Auf den ersten Blick scheint es weit hergeholt, in Charkiw über den Krieg zu sprechen. Diese Stadt liegt 200 Kilometer von der Front entfernt. Hier wird keine Militärtechnik durchs Zentrum verschoben, Granatsplitter haben keine Narben in Gebäude geritzt, und man spürt auch nicht die dumpfe Wucht der Druckwellen, wenn Geschoße explodieren, ein charakteristisches Erlebnis in den Gefechtsgebieten.
Schaut man ein bisschen genauer, dann sieht man freilich auch hier die Vorboten des nahen Konflikts: Männer in Uniform am Bahnhof und Busbahnhof, die von der Front kommen oder sich dorthin aufmachen, Sammlungen für die Armee, eine starke ukrainische Beflaggung, und schließlich Lenin, der nicht mehr ist – eine Folge des Sieges des Maidan. Charkiw mag uns heute friedlich und natürlich ukrainisch erscheinen, aber vor mehr als drei Jahren stand die Stadt ebenfalls an der Kippe.
Charkiw war Viktor Janukowitschs erste Station auf seiner Flucht aus Kiew, die Hardliner der Partei der Regionen wollten hier eine Gegenregierung ins Leben rufen, die Kämpfer des örtlichen prorussischen Oplot-Kampfsport-Clubs waren berüchtigt, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Promaidan- und Antimaidan-Lager gab es im Winter 2014 zahlreiche Verletzte, und auf dem Gouverneursgebäude wurde für kurze Zeit die russische Flagge gehisst. Anders als in Donezk und Luhansk aber konnte hier die Lage stabilisiert werden, ein Zusammenspiel aus aktiven Bürgern, die für ihre Stadt aufstanden, rechtzeitig eingesetzten Sicherheitskräften und natürlich der Kooperation der hiesigen Eliten aus Politik und Wirtschaft.
Man muss also gar nicht groß fantasieren, um sich das Charkiw, in dem wir heute sind, auch ganz anders vorstellen zu können. Das ist etwas, was mich die vergangenen vier Jahre in der Ukraine gelehrt haben. Es sind oft kleine Entscheidungen, lokale Ereignisse, Handlungen einzelner, Momente, deren Bedeutung erst in der Rückschau klar wird, die darüber entscheiden, welche Richtung die Geschichte nimmt.
Ich möchte also heute über Orte sprechen, in denen die Geschichte nicht so gut ausgegangen ist: nämlich über das von hier rund drei Autostunden entfernte Konfliktgebiet.
Ich werde nicht den Konfliktverlauf nacherzählen oder eine politische Einschätzung geben, das ist heute nicht mein Hauptinteresse bzw. kennen Sie diese Informationen aus den Nachrichten. Apropos Nachrichten. Aus der Berichterstattung in den deutschsprachigen Ländern ist er mittlerweile so gut wie verschwunden, der Krieg im Donbass. Die Reporter internationaler Medien sind längst abgezogen, angereist sind die Konfliktbearbeiter, Mediatoren und humanitären Helfer.
Als Journalistin arbeite ich bei einer Tageszeitung und habe regelmäßig mit verwunderten Lesern und Leserinnen zu tun, durchaus politisch interessierten Menschen, die beim Thema Ukraine verwundert fragen: „Was ist da überhaupt los?“ und dann, wenn ich zu erzählen beginne, sagen sie erstaunt: „Was, da ist noch Krieg?“ Der Krieg im Donbass ist schnell wieder aus den Medien verschwunden.
Ein Beispiel aus meiner Zeitung. In der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“, für die ich arbeite, erwähnten wir im Jahr 2014 das Schlagwort Ukraine 2153-mal. Im Folgejahr kam es 1011-mal in unserer Zeitung vor und 2016 nur noch 611-mal. Von der weltpolitischen Bedeutung ist er wieder zu einem Regionalkonflikt geschrumpft, irgendwo weit im Osten, er rangiert nun in einer Reihe mit den anderen Konflikten im postsowjetischen Raum: Abchasien, Südossetien, Nagarno-Karabach, auch wenn der Vergleich aus mehreren Gründen hinkt. In Europa hat man sich, so scheint es zumindest, mit ihm abgefunden. Das hat auch mit seiner niedrigen Intensität zu tun: Er ist da, aber nicht tagtäglich; man kann ihn nicht lösen, man kann ihn aber zur Seite schieben.
Ich möchte nun aber meine Beobachtungen im Konfliktgebiet teilen und dabei auch über die Dilemmata einer Reporterin sprechen.
#1 DIE GRAUZONE
Häufig sprechen wir vom Donbass, vor allem von der anderen Seite, als schwarzes Loch oder weißer Fleck. Mir aber scheint der Begriff Grauzone eine passendere Metapher zu sein. Die Graue Zone ist im Ukrainekrieg sprichwörtlich jenes Gebiet, das zwischen den verfeindeten Stellungen liegt und von niemandem kontrolliert wird. Es ist das Territorium der verbarrikadierten und angeschossenen Häuser, der kaputten Straßen, durchtrennten Stromleitungen, der Geisterdörfer, wo ein paar meist alte Menschen aushaaren, mehr Überleben als Leben. Der Alltag ist geprägt von Unsicherheit, Ungewissheit, unklarer Zugehörigkeit. Es dominiert das Gefühl des Von-allen-Verlassenseins. Es ist ein Dauerprovisorium, in dem die bisherigen Regeln nicht mehr gelten und in dem man neue lernen muss. Es geht um die Fähigkeit des Durchkommens, des Durchlavierens, des sich Arrangierens mit jenen, die als nächstes in dein Dorf kommen könnten.
Die Grauzone ist für mich aber auch eine passende Lagebeschreibung im Kriegsgebiet. Wenn man in die Grauzone kommt, ist man mit der Aufweichung von Realität konfrontiert. Etwas ist so, es ist aber gleichzeitig nicht so. Man könnte auch mit dem Vokabular von heute sagen: Fakten und Fakes verschwimmen. Es verschwimmen auch die Fronten.
Aus der Perspektive des politischen Analysten oder der politischen Analysten, die ich zuweilen auch einnehme, ist die Lage eindeutig: Für Russland ist der angezettelte Donbass-Konflikt ein Instrument, um die Ukraine in Schach zu halten; deshalb ist der Kreml an einer nachhaltigen Konfliktlösung nicht wirklich interessiert. Die Separatisten wollen nach eigener Darstellung die Bevölkerung vor der Nazi-Junta in Kiew schützen. Was ihr politisches Ziel ist, Autonomie oder Anschluss an Russland, ist nicht so klar, aber ich denke wir können festhalten, dass sie auf jeden Fall an der Macht bleiben wollen. Die Ukraine möchte die Kontrolle über ihr Staatsgebiet zurück und macht für den Krieg allen voran die russische Führung verantwortlich. Das Abkommen von Minsk hegt den militärischen Konflikt ein, hat aber nicht seine vollständige Beilegung gebracht.
Es gibt aber auch eine andere, zweite Realität, es ist die der Grauzone, zwischen Nichtkrieg und Nichtfrieden. In ihr wird nicht heldenhaft verteidigt, sondern frustriert ausgeharrt; es gibt auf beiden Seiten kein Weiterkommen, die Erzählung vom schnellen Sieg stimmt nicht mehr. Längst haben Berufssoldaten, für die der Krieg Arbeit ist, die Idealisten abgelöst, für die der Krieg innerer Auftrag war. In der Grauzone geben die Schmuggler den Ton an und nicht die Sicherheitsstrategen. Korruption an den Checkpoints bestimmt das Durchkommen, Geschäfte mit Kohle und anderen Gütern laufen gut. Für Geschäftsleute auf beiden Seiten ist die „Situation“ einträglich. Und ukrainische Staatsbürger werden tagtäglich in ihren Rechten eingeschränkt. Hier leben Menschen, die an nichts und niemandem mehr glauben. Je näher man kommt, desto indifferenter werden auch die Ansichten über den Krieg. Direkt an der Frontlinie ist es den Anwohnern meistens egal, welcher Seite sie zuzurechnen sind. Sie wünschen sich eigentlich nur, dass es nicht mehr über ihren Köpfen kracht.
Und selbst unter den Soldaten scheint es bisweilen ein Rätsel zu sein, gegen wen sie eigentlich in den Krieg gezogen sind, wer denn nun der Feind ist. Die einen sagen, sie kämpfen gegen Russen und Tschetschenen, die anderen geben an, auf Polen, Litauer und Nazis zu schießen; häufig sind es einfach Jungs aus der benachbarten Stadt. Was die Soldaten oft am meisten interessiert, ist, wie es auf der anderen Seite aussieht.
Nach mehr als drei Jahren Krieg bin ich nicht mehr sicher, was die Ukraine im Donbass will. Das Problem ist ja vielmehr, dass eigentlich niemand dieses Gebiet will. Auch Russland nicht. Manche würden ihn gerne abschneiden wie ein nicht mehr funktionierendes Körperteil. Wenn sich die Ukraine vom Donbass löst, werde es ihr besser gehen, so lautet die Hoffnung. Andere wollen das kranke Körperteil verarzten und annähen, man dürfte den Donbass nicht aufgeben. Woran aber leidet diese Region und mit ihr das ganze Land? Wie nennt sich ihre Krankheit? Diese Diagnose fällt am schwersten.
#2 KONFLIKT, WELCHER KONFLIKT? WER IST SUBJEKT DES KRIEGES?
Wenn in der Ukraine über die Subjekte des Krieges, also die Konfliktpartner, gesprochen wird, dann folgendermaßen: Es ist ein Krieg Moskaus gegen Kiew, eine Intervention von außen. Der Hauptfeind sitzt im Kreml. Die einen gestehen den Anführern von Donezk und Luhansk einen gewissen Handlungsspielraum zu; für die anderen – und ich würde sagen, das ist die Hauptwahrnehmung – sind die Separatisten lediglich „puppets“, also willfährige Marionetten.
Wenn man über die verbliebene Bevölkerung in den abtrünnigen Gebieten liest, dann sind häufig ähnliche Begriffe zu hören. Ich selbst habe etwa in der Berichterstattung oft den Begriff Geiselhaft verwendet. Viele Menschen dort, die mit den Veränderungen in der Ukraine unzufrieden waren, haben sich von Propagandisten in die Irre führen lassen und sind Versprechen gefolgt, die nicht eingelöst wurden. Der sogenannte Russische Frühling 2014 war ein kurzes aktionistisch-populistisches Zwischenspiel (man erinnere sich an die Anrufung des „Volk des Donbass“ und seiner „wahren“ Werte), eine organisierte Aufwallung, doch das Volk musste kurz darauf wieder verstummen und wurde nach Hause geschickt.
Heisst das, dass wenn nur die Bewaffneten abziehen würden, alles wieder in Ordnung wäre? Dass viele auf der anderen Seite Verbliebene einfach nur irregeleitet sind? Dass es gar keine innerukrainische Konfliktebene gibt? Ich glaube, das stimmt nicht. Zumindest stimmt es nicht mehr, nach mehr als drei Jahren Krieg.
Ich möchte ein ganz einfaches Beispiel geben: Ich bin mit einem Teenager aus Donezk befreundet. Julia ist 15 Jahre alt. Mit dem Krieg haben sich ihre Berufswünsche dramatisch geändert. Früher wollte sie Friseurin werden. Unter dem Eindruck des Beschusses in ihrem Bezirk am Stadtrand und dem wochenlangen Wohnen im Keller wollte sie sich der Armee der Donezker Volksrepublik anschließen, so wie einige ihrer Teenagerbekannten. Heute will sie Mitarbeiterin im Katastrophenschutzministerium werden. Auch diese Einsatzkräfte in den petrolgrünen Uniformen sind allgegenwärtig und militärähnlich organisiert. Glücklicherweise tragen sie keine Waffen.
Wenn man mit Leuten auf der anderen Seite spricht, dann begreift man eine Sache: Für viele gibt es keinen Weg zurück, was gleichzeitig auch heißt, es gibt keinen Weg zurück in die Ukraine. In ihrer Mitte findet der Krieg statt, der dort als Belagerung erlebt wird; es hat sich eine Subjektivität gebildet, die sehr stark von der Kriegserfahrung geprägt ist. Die Zeit steht dort drüben nicht still, auch wenn von außen die Separatistenrepubliken wie aus der Zeit gefallene Gebiete (eine wanna be-Mini-Sowjetunion, Illusion eines Gemeinwesens) erscheinen mögen. Wie verändert der Krieg die eigene Identität? Ich denke, diese Frage nach den Konfliktidentitäten wird mich, uns noch länger beschäftigen.
Und parallel zu diesem Gefühl des Verlustes, existiert eine Sehnsucht: Man wünscht sich den Verlust der Erinnerung, den Einstieg in eine Zeitmaschine um vier Jahre zurück zu Viktor Janukowitsch. Man will das alte Leben zurück wie in eine noch nicht verlorene Unschuld. Nostalgie ist eine chronische Krankheit des Donbass.
Oft habe ich auf meinen Reisen die trotzige Ansage zu hören bekommen: „Die Ukraine glaubt doch, wir sind alles Separatisten.“ Man könnte darin nur den Versuch sehen, die Verantwortung abzuwehren, oder ein Echo der Propaganda. Ich aber höre daraus auch Enttäuschung und ein Ringen um Anerkennung. Aber gibt es in der Ukraine die Bereitschaft, miteinander zu sprechen und das Leid des anderen (sozusagen das „falsche“ Leid?) zur Kenntnis nehmen? Ich bin mir nicht sicher.
# KRIEGSGESCHICHTEN
Sie als Schriftsteller sind freier in der Wahl Ihrer Mittel, aber für mich als Journalistin setzt die Realität engere Grenzen. Aber wie darüber schreiben, wenn man sich ihrer nicht sicher sein kann? Wenn die Begriffe unscharf werden und sie einem Bauchweh bereiten. Kann man die Regierung in Kiew wirklich noch als proeuropäisch bezeichnen? Sind die arbeitslosen Bergarbeiter, die den Donezker Flughafen bewachen, wirklich prorussische Kräfte? Und ist meine Freundin Julia, wenn sie auf Facebook in einem Posting die Separatisten anhimmelt, tatsächlich deren Unterstützerin?
Ich finde es zusehends schwierig, etwas zu sagen, das Gültigkeit hat und wahrhaftig ist – und das sollten journalistische Beiträge aber sein. Ich halte Hintergrundberichte, Analysen und investigative Stücke noch immer für immens wichtig. Aber für mich persönlich fehlt dabei etwas. Mir scheint, dass ein Weg in der Hinwendung zur einzelnen Geschichte und dem genauen Zuhören liegt. Vielleicht sollte man bei der individuellen Erfahrung ansetzen.