Sie kam aus Mariupol

Natascha Wodin

Lesung in Mariupol

Über Mariupol wusste ich zu dieser Zeit so gut wie nichts. Auf der Suche nach meiner Mutter war es mir nie in den Sinn gekommen, mich über die Stadt kundig zu machen, aus der sie stammte. Mariupol, das vierzig Jahre lang Shdanow hieß und erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder seinen alten Namen erhielt, blieb ein innerer Ort für mich, den ich niemals dem Licht der Wirklichkeit aussetzte. Seit jeher war ich im Ungefähren zu Hause, in meinen eigenen Bildern und Vorstellungen von der Welt. Die äußere Wirklichkeit bedrohte dieses innere Zuhause, und deshalb wich ich ihr nach Möglichkeit aus.

Mein ursprüngliches Bild von Mariupol war davon geprägt, dass in meiner Kindheit niemand zwischen den einzelnen Staaten der Sowjetunion unterschied, alle Bewohner ihrer fünfzehn Republiken galten als Russen. Obwohl Russland im Mittelalter aus der Ukraine hervorgegangen war, aus der Kiewer Rus, die man die Wiege Russlands nannte, die Mutter aller russischen Städte, sprachen auch meine Eltern so über die Ukraine, als wäre sie ein Teil von Russland – dem größten Land der Welt, sagte mein Vater, ein gewaltiges Reich, das von Alaska bis nach Polen reichte und ein Sechstel der gesamten Erdoberfläche einnahm. Deutschland war dagegen nur ein Klecks auf der Landkarte.

Das Ukrainische ging für mich im Russischen auf, und wenn ich mir meine Mutter in ihrem früheren Leben in Mariupol vorstellte, sah ich sie immer im russischen Schnee. Sie ging in ihrem altmodischen grauen Mantel mit dem Samtkragen und den Samtstulpen, dem einzigen Mantel, den ich je an ihr gesehen hatte, durch dunkle, eisige Straßen in irgendeinem unermesslichen Raum, durch den seit Ewigkeiten der Schneesturm fegte. Der sibirische Schnee, der ganz Russland und auch Mariupol bedeckte, das unheimliche Reich der ewigen Kälte, in dem die Kommunisten herrschten.

Meine kindliche Vorstellung vom Herkunftsort meiner Mutter überdauerte Jahrzehnte in meinen inneren Dunkelkammern. Auch als ich längst wusste, dass Russland und die Ukraine zwei verschiedene Länder waren und die Ukraine rein gar nichts mit Sibirien zu tun hatte, berührte das mein Mariupol nicht – obwohl ich nicht einmal Gewissheit darüber besaß, ob meine Mutter wirklich aus dieser Stadt kam oder ob ich ihr Mariupol angedichtet hatte, weil mir der Name so gut gefiel. Manchmal war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob es eine Stadt dieses Namens überhaupt gab oder ob sie eine Erfindung von mir war wie so vieles andere auch, das meine Herkunft betraf.

Eines Tages, als ich beim Blättern in einer Zeitung auf den Sportteil stieß und schon weiterblättern wollte, fiel mein Blick auf das Wort Mariupol. Eine deutsche Fußballmannschaft, so las ich, war in die Ukraine gereist, um gegen Iljitschewez Mariupol zu spielen. Allein die Tatsache, dass die Stadt eine Fußballmannschaft hatte, war so ernüchternd, dass mein inneres Mariupol sofort zerbröckelte wie ein modriger Pilz. Nichts auf der Welt interessierte mich weniger als Fußball, aber ausgerechnet der stieß mich zum ersten Mal auf das wirkliche Mariupol. Ich erfuhr, dass es sich um eine Stadt mit ausgesprochen mildem Klima handelte, eine Hafenstadt am Asowschen Meer, dem flachsten und wärmsten Meer der Welt. Es war von langen und weiten Sandstränden die Rede, von Weinhügeln, endlosen Sonnenblumenfeldern. Die deutschen Fußballer stöhnten unter den Sommertemperaturen, die sich der Vierzig-Grad-Marke näherten.

Die Wirklichkeit erschien mir viel unwirklicher als meine Vorstellung von ihr. Zum ersten Mal seit ihrem Tod wurde meine Mutter zu einer Person außerhalb von mir. Statt im Schnee sah ich sie plötzlich in einem leichten, hellen Sommerkleid auf einer Straße von Mariupol gehen, mit nackten Armen und Beinen, die Füße in Sandalen. Ein junges Mädchen, das nicht am kältesten und dunkelsten Ort der Welt aufgewachsen war, sondern in der Nähe der Krim, an einem warmen südlichen Meer, unter einem Himmel, der vielleicht dem über der italienischen Adria glich. Nichts erschien mir so unvereinbar wie meine Mutter und Süden, meine Mutter und Sonne und Meer. Ich musste alle meine Vorstellungen von ihrem Leben in eine andere Temperatur, in ein anderes Klima übertragen. Das alte Unbekannte, es hatte sich in ein neues Unbekanntes verwandelt.

S. 11 – S. 14 in der Buchausgabe

[…]

Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. Niemand hatte es mir gesagt, nicht meine Eltern, nicht die deutsche Umwelt, in deren Erinnerungskultur das Massenphänomen der Zwangsarbeit nicht vorkam. Jahrzehntelang wusste ich nichts von meinem eigenen Leben. Ich hatte keine Ahnung, wer all die Leute waren, mit denen wir in verschiedenen Nachkriegsghettos zusammenwohnten, wie sie nach Deutschland gekommen waren: all die Rumänen, Tschechen, Polen, Bulgaren, Jugoslawen, Ungarn, Letten, Litauer, Aserbaidschaner und viele andere, die sich trotz babylonischer Sprachverwirrung irgendwie untereinander verständigten. Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war. In der deutschen Schule hatte man uns beigebracht, dass die Russen Deutschland überfallen, alles zerstört und den Deutschen ihr halbes Land weggenommen hätten. Ich saß in der hintersten Reihe, neben Inge Krabbes, mit der auch niemand etwas zu tun haben wollte, obwohl sie eine Deutsche war, aber sie trug schmuddelige Kleider und roch schlecht, und die Lehrerin vorn am Pult erzählte, dass die Russen ihrem Verlobten die Augen mit glühenden Kohlen ausgebrannt und kleine Kinder mit ihren Stiefeln zertreten hätten. Alle Köpfe drehten sich nach mir um, selbst Inge Krabbes rückte ein Stück von mir ab, und ich wusste, nach Schulschluss würde wieder die Jagd beginnen.

Meine Lügen konnten mir längst nicht mehr helfen, ich zählte nicht nur zu den russischen Barbaren, sondern war längst als Hochstaplerin enttarnt. Um mich in den Augen der deutschen Kinder aufzuwerten, hatte ich ihnen erzählt, meine Eltern, für die ich mich so schämte, seien gar nicht meine wirklichen Eltern, sie hätten mich auf ihrer Flucht aus Russland im Straßengraben gefunden und mitgenommen, in Wirklichkeit würde ich aus einer reichen russischen Fürstenfamilie stammen, die Schlösser und Güter besaß, wobei ich zu erklären versäumte, wie ich als Fürstenkind in den Straßengraben geraten war, aber für einen Tag oder ein paar Stunden war ich ein verkanntes, geheimnisvolles Wesen, das die staunende Bewunderung der deutschen Kinder genoss. Irgendwann durchschauten sie mich natürlich, und dann jagten sie mich erst recht, die kleinen Rächer des untergegangenen Dritten Reiches, die Kinder der deutschen Kriegerwitwen und Naziväter, sie jagten sämtliche Russen in meiner Gestalt, ich war die Verkörperung der Kommunisten und Bolschewiken, der slawischen Untermenschen, ich war die Verkörperung des Weltfeindes, der sie im Krieg besiegt hatte, und ich rannte, rannte um mein Leben. Ich wollte nicht sterben wie Dschemila, die kleine Tochter der Jugoslawen, die die deutschen Kinder auch gejagt und eines Tages in die Regnitz gestoßen hatten, in der sie dann ertrunken war. Ich lief und zog eine Woge von Kriegsgeheul hinter mir her, aber ich war eine geübte Sprinterin, inzwischen hatte ich beim Laufen nicht einmal mehr Seitenstechen, sodass es mir meistens gelang, meine Verfolger abzuhängen. Nur bis zu den Kiesgruben musste ich kommen, wo die Grenze zwischen der deutschen Welt und der unseren verlief, hinter den Kiesgruben begann unser Hoheitsgebiet, unsere Terra incognita, auf die außer der Polizei und dem Briefträger noch nie ein Deutscher seinen Fuß gesetzt hatte, auch die deutschen Kinder trauten sich nicht dorthin. Vorn bei den Kiesgruben ging von der asphaltierten Straße ein Trampelpfad ab, der zu den «Häusern» führte. Ich wusste nicht, warum die Deutschen unsere steinernen Blocks so nannten, «Häuser», vielleicht war es die Unterscheidung zwischen uns und den Zigeunern, die noch weiter draußen in Holzbaracken wohnten. Sie standen noch eine Stufe unter uns und lösten in mir ein ähnliches Grausen aus wie wir wahrscheinlich in den Deutschen.

Sobald ich die magische Grenze passiert hatte, war ich in Sicherheit. Hinter der Kurve, wo meine Verfolger mich nicht mehr sehen konnten, ließ ich mich ins Gras fallen und wartete, bis mein rasendes Herz sich beruhigt hatte, bis ich wieder atmen konnte. Für diesen Tag hatte ich es geschafft, an den nächsten dachte ich jetzt noch nicht. Ich trödelte so lange wie möglich, trieb mich an den Flussauen herum, ließ flache Steine über das Wasser der Regnitz springen, stopfte mir Sauerampfer in den Mund, nagte die rohen Futtermaiskolben ab, die ich von den Feldern stahl. Ich wollte nie nach Hause. Ich wollte weg, immer nur weg, seit ich denken konnte, meine ganze Kindheit wartete ich nur aufs Erwachsenwerden, damit ich endlich wegkonnte. Ich wollte weg aus der deutschen Schule, weg aus den «Häusern», weg von meinen Eltern, weg von allem, das mich ausmachte und mir vorkam wie ein Versehen, in dem ich gefangen war. Selbst wenn ich hätte wissen können, wer meine Eltern und all die anderen waren, zu denen ich gehörte, ich hätte es nicht wissen wollen, es interessierte mich nicht, nichts weniger als das, ich hatte damit nichts zu tun. Ich wollte nur weg, nichts wie weg, alles für immer hinter mir lassen, mich endlich losreißen in mein eigenes und eigentliches Leben, das mich irgendwo draußen in der Welt erwartete.

S. 24 bis S. 27 der Buchausgabe

[…]

Es gibt Arbeitskolonnen, die selbständig gehen dürfen, und es gibt solche, die von Wachpersonal begleitet, durch Beschimpfungen und Prügel angetrieben werden. In den Straßen klappern die Holzschuhe, die die Frauen an den Füßen tragen. Die gefürchteten Holzschuhe, zu denen es keine Alternative gibt, wenn die eigenen, von zu Hause mitgebrachten Schuhe abgetragen sind. Dann bleiben nur die Holzschuhe, die man teuer bei der Betriebsleitung kaufen muss, die schiffchenartigen, harten Pantinen, die die Füße deformieren, bei jedem Schritt schmerzen und scheuern. Wenn man Pech hat, bilden sich an den Füßen Entzündungen und Geschwüre, und wer seinen Weg zum Arbeitsplatz nicht mehr schafft, wer krank wird, läuft schnell Gefahr, ausgesondert zu werden und zu sterben. Einige Frauen nehmen die Schuhe in die Hand und gehen barfuß, weil sie sonst das Tempo nicht halten könnten. Manchmal singen sie leise beim Gehen, das Singen sind sie gewohnt von zu Hause, dort singt man fast immer, auf den Feldern, in den Wohnungen, auf den Straßen. Auch meine Mutter singt, mit ihrer schönen, hellen Sopranstimme, mit der ich sie später noch so oft werde singen hören, jetzt ist es wohl mehr ein Summen, wie Franz Fühmann es hörte auf dem ukrainischen Bahnhof, bevor die Frauen in die Viehwaggons verladen wurden. Sie trägt ein Kopftuch wie alle Frauen, vielleicht noch ein eigenes, aus Mariupol mitgebrachtes Kleid. Aber vielleicht sind ihre Sachen auch schon durchgescheuert, zerrissen, und an ihrem mageren, halb verhungerten Körper schlottert ein Arbeitsanzug aus dunklem Drillich, an den Füßen das starre, scheuernde Holz. Werden die deutschen Anwohner der Straßen, durch die sich die Kolonnen der Zwangsarbeiter auf dem Weg zur Arbeit bewegen, nicht Morgen für Morgen geweckt von dem Geklapper der vielen Holzschuhe draußen auf dem Pflaster?

In der Werkhalle erwartet sie ein zwölfstündiger Arbeitstag. Ich erinnere mich an den ständigen Streit zwischen ihr und meinem Vater, der verlangte, dass sie arbeiten gehen sollte, um Geld dazuzuverdienen wie die meisten anderen Frauen in den «Häusern». Sie weinte, weil sie sich dazu nicht in der Lage fühlte. Wahrscheinlich hatte das Arbeitslager ihre Gesundheit und ihre Nerven für immer ruiniert, allein das Wort Fabrik löste bei ihr Panik aus. Einmal versuchte sie es trotzdem, sie ließ sich in einer Rollladenfabrik anstellen, aber nach einer Woche brach sie zusammen.

 S. 267 bis S. 268 der Buchausgabe

Auszug aus: Natascha Wodin, „Sie kam aus Mariupol“ 
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