Unterwegs mit Koffern voll Angst

Natalka Sniadanko

Eigentlich hatten wir zwei Koffer. Einen grellgelben und einen knallroten. Einer hatte vier Räder, der andere zwei. Eines der vier Räder klemmte von Anfang an, aber ich hatte keine Zeit, es zu reparieren und verwendete den Koffer, ständig gegen den Widerstand des quietschenden Rädchens ankämpfend. Als ich endlich Nähmaschinenöl kaufte, um das Rädchen zu ölen, hatte es sich schon zur Hälfte abgerieben. Unentschlossen rollte ich den gelben Koffer hin und her und konnte mich nicht entscheiden, ob ich das Rädchen ölen oder den Koffer wegwerfen sollte. Das Rädchen quietschte kläglich. Beim nächsten Schritt begann mein Knie zu quietschen. In letzter Zeit quietscht es ständig, besonders beim Stufensteigen. Mein Physiotherapeut sagt, meine vordere Oberschenkelmuskulatur sei verkürzt, drücke folglich auf das Knie und könne es mit der Zeit verformen, wenn man die Muskulatur nicht dehne und die Spannung nicht reduziere. Meine Psychotherapeutin meint, Knieschmerzen seien eine häufige Begleiterscheinung von heftigen Emotionen, Sorgen und Stress. Plötzlich tut es mir um den Koffer leid, der so ähnlich quietscht wie mein Knie. Ich stelle den Koffer in eine Ecke und funktioniere ihn zu einem Depot für meine Winterkleidung um. Und im Winter dann für meine Sommerkleidung.
Wir haben nicht viele Sachen mit. Das liegt auch daran, dass wir sie nicht als Notfallkoffer packten, sondern für einen glücklichen Familienurlaub übers Wochenende in Krakau. Der Urlaub sollte zwei Tage dauern, nun zieht er sich bereits über Monate. Ich denke oft an jede Einzelheit dieser Reise zurück, denn sie wurde zur letzten Reise unseres früheren Lebens, in das wir nie wieder zurückkehren werden.
An jenem Morgen packen wir unsere Sachen, frühstücken in Ruhe, stecken auch noch ein paar Brettspiele in die Tasche, das Inhalationsgerät und noch andere völlig nutzlose Dinge. Danach fahren wir zum Antigen-Test, dessen Ergebnis wir an der Grenze vorweisen müssen. Während meine Tochter und ich auf das Testergebnis warten, kaufen mein Mann und mein Sohn in einer Bäckerei Croissants für die Reise. Mit den Testergebnissen machen wir uns auf den Weg zur Grenze. Kurz vor der Grenze bleiben wir bei einer Apotheke stehen; meine Tochter hat nach ihrer COVID-Erkrankung – die ganze Familie hat die Krankheit kürzlich durchgemacht – einen Schnupfen, der nicht ausheilen will. Ich kaufe noch ein paar Medikamente.
Die Grenze ist menschenleer, nur ein paar Autos warten. Es ist ein ungewöhnliches Bild, wir sind lange nicht hier gewesen, offensichtlich hat sich die Situation an der Grenze in der Zwischenzeit geändert, es gibt keine Warteschlange mehr. Wir passieren den ukrainischen Grenzposten, am polnischen zeigen wir unsere Pässe, die Testergebnisse und Impfzertifikate.
„Ich kann diese Schrift nicht lesen“, beklagt sich der Grenzbeamte in gebrochenem Ukrainisch über das Kyrillisch auf unseren Impfzertifikaten.
Ich zeige ihm die Bezeichnung des Impfstoffs in lateinischen Buchstaben. Er setzt den Einreisestempel zuerst in meinen Pass, dann in den Pass meines Mannes, als nächstes in den meiner Tochter. Als der Grenzbeamte das Impfzertifikat meines 18-jährigen Sohns kontrolliert, verfinstert sich sein Blick und er teilt uns mit, dass dieser Impfstoff in Polen nicht anerkannt wird. Wir wundern uns, schließlich war unser Sohn mit dieser Impfung schon in anderen EU-Ländern unterwegs, außerdem hat er jetzt zusätzlich ein gültiges negatives Testergebnis und ein Zertifikat über die kürzlich durchgemachte COVID-Erkrankung. Doch all das verändert den strengen Gesichtsausdruck des Grenzbeamten nicht.
„Quarantäne oder umdrehen“, sagt er und gibt uns ein paar Minuten um nachzudenken.
Wir beratschlagen uns und beschließen weiterzufahren. Schließlich kann die Quarantäne auf wenige Tage verkürzt werden, indem man einen weiteren Test macht; danach würden wir nach Hause zurückkehren. Auf der Weiterfahrt wird unser Sohn nervös. Am Donnerstag, den 24. Februar, hat er in Lwiw ein wichtiges Treffen mit Freunden, das er keinesfalls verpassen will. Er studiert die Quarantänebestimmungen und sagt, dass nirgends die Möglichkeit einer frühzeitigen Beendigung der Quarantäne erwähnt wird. Auch mein Mann beginnt zu zweifeln und überlegt mit unserem Sohn umzukehren. Eine Zeit lang diskutieren wir, doch es überwiegt die Meinung, dass es keinen Sinn macht umzukehren, da er sich ohnehin schon in Quarantäne befindet. Es ist also egal, wann wir die Quarantäne verletzten, jetzt oder am Montag, dem Tag unserer geplanten Heimreise. Wir fahren weiter nach Krakau.
Das ganze Wochenende über und am Montag versuchen wir und unsere Freunde, bei denen wir zu Besuch sind, herauszufinden, wie man die Quarantäne vorzeitig beenden kann. Am Dienstag in der Früh stellt sich heraus, dass das nicht möglich ist. Mein Mann beschließt, nach Hause zu fahren und uns in ein paar Tagen abzuholen. Er reist überstürzt ab, ohne sich zu verabschieden, denn er ahnt nicht, dass er nicht wird zurückkommen können.
Am Mittwochabend gehe ich mit meiner Freundin ins Kino „Kyjiw“ in Krakau. Nach dem Film sitzen wir lange zusammen und unterhalten uns. Ich bekomme eine E-Mail von einer Bekannten in Budapest, die schreibt, dass sie und ihr Mann demnächst für einen Monat nach Deutschland fahren werden. Ihre Wohnung wird frei sein. Sie bietet mir an, den März dort zu verbringen, am besten mit der ganzen Familie, eine Art Urlaub. Ich schreibe es meinem Mann. Er antwortet, dass er uns nach Budapest bringen könne, wenn ich das wolle, er aber werde nicht im Ausland bleiben.
An jenem Abend konnte ich nicht einschlafen. Und schon am nächsten Morgen suchte ich für meine Bekannten in Charkiw eine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, und eine Unterkunft für andere Bekannte, die Sumy verlassen hatten. Seitdem suche ich ständig irgendetwas: eine Unterkunft im Ausland, eine Unterkunft in Lwiw, Helme, Wärmebildkameras, kugelsichere Westen.
Das Notfallgepäckstück sollte eigentlich ein Rucksack und kein Koffer sein. Darüber, was in diesen Notfallrucksack gehörte, informierten die ukrainischen Medien den ganzen Januar und Februar über fast täglich: ein Radio, Batterien, oder ein Tastentelefon mit Radio-Funktion, ein Handy mit Ladekabel und Powerbank, ein wasserdichter Kompass, eine wasserdichte Uhr, wiederaufladbare AAA-Batterien, 18650-Akkus, eine Stirnlampe, eine Taschenlampe, eine Pfeife. Nichts davon hatten wir dabei. Dafür Brettspiele und ein Inhalationsgerät.
Von Krakau nach Budapest fuhren wir mit dem Bus. Unsere Bekannten, bei denen wir die Quarantäne verbrachten, bekamen dauernd Anrufe von Freunden, die ihnen mitteilten, dass sie ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hätten.
„Vielleicht fahrt ihr doch nicht nach Budapest?“, scherzte meine Freundin. „Sonst haben alle normalen Leute ukrainische Geflüchtete aufgenommen, nur wir sitzen hier alleine im leeren Haus.“
Knapp vor Abfahrt des Busses ruft mich eine andere Krakauer Freundin an, in letzter Sekunde kommt sie zum Bus gelaufen und gibt uns drei Tüten mit Essen für die Fahrt: ukrainische Pancakes mit Äpfeln und einen feinen Salat mit Granatapfel.
Im Bus sind viele Ukrainerinnen. Sie rufen ihre Kinder an und vereinbaren Treffen in Deutschland, Frankreich, Spanien. Auch wir vereinbaren ein Treffen, mit unseren Budapester Freunden. Sie holen uns vom Busbahnhof ab, versorgen uns mit einem Abendessen, zeigen uns alles in der Wohnung und verschwinden zeitig am nächsten Morgen, ohne uns aufzuwecken.
In den ersten zwei Wochen in Budapest verspürte ich eine skurrile Erleichterung. Besser gesagt eine Verschiebung der Sorgen. Während uns in den letzten Wochen ja sogar Monaten die Vorahnung, dass jeden Moment das Schlimmste eintreten konnte, unendlich gequält hatte, verschwand diese Angst nun, da es eingetreten war, und wurde von einer anderen abgelöst: Wie geht es den Eltern, den anderen Verwandten, Bekannten und Freunden? Jeder Luftalarm bedeutete neue Angst, aber sie war anders, in ihr steckte mehr Zorn, Hass und der Wunsch, dass all das bald vorbei ist. Damals glaubten noch alle daran, dass es bald vorüber sein würde. Nicht in drei Tagen, aber bis Ende März wahrscheinlich.
In diesen Tagen musste ich ständig auf Briefe und Nachrichten in verschiedenen sozialen Netzwerken antworten, ständig kamen Anrufe. Sogar Bekannte, mit denen ich jahrelang keinen Kontakt gehabt hatte, meldeten sich. Alle sind besorgt und bieten ihre Hilfe an. Viele sprechen von einer „längerfristigen Option“. Zunächst lasse ich den Gedanken an eine längerfristige Option nicht an mich heran, aber die Tage vergehen und mit ihnen schwindet meine Überzeugung, dass alles bald vorüber sein würde.
Dann kommt ein Angebot, das ich annehme.
„Wir fahren nach Marbach“, sage ich zu den Kindern. „Dort werdet ihr in die Schule und zur Uni gehen, ich werde arbeiten und ein Stipendium haben. Wir bekommen auch eine Wohnung.“
„Für lange?“, fragen die Kinder und erwarten keine Antwort. Sie verstehen, dass niemand die Antwort kennt.
Von Budapest nach Marbach nehmen wir den Zug. Im Waggon bittet eine erschöpfte Mutter mit drei Koffern und einem kleinen Kind einen jungen Mann, der in Budapest zugestiegen ist, auf Russisch:
„Bitte helfen Sie mir, die Koffer hinaufzuheben!“
Der junge Mann sieht sie verwundert an, versteht sie offenbar nicht.
„Was ist los, verstehst du eine anständige Sprache nicht?“, fährt ihn die Frau gereizt an und versucht selbst, den schweren Koffer in die Gepäckablage zu hieven. Als der junge Mann das sieht, geht er ihr sofort zur Hand.
Später stellt sich heraus, dass sie aus Odesa und die ebenfalls russischsprachige Frau neben ihr aus Kyjiw ist.
„Sie sprechen ein wunderschönes Russisch“, macht die Frau aus Kyjiw jener aus Odesa ein Kompliment.
„Ihr Russisch ist auch sehr rein“, antwortet die Frau aus Odesa mit einem Gegenkompliment. Dann fragt sie geschäftig: „Hat man Ihnen auch Plätze in verschiedenen Waggons gegeben? Mein Sohn und ich sind in verschiedenen Waggons, stellen Sie sich das vor! Er ist zwei. Wie soll er in einem anderen Waggon sitzen?“
„Wir haben unsere Tickets gekauft, deshalb passt alles“, antwortet die Kyjiwerin.
„Klar, aber man bekommt sie ja auch gratis. Ich habe nur drei Euro für die Reservierung aufgezahlt, aber Plätze in verschiedenen Waggons bekommen. Eine Unverschämtheit!“
Dann wendet sich die Frau aus Odesa an uns:
„Fahren Sie auch nach München?“
Ich nicke.
„Wie oft müssen Sie umsteigen? Ich dreimal.“
Ich erkläre ihr, dass auch wir unsere Tickets gekauft haben und deshalb nicht umsteigen müssen. Die beiden Frauen tauschen ihre Eindrücke darüber aus, was sie in ihrer kurzen Zeit als Flüchtlinge in Europa am meisten gewundert hat. Für mich enthält die Aufzählung nichts Neues: Sie wissen nicht, wo sie ihre Gelnägel entfernen lassen können, verstehen nicht, wieso die Europäerinnen so wenig auf ihr Äußeres achten und wieso sie keine Markenkleidung tragen, außerdem beklagen sie sich darüber, dass es in den Alpen zwar schön sei, aber All-inclusive in der Türkei doch besser.
Marbach erreichen wir spät am Abend. Wir beziehen zwei kleine Zimmer in einem Haus, in dem Wissenschaftler untergebracht werden, die anreisen, um hier im Archiv zu forschen. Es ist etwas zwischen Studentenwohnheim und Hotel. In einem der beiden Zimmer gibt es einen Herd und einen winzigen Kühlschrank, außerdem ein Badezimmer. Im anderen Zimmer ist ein bisschen mehr Platz. Die Kinder suchen sich das kleinere Zimmer aus, denn dort haben sie alles, was sie brauchen. Mir bleibt das größere. In der Nacht wache ich auf und gehe einen Stock tiefer zur Toilette, um die Kinder nicht zu wecken. Im Messenger sehe ich eine Nachricht von meinem Mann: „Ich habe unser Auto den Volontären überlassen und mich zum Militärdienst gemeldet. Ab morgen bin ich am Übungsgelände. In unserer Wohnung wohnen Geflüchtete. Küsschen.“

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Maria Weissenböck