Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Serhij Zhadan,
im Vorwort zu seinem Band „Warum ich nicht im Netz bin“, der teils dokumentarische Gedichte aus dem Krieg im Donbas versammelt, stellt Serhij Zhadan die Frage: „Was ändert der Krieg?“, und er antwortet sich selbst: „Er ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen.“ Meistens, so Zhadan, rieche sie verbrannt.
Von dem franco-karibischen Arzt und Autor Frantz Fanon stammt die Beobachtung, dass das Leben unter den Bedingungen der Kolonisierung beim Einzelnen zu einem permanenten Zustand der „Depersonalisierung“ führt. Die eigene Geschichte werde von einer Geschichte überschrieben, die der Kolonisator entwirft, die eigene Überlieferung werde unterdrückt, die eigene Sprache aus dem offiziellen Schriftverkehr des Landes entfernt. Man werde aufgefordert, die Perspektive des Kolonisators einzunehmen, die eigene Kultur für unfertig und roh zu halten, die Kultur des Kolonisators für überlegen und entwickelt. Man wird eingeladen, im Kulturraum des Kolonisators aufzugehen, und das schließt unter anderem ein, das Eigene für minderwertig zu halten und die Besatzung als Befreiung zu begrüßen. „Depersonalisierung“ bedeutet, sich selbst abhanden zu kommen.
Die Ukraine weiß sehr genau, wovon Fanon hier spricht. Seit der Regentschaft Katharinas der Großen im 18. Jahrhundert werden die ukrainische Kultur und Sprache in ihrem eigenen Staatsgebiet systematisch an den Rand gedrängt und als Spielart des Russischen ausgegeben. Die Literatur wird als bäuerlich stigmatisiert, die Nationalgeschichte als Wahnvorstellung.
In Fanons Heimat, dem französischen Überseegebiet Martinique, wurde die Sklaverei im Jahr 1848 abgeschafft, aber anders als in Tahiti, wo der Sklavenaufstand unter Toussaint Louverture zum Ende der Sklaverei geführt hatte, wurde die Freiheit in Martinique nicht erkämpft, sondern von den französischen Kolonisatoren gewährt. Fanon hat das immer als Schmach empfunden, weil er glaubte, dass man echte Freiheit nur erlangt, wenn man durch den kathartischen, körperlichen Prozess des Kampfes gegangen ist, mit dem man sich eine Freiheit zu seinen eigenen Bedingungen erstreitet, und sie nicht entgegennimmt wie ein Almosen.
Die Ukraine führt diesen Kampf heute, obwohl sie ihn nicht gewollt hat. Bis zum Jahr 2014 war die Ukraine im Begriff, die Freiheit auf ihre eigene Weise zu erlangen. Nicht mit einem bewaffneten Aufstand, noch indem sie sich mit einer Freiheit unter Vorbehalt zufrieden gab, die ihr von einem Besatzer, der sich als Bruder ausgab, gewährt wurde. Innerhalb von drei Jahrzehnten hatte sich eine neue Literatur erhoben, ein neues öffentliches Bewusstsein entwickelt, eine neue Bürgergesellschaft, die den Fürsten schließlich aus dem Palast jagte. Und der Dichter, der der Freiheitsraserei der Perestroika nicht nur in der Ukraine, sondern über ganz Osteuropa hinaus, eine Sprache verlieh, war Serhij Zhadan.
„Was ändert der Krieg? Er ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen.“ Meistens, so Zhadan, rieche sie verbrannt.
Das Vokabular des Krieges sei ein „schwarzes Vokabular“, schreibt er weiter, es erweitere den Wortschatz um Dutzende neue Wörter, von denen jedes einzelne nichts anderes als Tod bedeute.
Die Themen und Motive, die Zhadan in seinen Gedichten aus dem Donbas beschreibt, münden zwei Jahre später in dem Roman „Internat", dessen deutsche Übersetzung 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Der etwas träge seinen Routinen nachgehende Protagonist findet sich darin eines Tages umtost von einem brutalen Krieg wieder, den er am liebsten an sich vorbeiziehen lassen würde, aber Passivität ist unter den Bedingungen dieses Krieges keine Möglichkeit, wenn man zufällig ein Mensch ist. Der Krieg sei wie Giftmüll, hat Zhadan geschrieben - er erreiche jeden, der in Flussnähe wohnt.
Und fast hat man den Eindruck, der Protagonist in „Internat“ wäre lieber kein Mensch, um sich in diesen Krieg nicht verwickeln zu müssen, aber er hat einen Neffen am anderen Ende der Stadt und er hat ein Herz, also rafft er sich auf, erhebt sich im doppelten Sinne - von der Couch und gegen den namenlosen Besatzer - macht sich auf den Weg durch das Kriegsgebiet, überwindet Verhaftungen, Nächte im Freien, Gefechte, um seinen Neffen aus dem Internat zu holen.
Wie eine Allegorie auf die Ukraine selbst findet er im Ausnahmezustand zu seinem Charakter. Er durchläuft eine Metamorphose, findet zu einem neuen Bewusstsein und einem neuen Selbstbild, und der Dichter, der dieses Bewusstsein eine neue Sprache findet, heißt Serhij Zhadan.
Wieder kann man an Fanon denken, den großen Stichwortgeber der nationalen Selbstbestimmung, und sein Diktum: „Die Gewalt ist es, mit der sich der Kolonialisierte seine Menschlichkeit zurückerobert.“ Auch bei Zhadan ließen sich Anhaltspunkte für dieses Axiom finden. Man läge weit daneben. In „Internat“ hat der Krieg kein Ziel, keinen höheren Sinn. Er ist eine sinnlose Raserei, ein Riss in der Zeit.
Zhadan ist kein Axiomatiker, kein Ideologe, und wenn er Aufrufe formuliert, dann geht es nicht um nationalgeschichtliche Großentwürfe, sondern um das Konkrete und akut Anliegende, darum, Medizin, Verbandszeug oder Generatoren in die Gebiete liefern zu lassen, in denen sie am meisten gebraucht werden. Zhadan teilt die Welt nicht in Schwarz und Weiß, das macht die Welt schon ganz von allein, der Dichter bezeugt diesen Zerfall als teilnehmender Beobachter.
Die Leser seiner Gedichte, seiner Romane und Tagebuchaufzeichnungen dürfen erleben, wie sich bei diesem Zerfall nicht nur die Sprache ändert, sondern auch die Gerüche und die Farben - sie sehen, wie die Welt selbst zerfällt. Wie Menschen, die sich eben noch friedlich in ihren Häusern befunden haben, sich auf einmal mit Handschellen gefesselt in improvisierten Kellergefängnissen wiederfinden. Wie Krankenhäuser auf einmal ohne Ärzte dastehen, weil diese über Nacht getürmt sind und die Patienten zurückgelassen haben. Wie Städte von der Landkarte verschwinden und es dort, wo eben noch eine Stadt gewesen ist, jetzt nur noch verbrannt riecht, nach dem Duft der Geschichte.
Sie sehen, wie die instrumentelle Sprache der Politiker, der Heeresleitung, der Wirtschaftsbosse mit der brennenden Welt zugrunde geht, wie sie zur Sprache der Propaganda und der Lüge wird. Sie sehen aber auch eine Sprache, die nicht funktional oder instrumentell ist, die Sprache der Literatur, die sich weigert, sich mit in den Abgrund reißen zu lassen. Diese Sprache findet im Chaos Momente dramaturgischer Ordnung, sie bändigt die sinnlose Gewalt in Rhythmus, sie kanalisiert das Entsetzliche in Texte, die auf eine bestürzende Art schön sind. Diese Sprache birgt das Menschliche und das Nahbare, in ihr überdauert das Wahrhaftige, sie lässt den Faden zum Fragilen und Zarten nicht abreißen. Auf diese Weise wird diese Sprache zum Symbol der Hoffnung und wir verdanken diese Sprache dem großen Dichter Serhij Zhadan.
Vielen Dank.
Vorgetragen am 2. Juli 2024 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Serhij Zhadan durch die Ukrainische Freie Universität München.