Die Sache an sich ist unstreitig belegt: Kurz vor Ausbruch des Großen Krieges machte sich Bruno Schulz häufig auf zu – ja, wie nennt man sie am besten? Zu Streifzügen? Erkundungsgängen? Expeditionen? Plein Airs? Es waren nämlich keine simplen Spaziergänge, Schulz flanierte nicht durch Drohobytsch. Er verließ das Haus, schlenderte ziellos im Stadtkern umher, stromerte durch die nahen und fernen Vorstädte, insbesondere durch Lan, bei sich ein Notizbuch und einen Skizzenblock. Er ging gemächlich, fahrig, wie Schulz eben, tollpatschig und plump, aber nahm dabei alles genau in Augenschein. Hin und wieder hielt er inne, im Stehen, dann wieder in der Hocke, strichelte ein paar schnelle Zeichnungen in seinen Block, kritzelte einen kurzen Kommentar, wenige Worte, notierte vermutlich das Datum dazu, vermerkte vielleicht auch den Ort. Aber vielleicht auch nicht, denn warum sollte er, er, der die Stadt so gründlich kannte, so tief und intim mit ihr vertraut war, wie vielleicht niemand vor ihm und auch niemand nach ihm es war oder je wieder sein würde? Und hier, mit dieser kleinen Frage, hebt das große Spiel der Vorstellung an: Nannte er den Ort oder nannte er ihn nicht? Von diesem Umstand hängt nämlich alles ab.
Denn Schulz, der nicht nur einmal gefragt wurde, wozu denn das gut sei, brachte diese flüchtigen Skizzen und kurzen Kommentare aus einem einzigen Grund zu Papier: Er wusste, dass Drohobytsch bald nicht mehr sein würde. Drohobytsch wie es war würde es nicht mehr geben, es würde untergehen, jenes Drohobytsch mitsamt seinen Atmosphären, seinen empfindlichen, aber widerstandsfähigen Mikroklimazonen, seinen Stimmungen und Nuancen, seinen urbanen Kontexten und Konstellationen würde vom heraufziehenden Krieg zerstört werden. Und auch mit seinen Einwohnern, jedenfalls mit einem großen Teil derselben. Persönlich würden ihm seine Skizzen und Notizen dann nichts nutzen, weil er – und darüber hegte Schulz nicht den geringsten Zweifel – selbst eingehen würde in die Zahl und Statistik derer, die vernichtet würden. Darum tat er es auch nicht für sich. Er brauchte das alles nicht, und das aus gleich zweierlei Gründen: Erstens wusste er lückenlos, wo und wie etwas war, und zweitens würde er bald nichts mehr damit anfangen können. Für wen tat er es dann? Für wen schrieb er? Zeichnete er? Verwandelte unermüdlich die Materie dieser Stadt und ihre Lebenswelt in die körperlose Substanz von Sätzen und Linien? Für wen konservierte er, wie ein bestimmter Ort aussah in einer Stadt, die es bald nicht mehr geben würde? Für wen sortierte er inmitten des irdischen Drohobytsch das himmlische? Drohobytsch-Drohobytsch…
II
Entgegen dem weit verbreiteten, falschen Eindruck, er sei geschlechtslos, unkörperlich und unnahbar gewesen, war Bruno Schulz kein Engel, ja, noch nicht einmal annähernd. Er war kein Engel für die, die ihm nahestanden, nicht für seine Nächsten, Lieben und Liebsten, nicht für seine Geliebten. Niemand hat ihn je so bezeichnet, nicht einmal in schwelgerischer Selbstvergessenheit, nicht einmal in Aufwallungen von Dankbarkeit oder Anerkennung oder Konvulsionen der Zärtlichkeit.
Aber in dieser Tat – im Versuch, dem Dauerhaftigkeit zu verleihen, was seinem Untergang entgegengeht, in der Unfähigkeit, den Blick abzuwenden vom Todgeweihten, von dem, was künftig nicht mehr da sein wird, im nächsten Augenblick bereits in Trümmern liegen, verschwinden wird, da ist Bruno Schulz erstaunlich nahe beim Engel der Geschichte Walter Benjamins und Paul Klees Angelus Novus:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.”
(Walter Benjamin: über den Begriff der Geschichte, These IX)
III
Womit haben wir es zu tun in der Schulz’schen Vision der (nahen) Zukunft: mit dem Spiel der Vorstellung, mit ihrer Kraft oder doch mit einer Art Prophetie? Was Vorstellung ist, wissen wir: das Vermögen, etwas entstehen zu lassen, was es zuvor nicht gab, es zum Vorschein zu bringen, zu manifestieren. Doch was ist die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen? Ist sie Prognose, von Griechisch prógnosis (πρόγνωσις), also ein VorherWISSEN dessen, wie etwas sein wird, oder Prophetie, von Griechisch phánai (φάναι), sagen, sprechen, verkünden, also eine VorherSAGE, oder ist sie hellsichtige VorausSCHAU, in der die Zukunft als Ge-SICHT erscheint, als Vision und Bild, ohne die Vermittlung über Wissen und Sprechen – oder haben wir es mit einer Mischung aus allen dreien oder mal mit diesem, mal mit jenem zu tun? Und falls es sich um Prophetie handelt, das SAGEN also im Vordergrund steht, in welchem Verhältnis stehen dann prophetische Visionen zum Vermögen der Vorstellung? Wie vollzieht sich Prophezeiung als VorherSAGE, als WeisSAGUNG: Geht sie aus einer Komposition sprachlicher Möglichkeiten hervor, aus einer Fügung von Worten zu gewissen verblüffenden, doch nicht gänzlich unverständlichen Folgen, die wiederum entsprechende Bilder in der Vorstellung anordnen? Kann man die Worte deswegen in dieser Weise setzen und einsetzen, weil etwas Derartiges vorstellbar ist, weil es so sein kann? Weil unsere Sprache, unsere Grammatik uns diese Kombinationsmöglichkeiten geben? Wie werden prophetische Visionen uns gegeben, wie kommen sie uns, wie eröffnen sie Zukunft? Über ein aus gemachten Erfahrungen erworbenes und aus Beobachtungen gewonnenes und angewandtes Wissen um die Logik von Dingen und Prozessen, die Aneinanderreihung und Verkettung von Ereignissen, die uns unentrinnbar oder doch mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in eine ebensolche und keine andere Zukunft führen? Über das sich ganz auf die Projektion von Erfahrungen stützende Spiel der Vorstellung? Über die Möglichkeiten von Sprache, welche die Möglichkeiten von Verkörperung eröffnen, oder über die unmittelbare, direkte, weder durch Wissen, noch Sprache vermittelte Intuition? Sind auch sie also letztlich nur Ausgeburten der Vorstellung, seltsam wie Traumgesichter, oder sind sie vielleicht, mit Freud gefragt, nur Erinnerungen und nichts weiter? Was sind die Visionen der Kassandra: auf den kombinatorischen Möglichkeiten einer johannäisch-apokalyptischen Vorstellung fußende Vorstellung oder unmittelbare, sibyllinische Intuition?
Und ist es nicht so, dass die Angst die wahre Triebfeder der Vorstellung ist? Aber Angst stützt sich doch auf Erfahrung? Oder speist sie sich vielleicht aus der Vorstellung und nicht umgekehrt die Vorstellung aus ihr? Als die Extreme der Vorstellung finden das Wunderschöne und das Grauenvolle ihre reinste Verkörperung in Paradies und Hölle. Der Verlust des Paradieses steht somit für das Grauenvollste, was uns widerfahren kann.
IV
Zumindest geht es nicht um eine einfache und einfältige Gegenüberstellung von grauenvoller Wirklichkeit und schöner Vorstellung. Auch die Wirklichkeit kann manchmal freundlich und wunderschön sein. Und die Vorstellung grausam und grausig, grauenvoll und grauenerregend. Manchmal ist sie es, sie ganz allein, die die Verworrenheit und Verwirrung in eine freundliche Wirklichkeit zuallererst hineinträgt.
Aber was hat es mit Vorstellungen des Grauens auf sich? Worum ist es ihnen zu tun, worauf laufen sie hinaus? Das dürfte klar sein: Quälen, Peinigen und Martern.
Obsessionen, Nachtmahre, paranoide Visionen, psychotische Trugbilder, Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Bedrängende Gedanken, Phobien, Ängste. Wer würde behaupten, das Leben sei arm daran? Warum aber gibt es ihrer so viele, zu viele, und dabei doch nie genug?
Welche Struktur eignet dem Grauenvollen, worum geht es ihm? Um Schmerz, Qual und Angst. Alle drei verursachen Leid. Schmerz erwächst aus Verlust. Qual erwächst aus Schmerz. Schmerz aus Zerstörung, Zerstückelung, Fragmentierung, Desintegration. Vielleicht sind Verlust und Desintegration ja auch ein- und dasselbe? Oder vielleicht doch nicht, denn da wären ja auch noch Auslöschung, Auflösung, Verschwinden.
Grauen entspringt aus zwei Quellen und fließt durch zwei hauptsächliche Kanäle: Angst vor und Schmerz um das Verschwinden von etwas, das einst da war. Und Angst vor dem Erscheinen, dem Eintritt von etwas Schrecklichem, Grauenvollem, das zuvor nicht da war. Anders gesagt - Angst vor dem Auftreten von etwas oder jemandem, eines Schreckgespensts, Monsters, Vergewaltigers, Bösewichts, eines Fremden, die als etwas Bedrohliches auftauchen. Worin besteht die Bedrohung? In einem Übergriff, einem Eindringen, das Verlust mit sich bringt, Zerstörung, Zerschlagung, Folter, Qual. Mit anderen Worten – Schmerz und Leid.
Und was ist außerdem noch unheimlich? Wiederum eine Erscheinung, oder eher eine Wiederkehr: etwas, das uns einst vertraut, nah und wohl gesonnen war, hat sich in sein Gegenteil verkehrt, sich noch ähnlich und doch wie ausgewechselt.
V
Das bringt uns auf einen andren bekannten Engel der Moderne – auf Rilkes Engel aus der Ersten Duineser Elegie:
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
So sagt es uns Rilke am Anfang der Elegie. In der Übersetzung durch Mykola Bazhan klingen diese Zeilen so:
Хто з сонму ангелів вчує мій клич, коли скрикну?
Хай би якийсь і почув, і притис би мене
раптом до серця, — я згину тоді, бо сильніший
він є від мене. Адже ж краса — не що інше,
як початок жахливого. Ми іще терпим його
і дивуємось дуже, чому краса не воліє
знищити нас. Кожен-бо ангел — жахливий
Also ist der Engel das Schöne, das Schöne ist der Engel. Und jeder Engel ist schrecklich, weil er schön, weil er das Schöne ist, das seinerseits nichts anderes ist, als des Schrecklichen Anfang.
Warum ist das so? Warum muss es so sein? Und vor allem: Wie sind diese Worte, wie ist dieser Gedanke zu verstehen? In welcher Beziehung steht das Schöne zum Schrecklichen?
Man könnte versuchen, es folgendermaßen zu verstehen:
Das Schöne zu erfahren, bedeutet immer ein Risiko. Die Erfahrung kann sich verwandeln in durchbohrendes Entzücken oder überwältigende Wonne. Wonne hier nicht als etwas Gutes, sondern etwas Unheimliches: die Erfahrung des Schönen kann den Damm dessen brechen lassen, was wir zu ertragen vermögen. Das Schöne bewirkt den Dammbruch, wenn zu Bewusstsein gelangt, dass es jede Individualität unendlich übersteigt und sie deswegen zu überfluten, auszuradieren, hinwegzuschwemmen droht. Dass sich das kleine, ruderlose Boot des Selbst in derartig machtvollen Strömungen des Transzendenten wiederfinden kann, dass es kentert, abhanden kommt, vergeht in etwas unvergleichlich Größerem, etwas Großartigem, etwas tatsächlich Unermesslichem, Maßlosem.
Das Schreckliche des Schönen würde somit die Gefahr oder die Erfahrung der Selbstauflösung bezeichnen, des Selbstverlusts, des Verschwindens. Dieses Schreckliche, dieses Grauen ist wahrlich existenziell, weil es vernichtend ist.
Rilke aber bietet uns eine andere Interpretation:
„ Die Natur, die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs, sind Vorläufigkeiten und Hinfälligkeiten; aber sie sind, solang wir hier sind, unser Besitz und unsere Freundschaft, Mitwisser unserer Not und Froheit, wie sie schon die Vertrauten unserer Vorfahren gewesen sind. So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns „unsichtbar“ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. […]
Und diese Tätigkeit wird eigentümlich gestützt und gedrängt durch das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch für unsere Großeltern war ein „Haus“, ein „Brunnen“, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten.[…]
Die Erde hat keine andere Ausflucht, als unsichtbar zu werden: in uns, die wir mit einem Teil unseres Wesens am Unsichtbaren beteiligt sind, Anteilscheine (mindestens) haben an ihm, und unseren Besitz an Unsichtbarkeit mehren können während unseres Hierseins, — in uns allein kann sich diese intime und dauernde Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, vom sichtbar- und greifbar-sein nicht länger Abhängiges vollziehen, wie unser eigenes Schicksal in uns fortwährend zugleich vorhandener und unsichtbar wird. Die Elegien stellen diese Norm des Daseins auf: sie versichern, sie feiern dieses Bewußtsein. […]
Der „Engel“ der Elegien hat nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun (eher mit den Engelgestalten des Islam)... Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. Für den Engel der Elegien sind alle vergangenen Türme und Paläste existent, weil längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins schon unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd. Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. — Daher „schrecklich“ für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen. — Alle Welten des Universums stürzen sich ins Unsichtbare, als in ihre nächst-tiefere Wirklichkeit; einige Sterne steigern sich unmittelbar und vergehen im unendlichen Bewußtsein der Engel —, andere sind auf langsam und mühsam sie verwandelnde Wesen angewiesen, in deren Schrecken und Entzücken sie ihre nächste unsichtbare Verwirklichung erreichen. Wir sind, noch einmal sei's betont, im Sinne der Elegien, sind wir diese Verwandler der Erde, unser ganzes Dasein, die Flüge und Stürze unserer Liebe, alles befähigt uns zu dieser Aufgabe (neben der keine andere, wesentlich, besteht). […] (Brief an Witold Hulewicz vom 13. November 1925)
Es geht also um das Verhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, um seine, wenn man so sagen kann, Dialektik. Im Deutschen gibt es das wichtige und ambivalente Begriffspaar: auswendig / inwendig.
Rilkes lyrischem Ich flößt der Engel Grauen ein. Er wird mit dem Schönen in eins gesetzt. Das Schöne – als des Schrecklichen Anfang. Das Grauen rührt her aus der Unfähigkeit des Menschen, mit dem Grad der Unsichtbarkeit gleichzuziehen, zu welchem der Engel in der Lage ist. Ist also die Furcht vor der Unsichtbarkeit gemeint? Oder das Vermögen zur Unsichtbarkeit?
Vorstellung ist Manifestation, eine Bewegung aus dem Inneren an die Oberfläche. Vorstellung ist gewissermaßen ein „auswendiger” Akt.
Auch das Schöne ist Manifestation, ist Offenbarung, ist Epiphanie.
Das Schöne des Rilke’schen Engels aber ist von einer anderen Art, es ist das Schöne der Verwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare, für uns unerreichbar und deshalb schrecklich.
Darum ist bei Rilke das Schöne eine „inwendige” Bewegung. Eine Verinnerlichung und damit auch Verstetigung, Verewigung von allem, was vergänglich, zerbrechlich und verwundbar ist.
VII
Die Quintessenz des Grauens bündelt sich für uns in drei Phänomenen: Verschwinden, Verlust und Desintegration, Fragmentierung, Verlust von Einheit und Ganzheit. Verlust als solcher.
Vielleicht ist das alles recht eigentlich auch eins. Verlust schlechthin.
Krieg bringt Grauen in höchstem Maße. Krieg vernichtet, fegt hinweg, verstümmelt. Zerbricht, zerreißt, zerstückelt.
VIII
Das führt uns zu Lacan und seiner Ordnung, seinem Register des „Imaginären” -l’Imaginaire.
Lacans Imaginäres befähigt uns in der Regel, uns etwas als Ganzheit, als etwas Ganzes vorzustellen, uns selbst als ganz und Ganzheit, eine Stadt als Ganzheit, ein Land, eine Kultur, eine Identität, eine Kategorie. Ohne das Imaginäre gäbe es nur das kompakte Reale. Das Imaginäre ist das, was verbindet, was Kohärenz, Konsistenz und Kohäsion sicherstellt, was die Unerbittlichkeit und Gnadenlosigkeit des Realen von uns fern hält und uns davor schützt. Als solches ist es stets präsent, darf aber nicht gesehen, erkannt, bloßgelegt werden, weil es sonst zerfallen würde, zerrinnen, weil der Zauber sonst gebrochen und alles unzusammenhängend würde, fragmentiert und zerstückelt, ohne jede Verbindung in sich und zu mir.
Nach diesem Verständnis ist auch das Schöne etwas aus dem Imaginären Abgeleitetes. Ohne das Imaginäre hätten wir weder ein Gefühl für, noch einen Begriff vom Schönen und auch keine Möglichkeit, es zu beschreiben, zu bewahren oder uns danach zu sehnen.
Schließlich erlaubt uns das Imaginäre auch, die imaginierte Struktur des Selbstbewusstseins, des Subjekts, des Selbst, des eigenen Ich aufrecht zu erhalten.
Seine Löchrigkeit, Lückenhaftigkeit und Dysfunktionalität, die Störungen und Ausfälle des Imaginären werden so zum Einfallstor des Grauens. Wo es nicht fähig ist, uns vor den Übergriffen des Realen zu schützen, wo das Netz dünn wird und fadenscheinig und reißt.
Da, so Lacan, lauert auf uns die Fantasie des zerstückelten Körpers mit ausgeweideten Organen, eines der unerträglichsten aller psychotischen Phänomene, das uns in den Wahnsinn treibt und in Trauer stürzt und gleichzeitig auch Anzeichen dafür ist, dass wir den Verstand verlieren.
Genau das ist zu sehen auf einem der berühmtesten Bilder von Hieronymus Bosch: herausgerissene Organe mit den abwegigsten weltlichen Gegenständen zu neuen, wilden Verbindungen arrangiert.
IX
Was ist das: die Gefahr der Schwäche des Imaginären, oder die stets potenziell gegenwärtige Gefahr der Vorstellung selbst?
Es war wohl Žižek, der irgendwo schrieb, Vorbedingung des menschlichen Grauens sei die Vorstellung. Denn nur in der Vorstellung sei es möglich, Dinge zu verbinden, die in der Natur oder der Tierwelt nie zusammenfinden würden, gar nicht die Gelegenheit dazu hätten, da sie nicht über das Vorstellungsvermögen verfügen, welches die Ordnung der Welt, die Natur der Dinge umzubauen vermag. Solches kann nur der Mensch, eben weil er über die Vorstellung verfügt. Von daher ist die Vorstellung als ausschließlich menschliches Phänomen Basis und Grund nicht nur des Grauens, sondern auch des Bösen an sich. Auch das menschliche Böse wird nur deswegen getan, weil es getan werden kann, weil es ein Vermögen gibt, über das es vorgestellt - und somit auch ausgeführt werden kann.
Also welchem Gesetz gehorcht dann die grausige Vorstellung, die Vorstellung des Grauens – dem der reinen Kombinatorik, des unendlichen Spiels des reinen Verstandes, des Prinzips des „anything goes” oder steht dahinter eine bestimmte Struktur, eine Struktur des Verlangens?
X
Was ist für mich persönlich in diesen Tagen, Wochen und Monaten das Grauen, das Schreckliche des Schönen? Nicht das, was es für Rilke war. Nicht seine Fähigkeit, Sichtbares in Unsichtbares zu verwandeln und so vor der Auslöschung zu bewahren, in der Ewigkeit als dem höheren, unermesslich höheren, vollkommenen, da unzerstörbaren Grad der Wirklichkeit für die Ewigkeit zu retten.
Es ist auch nicht meine Verbundenheit mit dem Schönen des Sichtbaren, Hiesigen, Diesseitigen. Nicht die Angst, es zu verlieren, und auch nicht die Angst vor dem Schmerz um seinen möglichen Verlust. Auch ohne das Schöne mangelt es mir nicht an derartigen Ängsten.
Es ist auch nicht die Angst, sich aufzulösen, sich in den Elementen zu verlieren, die, den Tod an Bord, heranrauschen auf den Wellen des Schönen.
Für mich ist das wahre Grauen eine peinigende Ausweglosigkeit, ein Teufelskreis:
Es sind die Gefühle von Schuld und Scham, dass ich nicht kämpfe, dass andere für mich und meine Möglichkeit, Schönes wahrzunehmen, kämpfen und sterben. Gefühle, die es mir nicht erlauben, mich vom Schönen erfreuen und trösten zu lassen, dessen dauernde Präsenz mir doch so unendlich bewusst ist. Schuld und Scham zwingen zur Enthaltsamkeit, zur Abstinenz, zum Fasten, zur Entsagung, weiß ich doch, dass es jetzt so viele meiner Nächsten gibt, ob Soldatinnen und Soldaten oder nicht, Opfer oder nicht, Märtyrer oder nicht, denen jetzt nicht nach Schönheit ist, weil sie Leid empfinden oder einfach dringendere Pflichten zu erfüllen haben.
Und zu gleicher Zeit ist da das brennende Gefühl von Schuld und Scham, weil ich nicht in der Lage bin, mich am Schönen so zu erfreuen, wie es ihr Appell und letztlich ihr Vermächtnis ist: Wir tun das für euch, wir kämpfen, leiden und sterben einzig dafür, dass ihr Schönes empfinden, Freude daran haben und Trost darin finden könnt.
Da schließt sich der Teufelskreis. Und für mich gibt es derzeit keinen gangbaren Ausweg.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Beatrix Kersten
Quellenangaben:
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, zitiert nach: https://www.textlog.de/benjamin/abhandlungen/ueber-den-begriff-der-geschichte, letzter Zugriff am 30.10.2022
Rilke, Rainer Maria: Brief an Witold Hulewicz vom 13. November 1925, zitiert nach:https://www.bibliele.com/?Deutsche_Lyrik_u._a._%2F_L%C3%ADrica_alemana_y_más:Literatur_der_Jahrhundertwende_%2F_Literatura_finisecular_%281890-1920%29:Rainer_Maria_Rilke
letzter Zugriff am 30.10.2022