumindest nicht weniger Sorgen um die Zerstörung ukrainischer Kultur durch
den russischen Angriffskrieg machen. Der Schriftsteller Andrej Kurkow
schreibt in „The Guardian“, dass der Überfall schon rund 30 Autoren und
Autorinnen, Dichter und Dichterinnen, Verleger und Verlegerinnen das Leben
gekostet hat. Das ist mehr, als alle deutschen, österreichischen und
Schweizer Verlage zusammen in den letzten fünf Jahren an ukrainischen
Titeln produziert haben. Dreißig Menschen. Dreißig Stimmen, die nichts mehr
sagen werden, keine Zeile mehr schreiben, keinen einzigen Band verlegen
werden. Ein schwerer Verlust für die ukrainische Kultur. Ganz zu schweigen
von gezielten Raketenangriffen auf ukrainische Bibliotheken, exzessiven
Plünderungen der Museen oder öffentlichen Bücherverbrennungen in den
besetzten Gebieten. Und es sind bei Weitem nicht die ersten und die
einzigen Verluste, die Russland der ukrainischen Kultur zugebracht hat.
Begriffe wie “Entrussifizierung” oder “Entkolonialisierung” – der erstere
heutzutage weit im Alltag verbreitet, der letztere im Namen eines Ende Juli in
Kraft getretenen Gesetzes verwendet – sind Derivate. Sie leiten sich von den
Prozessen ab, die ihnen vorausgingen und deren Folgen man nun zu
überwinden versucht. Beide Ausdrücke setzen einen “Mutterbegriff” voraus,
nämlich eine Russifizierung und eine Kolonialisierung, während derer die
ukrainische Sprache und Kultur verboten, unterdrückt, als Dialekt des
Russischen oder als minderwertige Bauernsprache abgestempelt wurde.
Genau das war im Laufe der letzten Jahrhunderte passiert. Aber nicht nur
das. Es spielten sich auch viel schlimmere Dinge ab. Ukrainische
Schriftsteller, Dichter und Künstler wurden – wie beispielsweise im
Zarenreich – in die Verbannung geschickt beziehungsweise in Gefängnisse
gesteckt oder – wie in den 1930er während der Stalin-Diktatur – gar
massenhaft ermordet. Selbst in der späteren Zeit, als der sowjetische
Minotaurus mutiert war und nicht mehr so viele Menschenopfer verlangte,
verschlang das kommunistische Ungeheuer immer noch seine Dissidenten
und Dichter, indem es sie wahlweise in Kliniken der Zwangspsychiatrie
einwies oder in GULAG-Lager einsperrte. Es ist eine lange Liste, und
manche – wie der 1985 im Lager Perm-36 verstorbene ukrainische Dichter
Wasyl Stus – haben die böswilligen Quälereien ihrer Peiniger nicht überlebt.
Parallel dazu, auch wenn das schon fast belanglos und unschuldig klingt,
wurden Straßen und Orte umbenannt. Überall, wo das Imperium auftauchte,
hinterließ es seine Namen und seine Denkmäler als Markierungen. In der
Sowjetzeit geschah dies vor allem aus ideologischen Gründen. Doch
besonders in den sowjetischen Republiken ging es darum, dort die russische
Herrschaft zu unterstreichen. Es war ein sichtbares Zeichen, dass diese
Gebiete zu „uns“, also zum sowjetischen Reich, gehörten. In Osteuropa war
es nicht anders. In diesem Sinne bedeuteten die Puschkin-Denkmäler
ungefähr genauso viel wie Lenin-Denkmäler: „Es ist unser Territorium, hier
haben wir das Sagen“. Die „russische Welt“ breitete sich mit Gewalt aus,
noch bevor der Begriff selbst erfunden worden war und die Putin-
Propaganda ihn für sich reklamierte.
Während eines erneuten Luftalarms – es war bereits der dritte oder vierte am
selben Tag – machte ich es mir neulich zwischen zwei dicken Wänden im
Korridor bequem und fing an, im Straßenverzeichnis von Köln zu blättern. Ich
fand dort keinen Dostojewski, keinen Puschkin, keinen Tschechow und
keinen Tolstoi. Warum eigentlich? Bedeutet dies etwa, dass die Kölner diese
Schriftsteller nicht schätzen? Wohl nicht. Die Antwort ist einfach: Weil
Russland oder die Sowjetunion Köln nie besetzt hatten. In Ostdeutschland,
das ewige Freundschaft mit der UdSSR geschworen hatte, war das Bild
jedoch anders. Vielleicht, um den sowjetischen Garnisonen die Orientierung
zu erleichtern und das Heimatgefühl bei deren Soldaten zu pflegen, gab es
dort zahlreiche Majakowskis und Tschaikowskis.
Ich möchte hier etwas klarstellen. Ich bin kein Anhänger von „Cancel
Culture“. Ganz und gar nicht. Aber Russland und der Sowjetunion ging es
nie wirklich um Kultur, sondern vor allem um deren Instrumentalisierung zu
Propaganda-Zwecken und zum Abstecken des eigenen Einflussbereiches.
Das Ignorieren dieser Tatsache und die Vergötterung der russischen Kultur
(die zweifellos einige große Namen hervorgebracht hatte) durch westliche
Intellektuelle verursachte eine gefährliche gesellschaftliche Blindheit. Eine
Verblendung, aus der sich nicht nur eine gewisse westliche Kulturarroganz
gespeist hat (oder war diese eher ein Grund dafür?), sondern auch eine
Verblendung, die für den Aufstieg des russischen Neoimperialismus
mitverantwortlich ist, der letztendlich in einen faschistischen Wahn mündete.
Eine ähnlich unglückliche Rolle spielte der Handel, von dessen Einnahmen
das Putin-Regime keine Schulen und Krankenhäuser, sondern Panzer und
Raketen baute.
Es ist kein Wunder, dass die Ukrainer vor dem Hintergrund eines brutalen
russischen Überfalls nun alles daransetzen, um sich von diesem imperialen
Erbe und der „russischen Welt“, zu der sie sich nicht zugehörig fühlen,
endgültig zu trennen. Doch der russische Angriffskrieg hat lediglich einen
Prozess beschleunigt, der schon lange im Gange war und der sich in vielen
Staaten des ehemaligen Ostblocks früher abspielte.
Die ersten Umbenennungen gab es bereits kurz vor dem Zusammenbruch
der Sowjetunion. Im Westen des Landes, der nur eine relativ kurze, aber oft
nicht weniger brutale russisch-sowjetische Herrschaft von rund 50 Jahren
erleben musste, ging es etwas schneller voran. Alle drei Lenin-Inkarnationen
– zwei Straßen und ein Denkmal – sind aus dem Stadtbild von Lemberg
verschwunden, noch bevor das Imperium den Geist aufgegeben hatte. Viele
Orte haben ihre historischen Namen zurückbekommen. Die Stadt Mariens
hieß wieder Mariupol; nur noch die ältere Generation weiß, dass sie bis 1989
den Namen des sowjetischen Parteifunktionärs Schdanow trug, der unter
anderem durch seine unrühmliche Kultur-Doktrin (“Schdanowschtschina”)
und den daraus resultierenden Verfolgungen von Schriftstellern und
Künstlern bekannt wurde. Und Luhansk schüttelte den Namen des Stalin-
Vertrauten Woroschilow ab, als hätte es die Last dieses Verbrechers nicht
mehr tragen können, und kehrte zu seinen historischen Ursprüngen zurück.
Zu einem neuen Schub kam es nach dem Euromaidan, der russischen
Annexion der Krim und dem von Russland angezettelten Krieg im Donbass.
Danach beschlossen die Ukrainer, sich von sämtlichen kommunistischen
Namen zu verabschieden, wozu 2015 sogar ein Gesetz verabschiedet
wurde. Heute erinnert sich wohl kaum noch jemand daran, dass die seit
Monaten hart umkämpfte Stadt Bachmut im Osten des Landes noch bis
2016 den Namen Artemiwsk (russisch: Artjomowsk) trug, zu Ehren eines
bolschewistischen Umstürzlers mit dem Decknamen Artjom (eigentlich
Fjodor Sergejew).
Nun wollen die Ukrainer konsequent auch gegen das imperiale Erbe
vorgehen. Das bedeutet, dass möglichst viele russische Namen aus
ukrainischen Städten und Gemeinden verschwinden sollen, auch die Namen
der meisten russischen Schriftsteller oder Komponisten. Einen westlichen
Intellektuellen, der an einem sonnigen Samstagnachmittag auf einer Rhein-
Terrasse an seinem Wein nippt, mag das befremden. Unter dem Beschuss
russischer Raketen oder in einem Schutzkeller fühlt es sich anders an. Da
nimmt man sämtliche russischen Namen ausschließlich für das, was sie in
Wirklichkeit auch sind – nämlich für langjährige Symbole imperialer Präsenz.
Es ist wohl kein Zufall, das von allen russischen Schriftstellern kein
Dostojewski und kein Tschechow in den Top-10 der am häufigsten
anzutreffenden ukrainischen Straßen- und Ortsnamen zu finden sind.
Sondern – allen voran – Alexander Puschkin, der sich öfters abfällig über die
Ukrainer geäußert hatte. Mit Dostojewski, der zwar ein imperialer Chauvinist
war, aber wie kein anderer die tiefsten Abgründe der russischen Gesellschaft
schilderte, ist es eine andere Sache. In der Stalin-Zeit galt er als reaktionär
und wurde aus Schulbüchern rausgeschmissen. Erst einige Jahre nach dem
Tod des Diktators wurde er wieder ins Programm aufgenommen, aber
Straßen zu seinen Ehren gab es nur wenige, in der Ukraine insgesamt nicht
einmal drei Dutzend.
Ganz unumstritten ist das neue Gesetz mit dem langen Titel „Über die
Verurteilung und das Verbot der Propaganda russischer imperialer Politik in
der Ukraine und die Entkolonialisierung von Ortsnamen“ nicht. In den
sozialen Netzwerken diskutiert man darüber, und auch in den Städten und
Gemeinden, die für die Umbenennungen zuständig sind, wird es ebenfalls
Diskussionen geben. Aber den jüngsten Umfragen zufolge unterstützen drei
Viertel der Ukrainer das Vorhaben. Selbst wenn manchmal auch das Kind mit
dem Bade ausgeschüttet wird, wozu man übrigens kein Gesetz braucht. Im
vergangenen Jahr wäre im westukrainischen Iwano-Frankiwsk der
sowjetische Physiker, Dissident und Menschenrechtler Andrej Sacharow dem
Umbenennungseifer beinahe zum Opfer gefallen. Nur ein heftiger Protest
ehemaliger sowjetischer Dissidenten konnte Sacharow retten. Zumindest
einen halben. Die andere Hälfte der Straße wurde trotzdem umbenannt.
Die Gemeinden im Landkreis Losowa im Süden der Region Charkiw waren
unter den ersten, die nach der Befreiung von den russischen Besatzern
beschlossen haben, russische Namen komplett zu verbannen. Der direkte
Kontakt mit der Brutalität der „russischen Welt“ hat ein kaum zu heilendes
Trauma hinterlassen. Wenn Putin also mit seinem verbrecherischen
Angriffskrieg überhaupt etwas erreicht hat, dann dies – die
„Entrussifizierung“ der Ukraine.

Seit dem ersten Kriegsmorgen hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine aus seinem Kriegstagebuch in Die Welt  auf dem Laufenden. 
Am 7. November beschreibt er hier die besondere Atmosphäre des ukrainisch-deutschen Schriftsteller:innentreffens in der Bibliothek von Weimar.

Die Übersetzung ins Ukrainische ist von Halyna Petrosanyak.