Schon seit einigen Jahren zeichnet Alexander Milstein Illustrationen zu seinen Texten. So etwas ist immer faszinierend. Gewöhnlich befindet sich der Illustrator irgendwo neben dem Leser, die Distanz ist die gleiche. Welcher Art die Distanz des Autors in diesem Fall ist, bleibt ein Geheimnis – schließlich illustriert er nicht so sehr die Erzählung, die referentiellen Peripetien des Sujets, sondern vielmehr den Fluss seines Schreibens. Seine Betonungen, Diffusionen, sein Fallen. Seinen Glanz. Das sind nicht einmal Illustrationen, es sind Visionen, „Fenster nach …“ – die strahlenden Wesen auf den riesigen Zeichnungen Klossowskis, die wirbelnden Körper Blakes, die stiebende Tusche Hugos, seine Klekse und Kaffeeflecken … Immer viel näher am Text und zugleich viel weiter davon entfernt, als wir uns vorstellen können. Etwas außerhalb des Erzählens Liegendes, seine Kehrseite, seine große Unlesbarkeit der Mittel. Oder, über eine schwebende, krumme Tangente, in der Verkürzung einer Anamorphose, der Sumpf des Erzählens, ein Sujet, das in andere Sujets einbricht.
In Milsteins Fall ist alles noch viel komplizierter und interessanter, sind doch seine Texte selbst – mit ihrem absichtlichen „Gemurmel“, den russisch-deutschen Assonanzen, mit ihrer Fähigkeit, von jedem Punkt aus in alle Richtungen auseinanderzulaufen – eine besondere Maschine des Schreibens. Spricht man von diesen „Maschinen“ (im Deleuzeschen Sinne des Wortes), mag man an die Texte von Jarry, Roussel, Burroughs oder Andrej Belyj denken. Diese Autoren „beschäftigen sich […] mit der Erfindung eines kleinen Gebrauchs der großen Sprache, in der sie sich vollständig ausdrücken: Sie minorisieren diese Sprache, und zwar wie in der Musik, in der die Molltonart dynamische Kombinationen in beständigem Ungleichgewicht bezeichnet. Sie sind große Autoren gerade deshalb, weil sie minorisieren: Sie lassen die Sprache entfliehen, sie lassen sie auf einer Hexenlinie davonschießen und halten daran fest, sie ins Ungleichgewicht zu stürzen, sie mit jedem ihrer Terme in Verästelungen und Variationen zu treiben …“ (Gilles Deleuze: Kritik und Klinik)[1]. Die Texte widersetzen sich der konventionellen Belletristik, der „großen Literatur“. Sie „erzählen“ nicht, „beschreiben“ nichts, vielmehr „arbeiten“ sie – durch ihre Geschwindigkeit, ihre Beweglichkeit an den Bruchstellen, Rissen, optischen Wechseln und Beschwörungen. Sie fügen sich nicht der alltäglichen Ordnung des Geschehens, sondern einem darüber liegenden, von uns nicht vollständig erfassbaren Prinzip. Sie geben einem Unbekannten, Verletzten eine Stimme, erfinden eine Stimme – für jemanden, der eigentlich keine Stimme haben sollte. Wie bei Milstein, dem in München lebenden Charkiwer, die Stimme des Emigranten, des Aphasikers und Flaneurs.
So haben wir es zugleich mit zwei „Maschinen“ zu tun – einer Maschine des Schreibens und einer Maschine des Illustrierens. Ihre Interaktion bleibt uns teilweise verborgen. Was ist hier das Primäre – das Schreiben, das die Illustrationen hervorbringt, oder doch die Zeichnungen, die der Erzählung eine andere Richtung geben, sie immer und immer wieder zu einem anderen, von neuen Figuren wimmelnden Zusammenbruch drängen? Diese Maschinen scheinen vielmehr in einem Wechselspiel zu funktionieren, im Zusammenstoß und in teilweiser Überschneidung. Sich gegenseitig bedingend und ineinander verkeilt. Milsteins Zeichnungen sind ein grafischer Ausdruck dieser Bewegung, ihre Reibung und ihr Spiel. Halb verborgene Anhäufungen von Konturen, mäandernde Kugelschreiberlinien, raue Pastellflecken, computergenerierte Umrisse in einer Lightbox. Ein multipolares Aggregat: Dipol, Quadrupol, Quint- oder Pjatipol … Und zugleich die Unebenheiten, Abbrüche, Furchen und Rillen, ein Wirrwarr der Jahreszeiten: Zwei, drei, fünf Felder … Oder, wie eine Verkörperung, ein Phantasma dieser flatternden Leichtigkeit in Verbindung mit einem erbarmungslosen Knirschen – „Pani Bronja“, eine hebephrene alte Frau, Kultfigur der Moskauer und ukrainischen Kunstszene der 1990er, die auf Milsteins Zeichnung in Ballettröckchen erscheint, dabei aber ein riesiges Schwert hält, gleich einer altgriechischen Moira, der schrecklichen Schicksalsgöttin.
Beim Betrachten „gewöhnlicher“ Buchillustrationen haben wir immer eine ungefähre Vorstellung davon, was sie uns „geben“, was wir von ihnen erwarten können – ästhetischen Genuss, eine präzise Ausarbeitung von Zeit und Ort oder im Gegenteil eine Realisierungsform des Autorenpathos. Eine Erholung für die Augen im Textmassiv. Milsteins Zeichnungen mögen im Vergleich dazu übermäßig leidenschaftlich und zugleich übermäßig teilnahmslos erscheinen. In irgendeiner Verwirrung oder Verlegenheit. Uns fehlt der Zugang zu ihnen, wir bleiben darin stecken und werden im selben Augenblick hoffnungslos hinausgestoßen. Wie im Traum mag uns die Gestalt des Autors erscheinen, wohl der einzige, der dort ist, wo sich die Handlung entfaltet, und der ihren Code kennt. Aber kann es so einen Ort wirklich geben? Und würde der Autor dort sein wollen? „Ich schreibe, weil ich nicht darüber schreiben kann, wie ich nicht schreiben kann“, verrät Milstein in seiner Erzählung Pjatipol, die dem Band seinen Namen gegeben hat. Der einzigen übrigens, die in der ersten Person erzählt ist und in der sich der Protagonist wieder in der Ukraine befindet. In einem rätselhaften, erfundenen Pjatipol, irgendwo zwischen Poltawa und Kiew. In einem Städtchen, das vertikal, hochkant gebaut zu sein scheint, umgeben von Wäldern mit weiß gestrichenen Baumstämmen. So etwas widerfährt auch uns allen. Wir finden uns auf einem Abhang wieder, wo wir eine Ebene vor uns glaubten. Und im Flimmern weißer Stämme, wo wir hofften, etwas Vertrautes zu sehen. Milstein als Autor ist als erster bereit, auf alle Garantien und Privilegien seiner Autorenposition zu verzichten – Ich schreibe, weil ich nicht schreiben kann und zeichne, um diese Unmöglichkeit zu bewahren und zu schützen. Die Position des Autors erscheint nur als Fenster, als Einbruch in das Staunen, das Lügenmärchen, die Vorfreude und die Verzweiflung. Und zugleich als Manier – der Erzählung, des Strichs und der Farbgebung. Auf den Linien einer Reise, des Verschwindens, der Rückkehr oder der Flucht, auf den schutzlosen Feldern der Sprache. Wie ein Augenblick, eine Vision, ein Aufblitzen inmitten Hunderter Kilometer weißer Stämme. In Zeiten der unbedeutendsten und unbeschreiblichsten Ereignisse.
Übersetzung aus dem Russischen: Lydia Nagel
für Eine Brücke aus Papier 2017 in Charkiw und Kiew
[1] Das Deleuze-Zitat folgt der Übersetzung von Joseph Vogl aus dem französischen Original in Gilles Deleuze. Kritik und Klinik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 148.