Heute ist mitten in der Nacht

Kerstin Preiwuß

Dieses Rumgeeiere bisher, dieses Lavieren bis hierher, dieses Balzen mit
der Sprache, was man gemeinhin als Vorahnung ansieht, ist hinfällig
geworden. Du erkennst die Angst nicht mehr. Aber du erkennst Panik,
denn ab jetzt gibt es nur das Wort sofort. Sofort nach dem Aufwachen war
klar, dass die Würfel gefallen waren, sie streckten sich in der Luft und
nahmen eine waagerechte Haltung an und wurden zu Bomben, die auf das
ganze Land zielten. Seitdem nehmen die Wörter andere Bedeutung an.
Stille ist nicht das, was du spürst, während du im Bett liegend kaum atmen
kannst, weil die Krankheit dich im Griff hat. Stille ist der fehlende Ton
zwischen den Sirenen. Warten ist nicht das, als was du es wahrnimmst, bis
die Krankheit vorübergegangen ist, während du im Bett liegend den Baum
anstarrst. Warten ist der Zeitraum bis zum Eintreffen der Nachrichten.
Der Raum verschiebt sich, weil das, wofür man nicht aufmerksam war,
plötzlich angegriffen wird, und man sich fragen muss, ob man nicht
aufmerksam genug war. Deine Bezüge lösen sich auf in den Tönen der
Sirenen, die feinen Systeme, in denen du zu denken gewohnt bist,
vereinfachen sich brutal. Die Sicherheit deines etablierten Denkens löst
sich auf mit jedem Bombeneinschlag, als würde ein Bild zerfetzt, unklar,
an welcher Stelle das nächste Loch kommt. Die Bedeutung deiner
Erfahrungen verdreht sich unmittelbar, und müsste man dich zeichnen,
funktionierten die Gliedmaßen an deinem Körper plötzlich falsch herum:
Die Augen sähen immer nur nach innen, die Füße bewegten sich im Kreis,
die Hände griffen ins Leere. Die Panik lässt dich Kreise ziehen in
Gedanken, während du gefühlt mit den Händen nach Luft schnappst.
Dein Frühwarnsystem hat nicht funktioniert, obwohl der Schwellenwert
überhandnahm, sich an der Grenze anstaute und man doch dabei
zuschauen konnte, wie der Angriff seinen Lauf nahm.
Noch im Sommer zwischen zwei Coronajahren wart ihr in Berlin
irgendwie zusammengekommen, hattet euch immerhin halb getroffen.
Eigentlich wärt ihr alle zusammen in Iwano-Frankiwsk gewesen, aber die
Pandemie ließ die Reise nicht zu, also erzeugtet ihr aus zwei über das
Internet übertragenen Sicheln einen Kreis zwischen Berlin und dort und
hörtet euch von fern zu. Es gelang nur halb, denn es kam zu einer
technischen Verzögerung in der Übertragung, sodass ihr euch immer um
etwa eine halbe Minute verfehltet. Die Bewegungen wurden beim Lesen
zwar synchron übertragen, aber man hörte sich nicht, sondern war auf
ihren Nachklang angewiesen. Der Moment der Aussage und ihr Sinn
verzogen sich wie in einem Spiegelkabinett. Es war keine Verständigung
möglich, und du wartetest auf die Sirenen, die zum Test für den Tag
angesagt waren, damit wir wieder lernten, auf Unvorhersehbares zu
reagieren. Du erwartetest es mit einer gewissen Ungeduld, denn ihr Ton
war dir noch aus der Kindheit bekannt, jenes langgezogene Heulen, das
alles unterbrach und einen innehalten ließ und das, was in der Luft lag,
zerriss. Aber nicht einmal die Sirenen sprangen an am Katastrophentag,
der Moment, der einen hätte warnen sollen, verging unbemerkt auf dem
Weg zum Holocaustdenkmal.
Und während du auf Zeichen gewartet hast, die dir etwas vorhersagen
sollten, damit du dich orientieren konntest in diesem Sommer zwischen
zwei Wellen, übersahst du die Drohkulisse, die sich Zeichen für Zeichen
aufbaute. Der Krieg war da schon da, doch er drang nicht über die
Schwelle. Dafür sammelte er sich an, und das musst du so sagen, denn du
hast in den letzten Jahren vieles von dem Wissen angesammelt, das ihn
erwartbar machte. Trotzdem kannst du nicht sagen, wie sich dieser
Moment beschreiben lässt, der auf einmal die Welt verändert, obwohl nur
eintritt, wovon man weiß, dass es geschehen kann. Als setzte ein
mörderisch wildes Tier zum Sprung an und würde die Szenerie zugleich
grell erhellt, außen über die Nachrichten und innen über das Wissen, das
sich plötzlich bewahrheitete. In diesem Moment sprang die Gewissheit
über die Schwelle und zerriss alles Vermeintliche. Das ist der erste Krieg,
der dich trifft, und mit jeder Bombe erschüttert er dich, jede Bombe ist
falsch, unsagbar falsch, wie soll das weitergehen, denkst du stoisch liegend
im Bett, während du kaum atmen kannst. Das ist gefühlt dein erster
Kriegsausbruch, alle anderen hast du ignoriert. Das ist der, der nun in dir
regiert, der dein Erleben auflöst und dich dem Zeitgeist zuschlägt. Er
begann nachts, als alle schliefen, und kam nach dem Aufwachen an.
Und was tut die Angst jetzt, wenn man als Zuschauer mit ihr
zusammensitzt? Man fasst am Morgen danach zusammen, was in der
Nacht geschah, sagen die Experten. Keine Erwartungsgewissheit, kein so
schlimm wird’s schon nicht werden, keine neue Normalität, keine Rückkehr ins
Vertraute, kein Es-kommen-auch-wieder-andere-Zeiten, keine Spekulation
darauf. Nur ein Starren auf die Bilder und ein jähes Wissen um die Kriege,
die noch kommen werden. Sezier lieber die Angst. Die einen haben eine
Fluchttasche neben der Tür. Die sind noch nicht lange hier. Die anderen
nicht. Das ist der Unterschied.

So geht das schon wochenlang, der Moment hält an wie der Ton der
Sirene und zwingt mich, zu begreifen, was wie aus einem Film
entsprungen wirkt. Das ist doch Vergangenheit, aus der wir uns längst
gelöst haben, wie kann es sein, dass es uns jetzt so überholt erscheinen
lässt. Ab jetzt werden wieder Museen gesprengt, Theater zerstört,
Ortsnamen ersetzt, seilt der Feind sich über der Hauptstadt ab und ersetzt
den Agentenfilm. Ab jetzt geschieht alles zeitgleich. Ab jetzt ist, wie es
vorher war, vorbei.
Und wie die Bomben fallen. Sie fallen, wenn die Menschen im Kino sind.
Wenn sie in den Supermarkt gehen. Oder bei der Büroarbeit. Sie kommen
von oben und fallen, als sie sich zu verstecken beginnen in den Theatern,
statt sich abzulenken mit Theaterstücken, und ihre Situation schon nicht
mehr als Teil eines Films wahrnehmen. Sie schlagen in Menschenmengen
auf Bahnhöfen. Sie streichen über die Köpfe der Kinder, zerfetzen sie
oder trennen ihnen Gliedmaßen ab. Sie bringen die Menschen dazu, sich
Kochtöpfe aufzusetzen und in Badewannen zu hocken, sie lassen
Erwachsene in Supermarktkostümen die Waisen zu den Zügen begleiten,
die sie aus der Stadt bringen sollen, sie lassen Frauen mit Kindern tagelang
zu Fuß bis über Grenzen gehen. Sie sind noch nicht auf flüchtende Züge
gefallen, sie sind noch nicht in andere Länder eingefallen. Ich kann das
kaum schreiben. Sie zerstören alles, auch die Bücher, auch die, die noch
nicht geschrieben sind. Woran knüpfen wir dann an?
Wie konntest du nur dabei zusehen, wie sich über Jahre hinweg eine Welle
aufbaute, fast nur als Erinnerung an einen Sommer, an einen weiteren
Augenblick auf der Autobahn, um die Kinder aus den Ferien zu holen
oder sie zu bringen, als das Radio von einem Einfall in Georgien sprach
und sich zwei neue Namen auf einmal als Republiken ausgaben. Das kurze
Gefühl, das geht doch nicht, das aber schnell vorüberging und deine
Aufmerksamkeit nicht weiter beanspruchte. Dann das völlig zerbombte
Aleppo, der Basar, den es nicht mehr gibt, aber das war nicht dein Gebiet,
und schließlich die Krim und der wilde Donbass, der dir mit seiner Armut,
seinem Mangel an Ästhetik, seiner Menge an Bergwerken doch im Grunde
gleichgültig war. Das abgeschossene niederländische Flugzeug mit all
seinen Toten reichte auch nicht, um den Blick zu richten auf das, was
kommt. Vielleicht noch deine Emphase angesichts der Ästhetik des
Aufbegehrens in Belarus, so schön, so wahr und so echt, aber erst dann
brach plötzlich etwas los, und nun sieh an, du erkennst dich auf einmal
nicht wieder. Siehst die Lunte brennen, kannst sie rückverfolgen bis zur
Explosion, Kultur und Explosion, liest du bei Juri Lotman über ein an
Explosionen orientiertes Denken und die Überwindung der fatalen
Entscheidung zwischen Stillstand und Katastrophe. Wenn die
Vorwärtsbewegung – und die Alternative dazu ist nur die Katastrophe, deren Ausmaß schwer einzuschätzen ist – trotzdem die Grenze überwindet, auf der wir uns befinden, dann wird die entstandene Ordnung kaum eine einfache Kopie der westlichen Ordnung sein. … Die grundlegende Veränderung in den Beziehungen zwischen West- und Osteuropa, die sich vor unseren Augen vollzieht, bietet vielleicht die Möglichkeit, zu einem gesamteuropäischen ternären System überzugehen und abzugehen von dem Ideal, die alte Welt bis auf die Grundfesten zu zerstören, um danach auf ihren Ruinen eine neue zu bauen. Diese Möglichkeit zu versäumen, wäre eine historische Katastrophe.
Es gab diesen Moment, erinnerst du dich, als der Krieg in der Luft zu
liegen begann und man öffentlich davor warnte, ihn herbeizureden, indem
man über ihn sprach. Ruhig Blut, bis jetzt ist der Angriff nur vorhersehbar,
stattgefunden hat er noch nicht. Und dann genügte eine Nacht, um zu
zeigen, dass der Gang der Ereignisse nicht unberechenbar war und der
Krieg nicht einfach ausbrach. Da brannte die Lunte längst.
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Aber warte nur, mit der Zeit gewöhnst du dich daran, dann sind die
Informationen nicht mehr so unmittelbar. Schon jetzt erkennt man Bilder
wieder und kann sie einordnen. Nach genug Zeit verwandelt sich noch
jedes Entsetzen in Gleichgültigkeit. Sezier besser deine Angst. Die
Menschen leiden auch so. Etwas, was sie gar nicht erleben, wird wahr. Das
wirkt mitunter Wunder.

Die Angst sprang in die Badewanne. Schaumköpfe las deine Mutter dir
immer als Kinderbuch vor, ein älteres Mädchen wäscht seinem jüngeren
Bruder den Kopf, aber hier warst du es, die in der Badewanne saßt und
deine Mutter, während du Schaum beiseiteschobst, fragtest, ob denn
jemand eine Bombe auf uns werfen könne, und sie dich nur beruhigen
konnte mit dem Satz, nein, das ginge nicht, denn jemand anderes passe
mit seiner Bombe auf uns auf. Und wie die Angst nun wieder in der
Badewanne in den Kindern steckt, vor dem Schlafengehen fragt dich deine
Tochter, aber uns erreicht der Böse doch nicht, er soll nicht so vielen
Menschen Böses tun. Und du antwortest deinem Kind, nein, uns geschieht
hier nichts, und weißt, wie sehr du lügst.
Die Angst steckt also in den Stimmen der Mütter, sie hat sich verborgen
unter Gutenachtgeschichten und hält sich hinter lächelnden Gesichtern
versteckt, sie springt mit hoch, wenn Mütter ihre Kinder in die Luft werfen
und ihnen immer, immer versichern, dass ihnen nie etwas geschehen wird,
wenn sie plötzlich mit ihnen aufbrechen müssen und ihnen noch während
sie sagen, nimm deinen Rucksack und dein Kuscheltier mit, versprechen,
dass es spannend, ein Abenteuer wird. Sie kennt sich aus mit den Lügen
der Eltern und speist sich aus den Vorstellungen der Kinder, ein neues
Spiel, was packst du in deinen Koffer, wenn der Koffer nur ein Rucksack
ist und es keine Zeit für Überlegungen gibt. Nimm dein Kuscheltier, dein
Haustier mit, und warme Kleidung. Was nimmst du denn mit, fragt dich
dein Kind, und alle Nervenenden richten sich auf, dieses Gefühl ist
vertraut, schon wieder. Es schleudert einen in den Moment zurück, da
man handeln muss, mit schneller Hand die Dinge ordnen, greifen, packen
für den Moment, da einem alles aus der Hand fallen wird. Jetzt weißt du
es, weil deine Tochter fragt, du weißt also, dass man für andere bereits in
sich beginnt, sie zu verwandeln in etwas, das man erzählen kann.
Die Angst ging um in deinem Heimatkundebuch von früher, dort gab es
Bilder von ausgelöschten Dörfern und den toten Dorfbewohnern
daneben, du hast dir das immer wieder angeschaut und dir das Foto
gemerkt, tote Menschen angeordnet auf einem Feld neben ihrem
abgebrannten Dorf, ein Begleitumstand in Schwarzweiß. Die Angst
ordnete das ein und der Bildung und Erziehung unter.
Die Angst nahm dich Huckepack in Gestalt des Soldaten, der ein Kind im
Krieg gerettet hatte, lieber das Kind als er, und dieses Kind hättest du
gewesen sein können, erzählte man dir, erzählte man sich untereinander
wieder, so ging die Geschichte reihum und war jedem bekannt, so stand
es an dem Denkmal, ein verewigter Soldat mit einem Kind auf dem Arm.
Die Angst sehnte sich als Kind danach, einmal einem echten sowjetischen
Soldaten zu begegnen, weil jeder von ihnen der war, der dich womöglich
hochgehoben hätte. Das machte, dass du den einzigen sowjetischen
Soldaten, den du jemals am Bahnhof stehen sahst, von vornherein
umarmen wolltest.
Sie verhielt sich launig in der Erzählstunde am Pioniernachmittag, in
Geschichten über eingesperrte Helden, lauter Gefängnisgeschichten, in
denen Töchter ihre Väter bis zur Hinrichtung besuchen durften und ihnen
in der Umarmung Nachrichten von draußen zuschoben. Das machte, dass
man sich diese Töchter als Vorbild nahm.
Die Angst wurde dir seitenlang spannend erzählt in Büchern, die in Reihe
erschienen und von denen du etliche gelesen hast: Gefangene der
Pantherschlucht, Der Geist des Liano Estacado, Magellans Reise um die Welt, Das
Grab der Legionen, Unter Korsaren verschollen, Die vier Pfeile der Cheyenne, Späher der Witboi-Krieger, Die Verbannten von Neukaledonien, Strom ohne Brücke,
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Oberhäuptling der Herero, Fieber am Amazonas, Temudschin, Herniu und mit ihm
Armin, der Cherusker, und wie er die Legionen des Varus im Teutoburger
Wald aufrieb. Und weiter, Hundertfünfzig Escudos, wie man Amerikaner mit
Armut rührt, Die Söhne der großen Bärin, wie man sich verhält, wenn man
ausgestoßen und verfolgt wird, Vierbeinige Freunde, wie man Zootieren im
Krieg hilft, Silberhuf zieht in den Krieg, wie man dem Vietcong hilft, Ede und
Unku, wie man seiner Freundin hilft. Neben den Entdeckungen
unbekannter Reiserouten gern die Grausamkeiten während der Eroberung
anderer Völker und deren Kampf dagegen. Dafür nie Karl May, weil der
gelogen hat, stattdessen ein Vortrag über dein Lieblingsbuch in der dritten
Klasse Vom Freiheitskampf des Roten Mannes, in dem stand, wer wen in Nord und
Südamerika abgeschlachtet, gevierteilt, verbrannt hat.
Die Angst war fester Bestand des Lexikons, mit dem man dir ab
Schuleintritt die Welt erklärte. Von Anton bis Zylinder, das Lexikon für Kinder
war schön illustriert und kindgerecht. Erst später, als du es dir wieder
vornahmst, um zu erfahren, was sonst noch drinstand, stellte sie sich dar,
die Bilder der Jahreszeiten täuschten nicht über die militärischen Orden,
Rangabzeichen, Organisationen und nationalen Feiertage hinweg.

Das Amphibienfahrzeug
Der Atomeisbrecher
Die Brennstoffe
Das Erdgas
Das Ferienlager
Der Frieden
Das Gaswerk
Das Gedicht
Die Gezeiten
Die Großplattenbauweise
Der Ingenieur
Die Insekten
Die Jahreszeiten
Die Kampfgruppen
Die Kantate
Die Koexistenz
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Tag der Befreiung
Tag der Republik
Tagebau
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Das U-Boot
Das Uran
Die Volkspolizei
Das Wasser
Die Wiese
Die Zeit

aus: Heute ist mitten in der Nacht
© Berlin Verlag, erscheint am 6. Januar 2023


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