Gemäß Vertragsbedingungen

Khrystyna Kozlowska

Marian hatte erstaunlich feine Finger, lang und knöchern. Einst hatte er davon geträumt, Pianist zu werden, er hatte eine Musikschule besucht, doch das ist lange her, er war noch ein Kind, wenn die Träume der Eltern die eigenen zu sein scheinen. Nachdem Marian die Uni abgeschlossen hatte und gleich darauf erwachsen wurde, vergaß er all diese Vorstellungen, sie verblassten, lösten sich in einer Masse anderer aktueller und dringenderer Angelegenheiten auf. Alles verging wie im Traum - und nur jene langen, feinen und behänden Finger blieben Marian, wie eine Erinnerung daran, dass er früher musiziert und gerne gesungen hatte. Marian mochte keine Überraschungen, keine unpünktlichen Menschen und keine langen Fahrten. Und vor allem die langen Fahrten. Die Bewegung im Raum, besonders unter fremden Menschen ermüdete und bedrückte ihn. Er ist kein Entdecker, sondern eher ein Bewahrer dessen, was er schon kennt. Er kennt seine Stadt und ist bereit, sie noch intensiver zu erkunden; er kennt seine Route und will sie noch schneller und bequemer machen. Marian sagt gerne: „Wer überall ist, ist zugleich nirgends“. Marian kennt seinen Job und kennt sich selbst, und das reicht ihm.
Marian und Iwanka haben sich zufällig getroffen. Sie wurden einander von gemeinsamen Freunden vorgestellt, denen ihre Ähnlichkeit auffiel – sie hatten tatsächlich eine Menge Ähnlichkeiten: Sie waren beide schlanke, ruhige und intelligente Menschen, sie interessierten sich für die gleichen Dinge, ihre Phobien ähnelten einander und auch ihre Eltern waren sich irgendwie ähnlich und wohnten wie es der Zufall wollte auch noch in Nachbarhäusern. Zwar war Marian Geisteswissenschaftler und Iwanka Mathematikerin, aber selbst das hinderte sie nicht daran, sich beim ersten Treffen dafür zu entscheiden, dass sie auf immer zusammen leben wollen, und diese Entscheidung sollte unabänderlich sein. Die Beziehung der jungen Leute entwickelte sich sehr schnell und evolutionierte in wenigen Monaten zur Ehe, doch ihre Karrieren entwickelten sich kaum, blieben finster in einer Sackgasse der Evolution stecken, nämlich auf der Stufe von Büroangestellten der mittleren Ebene. Marian und Iwanka waren nicht anspruchsvoll, sie liebten das Leben, wie es war, und gleichzeitig liebten sie sich selbst in diesem Leben. Abends schauten sie Filme, morgens liefen sie zusammen zur Marschrutka. Iwanka bepflanzte Blumentöpfe, Marian erweiterte seine Bibliothek. Ihr Zimmer in einer Mietwohnung gefiel ihnen, die Nachbarn, die das Zimmer nebenan gemietet hatten, waren ebenfalls ruhig und ganz zahm. Manchmal kreuzten sich die Wege beider Paare in der gemeinsamen Küche, aber jeder versuchte, so schnell wie möglich das Seine zu kochen und in seinem Zimmer zu verschwinden. Das Leben ging dahin, die Jahreszeiten wechselten sich ab, und das hätte noch weiß Gott wie lange so weitergehen können, bis Marian und Iwanka beschlossen, für Nachwuchs zu sorgen. Diese Entscheidung war wohl überlegt und gut durchdacht. Beide absolvierten verschiedene Tests, und nachdem sie sich vergewissert hatten, dass mit ihren Körpern alles in Ordnung war, entschieden sie sich für eine Schwangerschaft. Doch dann standen sie vor der nächsten, nicht weniger wichtigen Frage: Wo sollten sie mit dem Kind leben? Ihnen gefiel ihr Zimmer, auch weil es nicht so weit von ihrer Arbeit entfernt war, doch mit einem Kind in einer Mietwohnung für zwei Familien zu leben, war keine Option. Marian und Iwanka überlegten lange, aber es fand sich keine Lösung für dieses Problem. Bei den Eltern konnten sie nicht wohnen und eine Wohnung zu kaufen war erst recht nicht drin. Aber eines Tages, als sie wie immer zusammen mit der Marschrutka zur Arbeit fuhren, fiel ihnen eine vielversprechende Anzeige für den Verkauf von Wohnungen in einem neu gebauten, modernen Gebäude auf. Sie sahen sich das Haus und die Werbung dafür eher an, um später etwas zum Träumen zu haben, bis ihr Blick zufällig auf das Wort „Finanzierungsmöglichkeiten“ fiel, da sahen sie sich an und nach der Arbeit standen sie schon vor der Tür des Büros der Baufirma im Erdgeschoss eben dieses Neubaus. Die jungen Leute hatten nicht viel Hoffnung, beschlossen aber trotzdem, die Details der Finanzierung zu erfahren. Marian öffnete schwungvoll die Tür und sogleich schlug ihnen eine Mischung aus blumigen Düften, Kaffee-Tee und edler Parfüms entgegen. Bevor sie sich noch richtig umgeschaut hatten, stand ein junger Mann vor ihnen, er lächelte sie an, war sportlich und erinnerte eher an einen Tänzer als an einen Büroangestellten.
„Guten Tag, mein Name ist Artur, ich bin für den Verkauf der Wohnungen bei der Baufirma FreiheitBau zuständig. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir würden gerne etwas über die Konditionen zur Finanzierung einer Wohnung erfahren,“ antwortete Marian.
„Ja, natürlich. Ich werde Sie gerne in dieser Angelegenheit beraten. Bitte folgen Sie mir.“
Marian und Iwanka folgten Artur gehorsam. Zwei bequeme Stühle standen am Tisch, als ob sie auf sie gewartet hätten. Die jungen Leute setzten sich mit geradem Rücken hin, wie Musterschüler, bereit, jedes Wort des Maklers aufzunehmen.
„Nun, wie kann ich Ihnen helfen?“, sagte Artur von seiner Seite des Tisches. „An welche Art von Wohnungen hatten Sie gedacht, in welcher Gegend?“
„Nun, wir würden gerne etwas über die Konditionen und Kosten für Kredite in verschiedenen Bereichen erfahren,“ begann Iwanka als erste und knetete dabei ihre Mütze unter dem Tisch. „Wir sind noch nicht sicher, wir wollen uns nur erkundigen.“
„Ich verstehe“, entgegnete Artur in aufmunternden Ton, „Sie sind sich im Moment ihrer finanziellen Möglichkeiten nicht ganz sicher“.
„So etwas in der Art,“ stimmte Marian zu, und Iwanka nickte kurz.
„Ja, ja, das verstehe ich,“ lächelte Artur breit, als hätte er gerade gehört, dass seine Gesprächspartner bereit wären, etwas sehr Teures zu kaufen,“ wie sagt man doch, Hauptsache, man hat das richtige Ziel vor Augen, die finanzielle Seite ist dehnbar.“
Iwanka lächelte unwillkürlich in sich hinein.
„Dann beginnen wir damit, für welche Wohnungsgröße Sie sich interessieren?
„Nun... wir wissen nicht genau. Vielleicht fangen wir mit dem Kleinsten an...“ Marian zuckte mit den Schultern.
„Soll es eine Wohnung für eine Familie sein?“
„Ja, genau.“
„Sind Sie eine große Familie?“
„Nun, im Moment sind wir nur zu zweit, aber...“ Marian und Iwanka sahen sich an. Marian wollte fortfahren, aber Artur schien sie besser zu verstehen als sie selbst.
„Bisher sind Sie zu zweit, aber Sie planen Familiennachwuchs, ich verstehe“.
Iwanka und Marian nickten zustimmend.
- Es sollte also zumindest eine Zweizimmerwohnung in einem nicht allzu abgelegenen Viertel sein, möglichst nicht an einer Durchgangsstraße und am besten mit einem angrenzenden Park, verstehe ich Sie richtig?“
„Ja,“ stimmten sie unisono zu.
„Großartig, wir haben einige gute Optionen, die wie für Sie gemacht sind.“
Artur tippte schnell etwas auf der Tastatur ein und drehte dann den Computerbildschirm zu seinen Kunden. Marian und Iwanka sahen unglaublich schöne Fotos moderner Hochhäuser, Wohnungsgrundrissen, sonnendurchflutete, bereits eingerichtete Zimmer, verlockende Spielplätze in Innenhöfen. Die Gebäude wechselten einander ab, wurden immer schöner und schöner und ihre Bezeichnungen wurden immer bezaubernder. „Goldene Linden“, „Honigtal“, „Sonnenland“, „Silbergipfel“, „Haus des Glücks“. Marian und Iwanka drückten einander unter dem Tisch die Hände, während sie diese Bilder betrachteten. Wie im Halbschlaf vergaßen sie sich selbst und folgten der sanften und aufmunternden Stimme Arturs in die Ferne, in eine strahlende Zukunft, in die nächste Stadt. Diese Reise in eine Parallelwelt war so süß und berauschend, dass sie sie nie wieder verlassen wollten. Aber alles hat ein Ende, und so auch Arturs Rede, deren Fluss bereits versiegt war. Er hielt inne, befeuchtete mit einem Glas Wasser seinen trocknen Mund und fuhr fort:
„Die besten Optionen für Sie wären wahrscheinlich folgende. Der Preis pro Quadratmeter beginnt bei fünfzehntausend Hrywna. Und gemäß den Kreditkonditionen müssten Sie pro Quartal fünfundsiebzigtausend Hrywna zahlen.“
Die letzten Worte weckten Marian und Iwanka endlich aus ihrer Hypnose. Sie zuckten zusammen, Iwanka zupfte ihre Bluse zurecht, sie fühlte sich irgendwie unwohl, als ob sie etwas Unanständiges gewollt hatte, sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und sah Marian an.
„Oh... wunderbar, danke," murmelte Marian, „danke für die Information.“
Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Marian schob seinen Stuhl zurück, um aufzustehen, und Iwanka folgte ihm nach.
„Wir werden darüber nachdenken, danke noch mal,“ Marian nahm seine Aktentasche mit Papieren, die er manchmal mit nach Hause nahm, um seine Arbeit zu beenden, und wandte sich zur Tür.
„Äh... Entschuldigung", rief ihm Artur hinterher.
„Ja,“ Marian wandte den Kopf.
Artur stand bereits vor seinem Schreibtisch und machte ein ernstes und konzentriertes Gesicht.
„Entschuldigen Sie, aber ich habe anscheinend eine Option vergessen“.
„Wir danken ihnen wirklich für die Informationen, aber ich denke nicht, dass...“
„Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, und das Angebot ist wirklich besonders.“
Marjan zögerte einen Moment und gab dann aber weniger aus Interesse nach, sondern weil er nicht unhöflich erscheinen wollte. Der Kauf einer solchen Wohnung war etwas Irreales für sie, zumindest in diesem Leben, das war klar.
„Setzen Sie sich doch", Artur deutete auf die leeren Stühle, und die jungen Leute setzten sich gehorsam, aber ohne Begeisterung, wieder hin.
Artur tippte etwas auf der Tastatur und wandte den Bildschirm seines Computers wieder dem Paar zu. Ohne von seinem Stuhl aufzustehen, beugte er sich über den Tisch und sagte mit etwas gedämpfter Stimme, als ob sie sich verschworen hätte:
- „Die Wohnanlage „Gesegnet“, gleich beim Schewtschenko Stadtpark, das angrenzende Gebiet, achtzig Quadratmeter, zwei Loggien, Sonnenseite. Und das Wichtigste,“ - sagte Artur fast flüsternd und beugte sich noch weiter über den Tisch, „sind die besonderen Kreditbedingungen. Sie zahlen, wenn sie bereits in der Wohnung wohnen und nur für den Bereich, in dem sie wohnen. Sie können zum Beispiel nur für fünf Quadratmeter zahlen,“ - Artur sprach langsam und betonte jedes Wort, „Sie zahlen also für ihre fünf Meter und leben dort, sie gehören ihnen, ist das nicht toll?" Arturs Augen leuchteten, als ob er selbst daran glaubte, wie toll das sei.
Iwanka und Marian sahen sich an, sie verstanden das nicht.
„Entschuldigung, aber wie meinen Sie das?", fragte Iwanka.
„Ja, ich weiß, es klingt ein wenig seltsam. Und es ist wirklich eine ziemlich seltsame Verfahrensweise für unseren Markt, vor allem, weil es für die Baufirmen unrentabel ist. Für sie ist es viel besser, wenn man den gesamten Betrag auf einmal zahlt oder wenigstens den Großteil. Aber unser Unternehmen ist nicht so, es kümmert sich in erster Linie um seine Kunden. Herr Adam, der Eigentümer unseres Unternehmens "FreiheitBau", war auch einmal arm und hatte kein Dach über dem Kopf. Als er dann Erfolg hatte und schließlich unsere Firma gründete, gelobte er, dass er Menschen wie ihnen, so wie er es früher war, helfen würde. Natürlich kann man erst einmal versuchen, Geld zu verdienen, um wenigstens eine Einzimmerwohnung in einem weniger guten Gebäude zu kaufen, aber dazu wird man fast sein ganzes Leben brauchen. Und Herr Adam eröffnet Ihnen die Möglichkeit, schon morgen in ihr eigenes Haus zu ziehen, aber was rede ich- sogar schon heute!“ Artur lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spülte seinen Mund mit einem weiteren Schluck Wasser.
Marian und Iwanka schwiegen, sie sahen Artur mit weit aufgerissenen, schockierten Augen an.
„Das soll ein Witz sein?“, fragte Marian schließlich.
„Nein, was denken Sie denn. Das ist die Realität von FreiheitBau, eine wunderbare Realität.“
Marian schaute sich um, als wolle er sich sicher gehen, dass er sich wirklich in einem Büro befand, in einem richtigen Büro und nicht nur in der Kulisse eines Theaters. Doch das alles sah nicht nach einem Theater aus. An den anderen Tischen saßen ebenfalls Leute und sprachen mit den Maklern; einige kamen, andere gingen, am Nebentisch arbeitete ein Drucker, der offenbar die Bedingungen eines Vertrags ausdruckte; die Arbeit war in vollem Gange.
„Sehen Sie,“ - fuhr Artur fort, “Sie zahlen für ihre fünf Quadratmeter, sie gehören ihnen, dort stellen Sie ein kleines Klappbett auf, einen Kleiderschrank, einen kleinen Tisch, was brauchen Sie mehr? Und bis zu dem Zeitpunkt, wenn das Kind auf die Welt kommt, sparen Sie ein paar neue Quadratmeter an. Und so weiter, bis Sie die ganze Wohnung gekauft haben. Es ist alles bedacht. Und das Wichtigste - denn ich habe das Wichtigste noch nicht erwähnt - es gibt keine verpflichtenden Zahlungen. Es gibt keinen Fixbetrag, den Sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums zahlen müssten.
Es gibt keine verpflichtenden Zahlungen?", fragte Iwanka ungläubig.
„Sehen Sie,“ fuhr Artur fort und lächelte zum ersten Mal, seit sie über diesen besonderen Kredit sprachen, „Sie zahlen nur dann, wenn Sie wollen. Falls ihnen fünf Quadratmeter reichen, können Sie ruhig auch auf diesen fünf Quadratmetern leben.“
Marian und Iwanka schwiegen und verdauten dabei, was sie gerade gehört hatten.
„Das bedeutet also, dass wir auf den Quadratmetern leben, die wir bezahlt haben, und die restlichen...“ Marian sprach nicht weiter, denn er wusste nicht, wie er seine Frage formulieren sollte, geschweige denn, wie man sich ein solches Leben vorstellen sollte.
„Und die restlichen Quadratmeter dürfen nicht betreten werden, es dürfen dort keine Möbel aufgestellt werden, es darf nichts dorthin fallen, auch nicht aus Versehen, nicht einmal zu diesen Flächen hinüberlehnen darf man sich. Sie müssen so leben, als existiere dieser Platz neben ihnen nicht, so sind die Vertragsbedingungen,“ sagte Artur ruhig, als ob das, was er sagte, nichts Besonderes wäre und alle Menschen so leben würden.
„Und woher wissen Sie denn, ob...“ begann Iwanka.
„Bevor Sie in ihre Wohnung einziehen, wird ein Videoüberwachungssystem installiert, und die bezahlten und unbezahlten Bereiche werden durch rote Linien abgegrenzt. Natürlich müssen die Linien nicht rot sein, Sie können die Farbe selbst wählen. Jedes Mal, wenn etwas laut Vertragsbedingungen Unerlaubtes geschieht, werden wir es erfahren. Wenn das passiert, wir sind auch Menschen,“ Artur lächelte gutmütig, „wird ein kleiner Prozentsatz vom Restbetrag der Gesamtsumme angerechnet. Aber man kann ja darauf achten, dass es nicht so weit kommt.“
„Und wie kommen wir aus der Wohnung heraus, wenn man das verbotene Gebiet nicht betreten kann?“, fragte Marian.
„Das ist kein Problem. Wir messen einen Durchgang von ihrem Zimmer bis zur Eingangstür ab. Er kann auch nur einige Zentimeter breit sein, ganz wie Sie wollen, und die Fläche dieses Durchgangs wird in die Gesamtfläche, die ihnen gehört, miteingerechnet. Das Gleiche gilt für das Badezimmer und die Küche. Den bezahlten Bereich können Sie betreten und nutzen, den unbezahlten Bereich dürfen sie nicht nutzen. Verstehen Sie mich jetzt?“
„Es scheint... naja... irgendwie ist das schon ziemlich seltsam.“ Marian und Iwanka sahen sich immer wieder an, unfähig zu glauben, was sie da hörten. Um die Wahrheit zu sagen, wollten sie einfach nur noch nach Hause. Das waren zu viele Informationen für einen Tag.
„Ja, es mag seltsam scheinen“, stimmte Artur zu, „aber überlegen Sie doch: Sie wohnen in ihrer eigenen Wohnung, und anstelle Geld für die Miete auszugeben, können Sie Zentimeter für Zentimeter, Meter für Meter ihre eigenen vier Wände kaufen.“
„Gut, wir denken darüber nach,“ Marian schob knarrend seinen Stuhl zurück, hob seine Tasche vom Boden auf und steuerte entschlossen auf die Tür zu. Iwanka eilte ihm hinterher.
Sie gingen nach draußen, und die frische Kühle der Märzluft schlug ihnen entgegen. Ihre Köpfe dröhnten wie riesige Glocken. Sie wollten so schnell wie möglich nach Hause und sich entspannen.
Die Zeit verging. Draußen wurde es wärmer, und Marian und Iwanka arbeiteten immer mehr. Sie schafften es auch, etwas Geld anzusparen, aber das war nur ein Tropfen im Meer der Summe, die sie für die Wohnung brauchten. Die Zeugung des Kindes wurde immer weiter in die Zukunft verschoben. Doch eines Morgens hielt Iwanka es nicht mehr aus – und anstatt zur Arbeit zu rennen, für die sie beide schon etwas spät dran waren, setzte sie sich in Schuhen und mit ihrer Tasche im Arm aufs Bett und heulte.
„Ich halte es nicht mehr aus,“ schluchzte sie, „ich kann mein Leben doch nicht auf später verschieben. Ich lebe die ganze Zeit nur in der Vorfreude auf das, was kommen soll, aber ich bin schon zweiunddreißig,“ – heulte Iwanka laut und ungehemmt. Marian wollte zu ihr, sie umarmen, sie trösten, aber stattdessen stand er nur auf der Schwelle des Zimmers und blickte zu ihr; er konnte sich seiner Frau nicht nähern, oder besser gesagt, er begriff, dass es sinnlos war, er konnte sie nicht trösten, weil er einfach nicht wusste, wie; er konnte nicht einmal sich selbst trösten und wusste nicht, was zu machen war.
„Ich will ein Kind,“ Iwanka heulte weiter. Nicht mehr lange und es wird zu spät für mich sein, um zu gebären. Mach was!“ schrie sie plötzlich. „Mach was! Du musst etwas unternehmen! Wie, wie sollen wir weiterleben? Wie soll ich weiterleben?“
Marian stand wie erstarrt da, er wollte auch schreien, aber er konnte nicht, er ist ein Mann. Aber wenn er ein Mann ist, was kann er dann ?
„Wir nehmen die Wohnung,“ sagte Marian trocken und zog sein Handy aus der Tasche, er musste anrufen und mitteilen, dass er zu spät kommen würde.
Das Haus war wirklich grandios und lag in einer sehr schönen Gegend. Ganz in der Nähe war ein Park, ein idealer Ort für eine Familie mit einem Kind. Iwanka und Marian stellten sich schon vor, wie sie mit dem Kinderwagen dort spazieren gehen würden. Artur war wie immer aufmerksam und höflich. Er hatte auf jede Frage eine Antwort, und als alle Fragen beantwortet waren, konnten sich das junge Paar ein wenig beruhigen und entspannen. Sie haben ihre neue Wohnung hundertmal mit allen Winkeln und Ecken begutachtet, hundertmal ihre Entscheidung geändert, wo und wie sie wohnen wollen, und sich dann schließlich darauf geeinigt, dass für den Moment der beste Platz in der Küche ist, denn irgendwo müssen sie ja kochen, und sich ein Stückchen Zimmer plus ein Stückchen Küche plus ein Stückchen Bad zu leisten, war unmöglicher Luxus. Die Küche würde also ihr Schlafzimmer sein, sie lag dem Bad und dem Flur am nächsten, so dass sie keinen Quadratmeter für diese schmalen Gänge zwischen Zimmern verschwenden müssten. Marian und Iwanka stellten Herd, Spültisch und Kühlschrank in die Küche, ein schmales Schränkchen für Küchenutensilien, darüber einen Hängeschrank, neben den Herd noch einen Tisch, einen Stuhl und ein kleines Klappbett an der Wand. An der Wand über dem Klappbett befand sich ein weiterer Schrank für Bücher und Dokumente. Zwei Quadratmeter der Küche der Wand entlang zum Balkon blieben unbezahlt, ebenso der Balkon selbst. Außerdem fehlte ein Quadratmeter links neben der Spüle. Sie entschieden sich, die Tür zwischen Küche und Flur zu sparen, um keine zusätzlichen Quadratzentimeter zu verschenken, sowie einen schmalen Streifen von einem halben Quadratmeter entlang der Wand zwischen dem Rand des Klappbettes und dem Eingang zur Küche. Marian und Iwanka berieten lange, probierten viele Male ihre möglichen Wege und Bewegungen in der Küche aus und kamen zu dem Schluss, dass es nicht notwendig war, den Bereich unmittelbar entlang der Wand zu betreten, also beschlossen sie, sich auch diesen Bereich zu sparen. Es war geplant, dass das Paar eben diese Bereiche als erstes nachkauft. Der Durchgang von der Küche zum Bad und zur Haustür war zwanzig Zentimeter breit, also versprach es schwierig, aber nicht unmöglich zu sein, sich auf dieser Strecke zu bewegen. Eigentlich ist nichts unmöglich, wenn man etwas wirklich will, wiederholte Artur gerne, der bei allen Messungen und Markierungen der Wohnung dabei war. Marian bemerkte auch die Professionalität des Teams aus zwei Männern, die unter Arturs geschäftiger Anleitung alles ziemlich schnell und einfach bewältigten. Sie installierten ein Videoüberwachungssystem so, dass jeder Zentimeter der Wohnung im Blickfeld der Kameras lag. Sie stellten die Möbel auf, hängten Lampen in der Küche, im Bad und im Flur auf und schlugen einen Nagel in die Wand für das Hochzeitsfoto der Wohnungsbesitzer. Artur stellte frei, die Farbe der Streifen zu wählen, die den bezahlten vom unbezahlten Bereich abgrenzte, doch das Paar einigte sich darauf, dass die roten am besten seien, da sie am auffälligsten sind, was schließlich sehr wichtig ist. Sie beschlossen, die beiden leeren, unbezahlten Räume abzuschließen, um nicht in Versuchung zu kommen. Nachdem alle Vorbereitungen beendet worden waren, holte Artur demonstrativ eine Art Fernbedienung heraus und drückte einen großen Knopf, der das Videokontrollsystem startete. Dann verkündete er seinen Kunden in feierlichem Ton, dass sie jetzt die Besitzer dieses Hauses seien und applaudierte. Marian und Iwanka lächelten gezwungen. Sie freuten sich wirklich, aber sie waren einfach noch etwas aufgeregt.
Artur ging. Marian und Iwanka seufzten erleichtert und setzten sich auf ihr Klappbett. Sie waren müde, also beschlossen sie, sich einen Film anzusehen und rasch schlafen zu gehen, um sich am nächsten Morgen über ihre neue Wohnung zu freuen. Und das taten sie auch. Mit den ersten Sonnenstrahlen öffnete Iwanka die Augen. Sie ließ die Blicke durch die neue Wohnung wandern. Sie drehte sich zu Marian, um ihn zu umarmen, und das Klappbett knarrte leise, obwohl es nagelneu war. Iwanka lächelte, denn aus irgendeinem Grund gab ihr dieses Geräusch ein Gefühl von Zuhause und Geborgenheit. „Sie sind Zuhause, das ist ihr Heim,“ dachte Iwanka und versteckte ein leichtes Lächeln unter der Decke. Sie schaute sich an den fast kahlen Wänden der Küche um, bis ihr Blick an einer Überwachungskamera hängen blieb. Ein unangenehmer Schauer lief ihr den Rücken herab und das Lächeln verblasste. Iwanka schaute schnell weg und fühlte sich unbehaglich, so als ob man einen Fremden zu lange angesehen hat. „Was bedeuten diese Kameras überhaupt?“, dachte sie. „Sitzt da jemand und beobachtet uns ständig?“ Bei diesem Gedanken fühlte sie eine gewisse Abscheu und schnitt unwillkürlich eine Grimasse. Vor lauter Gerenne hatten sie vergessen, die Details dieses Systems zu erklären. Alles war ja irgendwie blitzschnell gegangen: Ihre Entscheidung, der ganze Papierkram und der Umzug dauerten nur ein paar Tage. Iwanka stieg aus dem Bett und versuchte, alles aus ihrem Kopf zu verbannen und sich auf das Positive einzustellen. Sie ging zum Herd, das Frühstück machen. Doch jedes Mal, wenn sie sich dem Kühlschrank, dem Tisch oder dem kleinen Schrank zuwandte, fiel ihr Blick aus irgendeinem Grund auf das schwarze, widerliche Auge der Kamera. Das war sehr provokant und anstrengend. Als Marian dann aufwachte, hatte Iwanka bereits schlechte Laune. Sie stellte das Frühstück auf den Tisch und schaute aus dem Balkonfenster, wobei sie versuchte, ihren Ärger zu verbergen.
„Danke Schatz,“ und während Marian gerade seine Gabel nahm, erhielt er eine Nachricht auf Telegram. Er schob seinen Teller beiseite und nahm sein Handy. Beim Lesen runzelte er zunehmend die Stirn, bis er sagte:
„Ich verstehe nicht, was verdammt soll das sein?“
Er gab Iwanka das Handy, und sie las die Nachricht laut vor:
„Sehr geehrter Herr Wirstyuk, aufgrund des Verstoßes gegen die Vertragsbedingungen (Wassertropfen fielen um 02.27 Uhr auf unbezahlte Fläche) werden 0,5 Prozent des Betrages bis zur vollständigen Bezahlung auf Ihren Betrag aufgerechnet.“
Iwanka und Marian sahen sich an und schwiegen.
„FreiheitBau,“ las Iwanka die Nachricht zu Ende. „Was soll das? Welche Wassertropfen?“, fragte sie fassungslos.
„Ich weiß nicht“, antwortete Marian und schob den Teller mit dem Essen an den Rand des Tisches.
„Was bedeutet diese Nachricht? Hat Artur jemals gesagt, dass die Firma uns Nachrichten schicken kann?“
„Nein... ganz bestimmt nicht,“ - Marian ging in Gedanken ihre Gespräche mit Artur noch einmal durch.
„Dann ist es vielleicht ein Irrtum?", fragte Iwanka hoffnungsvoll.
„Warte... es wird kein Fehler sein,“ Marian erstarrte und blickte durch Iwanka hindurch in die Ferne, „in der Nacht, vielleicht war es zwei Uhr siebenundzwanzig, bin ich wach geworden und dann zum Waschbecken gegangen, um etwas zu trinken. Ich hab ein Glas Wasser voll gemacht, ausgetrunken und bin wieder schlafen gegangen.“
„Willst du damit sagen, während du...“
„Ja, während ich das Glas füllte, spritzten vielleicht ein paar Tropfen auf die unbezahlte Fläche links vom Waschbecken.“
Beide blickten sofort ängstlich auf die Überwachungskamera in der Ecke unter der Decke.
„Ich rufe Artur an,“ Marian schnappte sich das Handy.
„Was meinen Sie mit ‚was für eine Art von Nachricht‘ das sein soll? Wie denken Sie denn, wie soll Sie Firma über Verstöße unterrichten?“, wunderte sich Artur. „Dachten Sie etwa, ich hätte Zeit, jedes Mal zu kommen, wenn Sie gegen etwas verstoßen? Wir leben doch alle in einer digitalisierten Welt. Telegram ist schnell und bequem, sie sind immer auf dem Laufenden, können den Prozentsatz selbst berechnen, falls irgendwas nicht stimmt, und keiner kann sie betrügen. Ich möchte daran erinnern, dass FreiheitBau nie und niemanden betrügt und für seine Kunden da ist.“
„Aber jenen Fleck hat keiner betreten, es ist auch nichts drauf gefallen, es gab nur ein paar Wassertropfen.“
„Aber Wassertropfen sind doch nicht ‚nichts‘, es sind Wassertropfen. Haben sie noch weitere Fragen?“
„Nein, äh... genauer gesagt, ja,“ Marian unterbrach sich und Iwanka zeigte in diesem Moment mit dem Finger in Richtung der Kamera, „wir wollten auch wegen der Überwachungskamera fragen. Dort, ähh… beobachten Sie uns ständig?“
„Аber nein, um Gottes willen,“ entgegnete Artur, „wie können Sie so etwas nur denken? Die Kameras sind nur im Falle strittiger Situationen da, zum Beispiel wenn Sie den unbezahlten Bereich betreten haben, jedoch behaupten, ihn nicht betreten zu haben, dann nutzen wir die Aufzeichnung der Kamera, die, nun das stimmt, ununterbrochen aufnimmt, um zu sehen, was wirklich passiert ist.“
„Aufgenommen wird also so oder so?
„Klar, warum hätten wir sonst all die Geräte installiert?“, und lachend fuhr Artur fort, „keine Sorge, niemand beobachtet Sie von hier aus. Ich rate ihnen, die Kameras zu vergessen und leben Sie, als ob es sie nicht gäbe.“
„Na gut, wir verstehen, danke.“
„Keine Ursache. Das ist mein Job. Sie haben meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen haben.“
Marian legte das Handy weg und schob schweigend seinen Frühstücksteller zur Seite.
Das Leben ging weiter, und zwar in dieser Wohnung, mit all ihren Gesetzen und Regeln. Marian und Iwanka hatten anfangs die Komplikationen, die sie erwarteten, unterschätzt. Sie bemühten sich, den unbezahlten Bereichen nicht zu nahe zu kommen, was freilich nicht immer möglich war. Wenn etwas herunterfiel, umherkullerte oder verschüttet wurde, landete es wie absichtlich auf solchen Flächen. Besonders heikel war es im Bad, denn auch dort gab es einen unbezahlten Bereich, auf den ein nasses Handtuch oder ein verflixter Wassertropfen von dem gerade gewaschenem und noch nicht abgetrockneten Körper mit Vorliebe fiel. Der Gang von der Küche zur Haustür wurde zu einer echten Abstinenz- und Ausdauerprüfung, die das Paar mehrmals am Tag absolvieren musste. Iwanka und Marian hatten auch bisher nie übermäßig dem Alkoholgenuss gefrönt, doch jetzt lehnten sie selbst ein Glas Wein ab, wenn sie irgendwo zu Besuch waren, aus Sorge, ihren zwanzig Zentimeter breiten Gang nicht fehlerfrei durchqueren zu können. Sie hatten sogar Angst, sich bei der Arbeit zu überanstrengen, damit sie in diesem zwanzig Zentimeter-Bereich nicht etwas fallen lassen oder gar stolpern. Das Paar sparte jeden Groschen und beschloss nach langen Gesprächen, bei der ersten Gelegenheit einen weiteren Zentimeter Breite für den Durchgang zur Tür zu kaufen. Während dessen erhielt Marian immer mehr Nachrichten von der Firma FreiheitBau über Telegram. Hin und wieder entglitt Marian eine Mülltüte im Flur oder Iwanka flutschte eine nasse Kartoffel aus der Hand und rollte auf den unbezahlten Bereich, manchmal rieselte etwas Waschpulver nicht dorthin, wo es hingehörte. Von so einem Leben konnte man verrückt werden. Iwanka fühlte sich oft einsam, Gäste einzuladen kam nicht in Frage. Keiner ihrer Freunde wusste über ihre Situation Bescheid und sie hatten nicht vor, es jemandem zu erzählen. Die jungen Eheleute konnten sich selbst schon nicht mehr erklären, wie sie diesen Bedingungen nur zustimmen konnten, ganz zu schweigen davon, es jemand anderem zu erklären. Viele Freunde hatten den Kontakt mit ihnen abgebrochen, weil sie dachten, die beiden würden sie meiden. Doch es gab kein Zurück mehr. Sie hatten bereits ihr ganzes Geld ausgegeben und ihnen blieb nichts anderes übrig, als den Rest der Wohnung nach und nach aufzukaufen. Doch es zeigte sich bald, dass das gar nicht so einfach war. Sobald sie etwas Geld gespart hatten, um den Durchgang zu erweitern, merkte Iwanka, dass sie schwanger war. Marian begann vor Freude zu springen, aber einen Moment darauf bremste er bereits und schaute sich um und kontrollierte, ob er nicht auf der falschen Stelle gesprungen sei. Iwanka war einfach glücklich, sie wollten es beide sehr. Als die ersten Emotionsexplosionen verraucht waren, setzte sich das Paar auf sein Klappbett und sprach über das momentan wichtigste Thema.
„Wohin stellen wir das Kinderbett?“, fragte Iwanka. Die Freude verflog und stattdessen kam Nervosität auf.
„Wir müssen das Stück entlang der Wand zwischen dem Klappbett und der Tür kaufen und den Durchgang im Gang lassen wir vorläufig so, wie er ist.“
Nach ein paar Monaten hatten sie etwas Geld angespart und kauften das Stück, auf das sie sich geeinigt hatten, oder besser gesagt, einen Teil davon. Ein kleines Viereck in der Ecke neben der Tür wurde vorerst nicht gekauft. Das Geld reichte nicht, sie mussten sich auf die Entbindung vorbereiten, die Geburtsklinik kostete etwas, ein Kinderbett musste angeschafft werden, ein Kinderwagen, Kleidung - kurzum, nicht geringe Ausgaben.
„Wie sollen wir das nur schaffen?“, jammerte Iwanka und hielt sich den Bauch. „Wir sind die eine Sache, aber wie soll das Kind hier leben? Wie kann man verhindern, dass das Kleine, das doch nichts versteht, nicht dorthin krabbelt, wo es nicht hingehört? Ach, wenn wir nur den Balkon hätten, denn wenn das Kind da ist, müssen wir doch jeden Tag Wäsche waschen und trocknen. Dafür haben wir definitiv nicht genug Platz.“
„Es wird schon irgendwie gehen,“ beruhigte Marian sie und versuchte sich selbst zu beruhigen.
Die Zeit verging, Iwankas Bauch wuchs und wuchs und mit ihm ihre Unaufmerksamkeit und Ungeschicklichkeit. Immer öfter fielen ihr Dinge aus den Händen und rollten dorthin, wo hin sie nicht sollten, und den schmalen Gang zur Tür sah sie unter ihrem dicken Bauch auch nicht mehr richtig. Marians Handy klingelte immer öfter und verkündete Nachrichten aus der Firma, weshalb er seinem Ärger in Gegenwart Iwankas Luft machte, was früher nie passiert war. Auch Iwanka war oft gereizt. Was sie nun am meisten hasste, war die Überwachungskamera in der Küche unter der Decke. Sie rief Artur mehrmals an, von den letzten Anrufen wusste Marian nichts, und fragte ihn, ob sie wirklich von niemandem beobachtet wurden. Artur versicherte ihr noch einmal, dass das nicht der Fall sei, aber Iwanka war sich sicher, dass es gelogen war, sie wusste es, sie spürte es einfach. Iwanka aß immer mit dem Rücken zur Kamera, las mit dem Rücken zur Kamera, bereitete das Essen mit dem Rücken zur Kamera, und wenn sie und Marian miteinander schliefen, deckte Iwanka sie beide mit einer Decke zu.
Und dann kam der Tag. Iwanka spürte einen starken Schmerz im Unterleib, setzte sich im Bett auf und informierte Marian. Marian stand rasch auf, nahm eine vorbereitete Tasche und schob Iwanka zum Ausgang, wobei er sie an der Taille festhielt. Iwanka bemühte sich sehr, ordentlich zu gehen, dennoch genau vor der Tür, brummte Marians Handy. Sie beide wussten, was das bedeutete, aber sie achteten nicht darauf. Das Paar kehrte mit einem kleinen Bündel nach Hause zurück. Es war ein Junge, und sie nannten ihn Stasik. Sie machten keine große Feier, aßen mit den engsten Verwandten in einem mehr oder weniger anständigen Restaurant zu Mittag und gingen dann ihrer Wege. Die Verwandten meinten, Stasik ähnelte seinem Vater. Er wuchs gesund und lebhaft auf. Marian und Iwanka vergötterten ihren Sohn. Als Stasik zu laufen anfing, begann eine unerträglich schwierige Zeit. Das Ehepaar grenzte alle unbezahlten Bereiche mit hohen Pappwänden ab, aber das half natürlich nicht immer, das Kind aufzuhalten. Um die Wäsche zu trocknen, spannten sie zwei Leinen über dem Ofen und befestigten sie an zwei hohen Holzstäben, die sie neben dem Ofen aufstellten. Die Wäsche wurde aufgehängt und die Gasflamme aufgedreht, damit sie schnell eine Ladung trocknen und eine andere aufhängen konnten. Stasik hatte nicht viele Spielsachen, weil es einfach keinen Platz gab, um sie unterzubringen. Von Anfang an liebte er es, wenn ihm vorgelesen wurde. So verbrachte Iwanka Stunden auf dem Klappbett und las ihm Märchen vor. Stasik entpuppte sich als sehr kluges Kind. Er begann bald zu lesen und eignete sich schnell die Regeln seines Zuhauses an. Er wusste genau, wohin er treten durfte und wohin keinesfalls. Er konnte Geschirr abwaschen, ohne einen einzigen Tropfen auf den Boden zu verspritzen, von der Küche zur Haustür rannte er innerhalb weniger Sekunden und verletzte dabei die Grenzen des zwanzig Zentimeter breiten Durchgangs kein einziges Mal. Es ging so weit, dass Stasik auf der Straße nicht um seine Eltern herumsprang und hüpfte wie andere Kinder, sondern sich geradeaus bewegte, als würde er auf einer Linie gehen, was die Passanten oft überraschte. Die Jahre vergingen und Marian und Iwanka konnten weder den Balkon noch den unbezahlten Platz im Bad kaufen, ganz zu schweigen von den beiden Zimmern, die immer noch verschlossen waren, so als gäbe es sie nicht. Diese Räume kamen Stasik manchmal magisch vor und erschreckten ihn, er fantasierte gerne darüber, was sich dort wirklich abspielte. Mit der Zeit begann Marian, seltsame Träume zu haben. Er spielte Klavier. Normalerweise sah er nur das Instrument und seine Finger, aber in seinen Träumen war er sich sicher, dass er prima aussah. Die Leute applaudierten, und manchmal applaudierte er sich selbst, weil die Musik, die er spielte, wirklich wunderschön war. Aus solchen Träumen erwachte Marian immer plötzlich. Er öffnete einfach die Augen, und das war's – über ihm die weiße Decke und in der Ecke die Überwachungskamera. Einmal sah Marian in einem Café, in dem er jemanden wegen der Arbeit traf, ein Klavier und traute sich, etwas auszuprobieren, was er seit gefühlten hundert Jahren nicht mehr gemacht hatte. Er bat um Erlaubnis und öffnete dann die Abdeckung und berührte mit zitternden Fingern die Tasten. Er schaute sich beschämt um. Keiner beachtete ihn, dann setzte er sich auf den Hocker und spielte. Er dachte, dass es nicht gehen würde, dass er sich nicht erinnern könne, aber er schaffte es. Er brachte etwas Musikähnliches zustande. Keiner applaudierte wie in seinen Träumen, aber das war Marian egal. Das Wichtigste war, dass es ihm gefiel. Marian kam als ein anderer Mensch nach Hause, er fühlte sich fröhlich und jung, sogar Iwanka bemerkte das. In dieser Nacht liebten er und Iwanka sich wie schon lange nicht mehr, leidenschaftlich und begierig, auch wenn Iwanka seiner Bitte, ihren Kopf nicht zu bedecken, ablehnte.
Stasik wurde größer. Das Lesen wurde immer mehr zu seinem Zeitvertreib. Und er wollte wenigstens eine kleine eigene Bibliothek haben. Aber seine Eltern erlaubten ihm nur, Bücher aus der Stadtbibliothek auszuleihen, weil sie einfach keinen Platz für eigene hatten. Marian und Iwanka stellten fest, dass sie ausreichend Geld für ein wenig zusätzlichen Platz gespart hatten, doch der erste September nahte, an dem Stasik eingeschult werden sollte, also beschlossen sie, mit dem Kauf zu warten. Ein paar Monate vergingen, und das Paar begann erneut, über die Möglichkeit zu diskutieren, ihren Bereich zu erweitern. Sie planten, den Durchgang zur Tür deutlich zu vergrößern, Iwanka begann sogar davon zu träumen, dass sie bald den gesamten Korridor zur Verfügung haben würden, aber eines Morgens, nachdem sie einen Test gemacht hatte, zeigte sich, dass sie wieder schwanger war. Zuerst hatte sie sogar die Idee, Marian nichts zu sagen, lass uns erst das Teilstück kaufen und dann sehen, was wird, - aber sie konnte nicht. Iwanka war nicht in der Lage, irgendetwas hinterrücks zu machen, also ging sie in die Küche, gab Marian den Test und weinte.
Diesmal beschlossen sie, die Verwandten gar nicht erst zur Taufe einzuladen. Es war klar, dass das Kind Iwanka ähnelte. Es war ein Mädchen, und sie nannten sie Marynka. Sie war unruhig und weinte nächtelang. Weder Iwanka noch Stasik konnten schlafen, nur Marian schlief gut und träumte von seinen eigenen Konzerten. Manchmal stieß die überreizte und erschöpfte Iwanka, die das Weinen des Kindes immer lauter hörte, ihm mit dem Ellbogen schmerzhaft in die Seite. Dann erwachte Marian abrupt, stand auf, wiegte das Kind in seinen Armen und summte die Motive, die er gerade in seinem Traum gehört hatte, ja, die er in diesem Traum spielte. Marynka wuchs als schönes und gesundes Kind auf, aber sie war nicht so gehorsam wie Stasik. Sie liebte es zu rennen, zu springen, auf Tische und Stühle zu klettern und vor allem - Verstecken zu spielen. Kurz gesagt, ein richtiges Kind. Sie hörte nicht auf die Ermahnungen ihrer Eltern, nur auf dem schmalen Streifen zu laufen, sie versteckte sich am liebsten dort, wo es unmöglich war, sie plantschte gerne im Wasser, bespritzte ihren Bruder laut lachend. Marians Handy klingelte und klingelte. Manchmal schaltete er den Ton ab, um sich nicht unnötig aufzuregen, doch Iwanka und er wussten, dass diese Stille nur eine vorübergehende Illusion war, denn schon bald würde Marian das Handy nehmen müssen, alle Nachrichten durchsehen und den Betrag berechnen müssen, der sich im Laufe des Tages angesammelt hatte. All das verhinderte gnadenlos und unüberwindbar, dass die Familie Wirstyuk je die Wohnung kaufen konnte. Im Allgemeinen war ihre Familie harmonisch, alle drei: Iwanka, Marian und Stasik saßen still zusammen und träumten, dabei träumte jeder von etwas anderem: Marian von einem Klavier, Stasik von einem eigenen Zimmer und einer Bibliothek, und Iwanka von Ruhe. Nur Marynka mochte es nicht, so dazusitzen und zu träumen. Eines Morgens wachte sie vor allen anderen auf, stand auf und begann herumzuflitzen, wohin sie nur konnte. Als Iwanka von dem Rabatz, den sie nicht verstand, aufwachte und ein Auge öffnete, sah sie als erstes Marynka von einer Ecke des Flurs in die anderen tollen. Iwanka sprang auf und schrie verzweifelt: „Marian, Marian, wach auf!“. Dieser Schrei weckte sowohl Marian als auch Stasik. Die Kinder bekamen Angst und auch Marian erschrak ordentlich. „Was ist los?“, fragte er immer wieder und schüttelte Iwanka an den Schultern. Sie weinte nur und deutete auf den Korridor. Marian eilte dorthin und sah seine Tochter in einer Ecke sitzen , die Knien mit den Armen umschlungen und den Kopf dazwischen versteckt. Marian stand auf ihrem engen Streifen und wusste nicht, was er machen sollte. Schließlich machte er zwei große Schritte, um den Kontakt mit dem Boden zu minimieren, nahm das verängstigte Kind in die Arme und trug es zurück in die Küche. An diesem Tag war Iwanka nicht sie selbst, Marian gab ihr Beruhigungstee, die Kinder saßen schweigend auf dem Klappbett. Am nächsten Tag rief Marian Artur an.
Artur kam in zwei Stunden und begann seinen Besuch mit einer Entschuldigung:
„Entschuldigen Sie die Verspätung, es gibt Verkehrsbehinderungen, die Leute sind irgendwie durchgedreht, sie protestieren, schreien und verbrennen irgendwelchen Müll.“
„Das sind Reifen,“ sagte Marian.
„Selbst wenn es sich um Reifen handelt, ist das egal, aber Chaos in der Stadt zu verursachen ist eine sehr schlechte Sache. Wie können Menschen, die arbeiten, ihre Aufgaben erfüllen, wenn Menschen, die nicht arbeiten, sie ständig behindern?“
„Es muss einen Grund geben, warum sie protestieren...“
„Ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr,“ weinte Iwanka und unterbrach das Gespräch. „Wir haben Sie angerufen, um...“ - ihre Lippen bebten und sie verstummte.
„Wir haben Sie angerufen,“ führte er ihre Worte fort und streichelte ihr dabei die Hand, „um über die Situation mit der Wohnung zu sprechen, so wie sie jetzt ist. Und zwar können wir weder körperlich noch moralisch ihre Vertragsbedingungen erfüllen.“
„Unsere Vertragsbedingungen,“ korrigierte ihn Artur.
„Unsere Vertragsbedingungen,“ wiederholte Marian kalt. „So viele Jahre sind vergangen, und wir konnten nur einen winzigen Teil der unbezahlten Fläche in der Küche und einen Teil des Balkons dazukaufen, um einen Platz zum Wäschetrocknen zu haben. Wir haben zwei Kinder, die können sich nicht wie Erwachsene an ihre Regeln halten. Aufgrund der Zinsen, die uns durch die täglichen Verstöße entstehen, werden wir nie in der Lage sein, die gesamte Fläche zu kaufen. Einfach nie. Niemals.“ Marian spürte Wut in sich aufsteigen, beherrschte sich aber tapfer.
„Ich verstehe Sie, “und Artur zog mitleidig die Augenbrauen hoch.
„Was verstehen Sie, was?“
„Ich verstehe ihre Situation.“
„Wenn Sie sie verstehen, was schlagen Sie also vor, um das Problem zu lösen?“
„Ich?“, fragte Artur erstaunt, als ob er nichts mit ihm zu schaffen hätte. „Ich bin nur Angestellter und kann nichts anderes anbieten als das, was im Vertrag steht. Alles, was Sie jetzt unternehmen können, um sich der Situation anzupassen, ist ganz einfach keine Regeln mehr zu verletzen und mehr Geld zu verdienen, um...“
Marian ließ ihn nicht zu Ende reden. Er stand vom Tisch auf und trat vor. Artur stand ebenfalls auf. Und er machte auch einen Schritt, aber rückwärts.
„Ich habe doch gerade klar und deutlich gesagt, dass wir die Bedingungen unseres Vertrags nicht mehr erfüllen können, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie unrealistisch sind! Verstehen Sie das? Unrealistisch!“ brüllte Marian.
„Unsere Bedingungen sind sogar sehr real, wenn man sein Leben richtig zu managen versteht. Herr Adam hat sein Unternehmen gegründet, um Menschen wie...“
„Zeig mir deinen Adam. Komm schon, gehen wir zu ihm. Jetzt. Ich möchte diesem Ekel in die Augen sehen.“
„Bedauerlicherweise trifft sich Herr Adam nicht mit seinen Kunden, dafür hat er uns Makler.“
„Ah-ja, Makler?“, knurrte Marian, ballte die Fäuste und ging auf Artur los. „Und wenn ich meinen Makler erschlage und seine Leiche vor dem Haus verbuddle, wird sich dieser beschissene Adam mit mir treffen?“
Iwanka hielt ab hier Marynkas Ohren zu, Stasik hielt sich die Ohren selbst zu. Iwanka zitterte am ganzen Leib, bereit, sich jeden Moment auf Marian zu stürzen, um ihn von Artur wegzuziehen und vom Totschlag abzuhalten. Marian packte mit seinen langen, dünnen Fingern den Kragen von Arturs Sakko.
„Ich rufe die Polizei“, sagte Artur kurz.
Dieser Satz besänftigte Marians Eifer. Er ließ das Sakko los. Er ging langsam zurück und deutete schwer atmend auf die Tür. Artur überlegte nicht lange, drehte sich um und ging. Marian setzte sich an den Tisch, nahm sein Handy, er hatte etwa dreißig Nachrichten von FreiheitBau. Er stand auf, ging langsam zum Balkon, zum ersten Mal in dieser Wohnung achtete er nicht auf seine Schritte, folgte nicht den roten Linien auf dem Boden. Er ging einfach zum Fenster und öffnete es. Von draußen hörte man Schreie, etwas ging zu Bruch, irgendwo heulte eine Sirene der Feuerwehr oder eines Rettungswagens. Marian holte heftig aus und warf das Handy so weit wie möglich. Iwanka war sprachlos, sie schaute Marian wie gebannt zu. Auch die Kinder beobachteten ihn.
Am nächsten Morgen sammelte Marian ihr gesamtes Geld bis auf den letzten Groschen ein, das für die Hälfte des Flurs reichen sollte, und verließ das Haus. Kurz vor der Mittagszeit kehrte er zurück. Er öffnete die Tür für zwei Männer, die ein Klavier in die Wohnung trugen. Iwanka und die Kinder beobachteten alles von der Küche aus. Iwanka schwieg, sie hatte keine Kraft mehr, zu schreien oder zu weinen, sie drückte nur Marynka an sich, die losrennen wollte, um sich alles im Korridor näher anzusehen. Marian ging in die Küche und schob Iwanka, die in der Nähe des Klappbettes stand, vorsichtig zur Seite. Er kletterte mit den Füßen auf die Pritsche und begann, im Schrank darüber zu kramen. Dann kletterte er zurück auf den Boden und hielt die Schlüssel in einer Hand.
„Hierher, Leute,“ ordnete Marian an und schloss einen der Räume auf.
Nachdem die Männer gegangen waren, öffnete Marian das Fenster, denn der Raum, in dem sie, seit sie hier wohnten, nicht gewesen waren, roch sehr unangenehm. Auf der dicken Staubschicht, die den Boden bedeckte, waren deutliche Spuren von Marians Stiefeln zu sehen. Der Mann setzte sich auf einen Hocker und öffnete mit einer selbstbewussten Bewegung den Deckel des Klaviers - doch dann, als er schon die Hände über die Tasten hielt, erstarrte er. Seine wie Bambus dünnen und langen, knochigen Finger zitterten. Endlich spielte Marian, die Musik strömte heraus und hallte von den kahlen Wänden wider. Marynka löste sich von ihrer Mutter, die jetzt mit den Kindern in der Tür stand, und lief zum Tanzen. Sie wirbelte durch den Raum, wirbelte Staubwolken vom Boden auf und lachte, so laut wie es ihr gerade gefiel. Stasik sah sich im Zimmer um und stellte sich vor, wo sein Bett stehen würde und wo der Schrank mit den Bücherregalen sein sollte. Iwanka erschauderte, ihr Handy begann in der Tasche zu vibrieren, Nachrichten von der Firma FreiheitBau kamen nun auf ihr Handy. Marians Musik war wirklich wunderbar. Egal, was man sagte, Marian hatte ein perfektes Gehör. „Ein absolutes, wirklich absolutes Gehör“, wiederholte sein Musiklehrer gerne. Jetzt wiederholte Marian es im Geiste. Nachdem er sein Konzert mit vielleicht fünf Liedern beendet hatte, stand er vom Klavier auf und verbeugte sich respektvoll. Marynka klatschte so lange bis ihr die Hände schmerzten, und Stasik klatschte mit ihr. Iwanka stand reglos da. Marian krempelte die Ärmel hoch, er musste sich an die Arbeit machen: die Haustür verbarrikadieren. Er schaltete den Kühlschrank aus und schob ihn in den Korridor. Iwanka, die dem Ganzen immer noch zuschaute, begriff. Sie rannte ins Badezimmer, holte ein Gummiband aus der Schublade und machte einen festen Knoten in ihr Haar. Dann lief sie zum Kühlschrank und half, ihn zu schieben. Darauf trugen sie das Klappbett, den Kleiderschrank und die Stühle zur Tür. Durch das offene Fenster im Zimmer war das zunehmende Getöse der Proteste zu hören, der immer mehr an Fahrt aufnahm und sich in der Stadt ausbreitete. Und Marynka erfand einen neuen Zeitvertreib - rote Klebestreifen vom Boden zu reißen. Durch das offene Fenster drang die Geräuschkulisse der Proteste zu ihnen:
„Ruhm den Helden, Slawa!“, rief die Menge draußen.
Marian das Fenster speerangelweit, sie brauchten frische Luft.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Alexander Kratochvil