Mariupol. Tagebuch einer Überlebenden

Oksana Stomina

10. März 2022

Die Luftangriffe heute sind einfach unglaublich. Gestern hatten wir noch gedacht: heftiger geht es nicht. Doch heute wurde uns gezeigt, dass die Monstrosität der Okkupanten keine Grenzen kennt.
Unter denen, die uns heute beschießen, befinden sich wahrscheinlich auch die Söhne meiner engsten Studienfreundinnen. Ich bin mir fast sicher, denn ich weiß, dass sie Berufsoffiziere der Raketentruppen sind. Ich lausche den Geräuschen des Krieges und unter denen, die sie verursachen, stelle ich mir den Schönling Roman vor, dessen Kinderfoto immer noch in meiner Kommode liegt, in der zweiten Schublade von unten. Es wäre fast lustig, sollte er auf sein eigenes Porträt zielen…
Aber es ist nicht lustig, zu wissen, wie viele Menschen in Mariupol bereits getötet wurden. Gestern wurden zwei meiner Freunde Zeugen eines Einschlags in ein Hochhaus im Stadtzentrum. Nach dem Beschuss haben die Jungs den Verletzten im Gebäude geholfen und die Leichen von der Straße nebenan „aufgeräumt“. Während der Beschuss andauerte, legten sie die Toten in eine Reihe nebeneinander.
Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es unseren Leuten gelungen ist, aber heute haben sie einen raschistischen Flieger abgeschossen. Mit höchster Präzision, damit er nicht auf die Wohnhäuser fällt. Stattdessen fiel er in eine Einöde. Der Pilot hat sich hinauskatapultiert und versteckt sich nun irgendwo in der Stadt. Ich möchte ihn sehen. Ich möchte ihn an der Kehle packen und… Nein, nicht erwürgen. Sondern ihm in die Augen sehen, ihn fragen, was er, Monster, gefühlt hat, als er getötet hat. Möchte schreien: „Was du gefühlt hast, habe ich gefragt?!“.
Und dann sein Gesicht in die menschlichen Überreste stecken, in abgerissene Kinderarme, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte kleine Körper, ihn vor ihnen auf die Knie stellen. Und das fotografieren. Und das Fot dann seiner Frau und seinen Kindern schicken. Damit sie es an die Wand über dem Bett hängen. Sollen sie doch jeden Tag sehen, was für ein Mist ihr Vater und Ehemann ist, und sich jeden Morgen und vor dem Schlafengehen übergeben. Und den Mist vors Gericht stellen.
Verdammt, ist das alles, wozu ich fähig bin? Ja, mit den Russen könnte ich mich wohl nicht in Grausamkeit messen.

Die Verstorbenen werden in einem Gemeinschaftsgrab auf einem alten, historischen und lange konservierten Friedhof im Stadtzentrum beerdigt. Im besten Fall werden sie in Stoff gewickelt und in den Graben geworfen. Oder auch ohne den Stoff. Dann werden sie einfach so, wie sie sind, an den Händen und Füßen gepackt, geschaukelt und hineingeworfen… Wenn sie Glück haben. Manche Leichen oder Teile von ihnen bleiben auf den Straßen oder unter Ruinen liegen.
Ich habe schon aufgehört zu zählen, wie viele Tage diese neue, aktive Phase des russischen Krieges in der Ukraine und die Belagerung meiner Heimatstadt anhält. Obwohl wir uns in den letzten acht Jahren daran gewöhnt haben, an der Frontlinie zu leben, wirkt sogar auf uns alles, was gerade passiert, surreal. Mein Gehirn weigert sich, zu glauben, was meine Augen sehen. Sogar jetzt, während ich mit meinen Hausnachbarn spreche, falle ich plötzlich aus der Realität und es ist so, als betrachte ich alles, was passiert, von außen. Und ich nehme diese Realität nicht an, ich kann nicht, ich will nicht. Und ich denke kraftlos und verwirrt:
„Das ist nicht echt, oder? Das kann einfach nicht sein! Das ist doch nicht meine Stadt, nicht mein Haus, das sind nicht meine Nachbarn? Und das bin doch nicht ich?! Kann mir jemand sagen, dass das nicht ich bin!!!“

Im Freiwilligenzentrum „Halabuda“ ist es psychisch etwas leichter. Erstens hat man keine Zeit zum Nachdenken; zweitens gibt es einem das Gefühl, dass man gegen den Feind kämpfen kann und wir uns diesem Prozess ein wenig anschließen. Drittens, und das ist sehr wichtig, gibt es die Möglichkeit, Informationen zu erhalten. Unsere Freiwilligen, abgesehen von denen, die hier jetzt wohnen, kommen aus verschiedenen Stadtteilen ins „Halabuda“. Jeden Morgen erzählen sie, was sie unterwegs gesehen oder gehört haben.
„Das ist schrecklich“, erzählen Eduard und sein Sohn Wiktor, „die Stadt verändert sich in Echtzeit. Jeden Tag gehen wir denselben Weg – das haben wir so vereinbart, wir haben ja kein Netz, und wenn einer von uns verschwindet, wissen wir so, wo wir ihn suchen müssen. Also… Jeden Tag erkennen wir diese Straßen nicht wieder! Dort, wo wir am Tag zuvor langgelaufen sind, kommt man heute nicht mehr durch. Eine Bombe ist auf die Straße neben dem Hauptpostamt gefallen. Ich weiß nicht, was das für eine Bombe war, aber der Krater ist so breit wie die Straße – die ist nicht mehr befahrbar. Alle Gebäude nebenan sind beschädigt. Noch zwei Bomben sind im Postamt gelandet – einfach mittendrin. Das Gebäude ist ruiniert, hat sich in zwei Stücke geteilt. Wisst ihr schon von der Geburtsklinik?“
Ja, wissen wir schon. Die wurde auch getroffen. Das war gestern. Der Größe des Kraters nach zu urteilen – und der ist so groß wie ein zweistöckiges Haus – war das entweder ein Flugzeug oder sogar eine Rakete, so etwas wie eine „Totschka-U“. Die Geburtsklinik liegt in Schutt und Asche, das Kinderkrankenhaus nebenan ist halb zerstört. Zu der Zahl der Toten haben wir keine genauen Angaben. Wir wissen nur, dass unsere Soldaten sofort den Überlebenden geholfen und sie in ein anderes Krankenhaus gebracht haben.
Eine der Schwangeren hat man versucht zu retten. Sie und ihr Kind. Es wurde ein Kaiserschnitt gemacht, aber es ist nicht gelungen. Das Kind ist noch in Mamas Bauch gestorben. Die junge Frau, die nie eine Mutter wurde, starb auf dem OP-Tisch. Sie war in einem sehr kritischen Zustand, zerfetzt, ein Bein bis zum Oberschenkel abgerissen. Wahrscheinlich hat der Mann meiner Bekannten sie noch vor der Klinik gesehen. In diesem Moment wollte er irgendwelche Dokumente abholen, glaube ich. Und dann kam der Luftangriff. Er hat geholfen, die Verletzten herauszutragen. Er sagte, er sei fast in Ohnmacht gefallen, denn bei einer Frau, die in den Wehen lag, waren Körperteile abgerissen, alles war nach außen gedreht. Man sagt, die Frau habe geschrien und darum gebeten, dass man sie sofort tötet.
Wir hören dem Bericht über den Luftangriff zu und hören dann ein Flugzeug. Es ist irgendwo in der Nähe. Tschitschera befiehlt allen, in den Bunker zu gehen. Nach dem, was wir gerade gehört haben, gehorchen wir und laufen über den Hof ins andere Gebäude. Das ist ein Lager oder eine Produktionshalle einer ehemaligen kleinen Fabrik. Wir gehen hinunter in den Keller, der für einen Bunker eigentlich nicht tief genug ist, doch wir müssen nehmen, was wir kriegen können. Kaum haben wir uns hingesetzt, höre ich: „Oka!“. Ich schaue mich um und sehe Dimka in der Tür stehen. Hurra!
Ich springe auf und renne zu ihm, um ihn zu umarmen. Wir tauchen um die Ecke im riesigen Raum der ehemaligen Werkstatt unter. Dort, eingehüllt in das feuchte Halbdunkel des Kellers, ist es fast gemütlich, fast intim. Wir stehen einfach aneinandergeschmiegt da, doch man könnte fast einen Film darüber drehen. Mischka vergräbt sein Gesicht in meinem Haar, küsst meinen Scheitel. Ich möchte mich überhaupt nicht bewegen, ich möchte bis zum Ende des Krieges in den Armen meines Mannes bleiben. Darf ich?
Nein, ich darf nicht.
„Ich muss los“, flüstert Dimka in mein Haar und leider kann ich ihn hören.
Sehr langsam, wie in der Hoffnung, dass der Krieg schneller beendet ist als unsere Umarmung, hebe ich den Kopf, sehe die unendliche Traurigkeit in den Augen meines Mannes, küsse seine feuchten Augen und lasse ihn los. Er bleibt noch eine Minute. Eine Minute lang schaut er mich im Halbdunkel des Kellers an und sagt plötzlich:
„Niemals! Niemals werde ich ihnen das verzeihen.“

Als ich vom „Halabuda“ zurückkomme, treffe ich neue Leute in unserem Bunker. Es ist eine Familie: er, sie und ihre zehnjährige Tochter. Sie sind aus dem 17. Bezirk hierhergekommen, das ist in der Nähe der westlichen Grenze der Stadt. Die Frau weint, das Mädchen zittert und schmiegt sich an seine Mutter, der Mann erzählt. In ihr neunstöckiges Haus ist eine russische Bombe eingeschlagen. Die Familie hat fast seit Beginn der Ereignisse zusammen mit ihren Nachbarn im Keller gesessen, sie haben dort gewohnt. Als Folge des letzten Beschusses kam Rauch in ihren Keller. Einer der Ausgänge wurde verschüttet. Die Menschen liefen durch den anderen Ausgang hinaus und sahen dann, dass eine Hälfte des Gebäudes fehlte und die andere stark brannte.
„Wir standen einfach mitten auf dem Hof und sahen zu, wie unser Haus brannte. Es gab kein Netz, aber wir hatten sowieso niemanden, den wir anrufen konnten. Ein solches Feuer selbst zu löschen – unmöglich. Also standen wir einfach da, haben geweint und zugesehen… Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Die Hälfte unserer Nachbarn ist dort unter den Trümmern geblieben. Alle neun Stockwerke sind auf sie herabgestürzt. Riesige Platten… Sie wurden einfach zerquetscht, verstehen sie? Und die Kinder! So viele Kinder!“, schrie der Mann fast, doch dann fing er sich wieder, sah zu seiner Tochter und fügte dann flüsternd hinzu: „Und ihre Freundin auch.“

Im Keller herrschte eine Stille, die zäh war die Nebel. Eine solche Stille, dass man glaubte, schweren, langsamen, sehnsüchtigen Schlag vieler Herzen zu hören. Plötzlich fällt mir ein, dass in den letzten 24 Stunden in Mariupol 24 Kinder zur Welt gekommen waren. Das sind die, von denen wir wissen… Sofort nach der Geburt wurden sie Ziele.
„Wie? Wie kann man sie retten?“, frage ich mich. Und habe keine Antwort. Ich kann diesen Horror nicht stoppen. Alles, was ich kann, den Stift in die Hand zu nehmen.

Manuskripte brennen nicht, sagte einst Michail Bulgakow. Aber er hat gelogen. Ich sehe, wie jetzt in Mariupol alles brennt. Ich sehe, wie verwundbar und hilflos eine friedliche Stadt angesichts Barbarei und Zynismus ist. Ich sehe, wie eine ganze Welt zerstört wird, also warum sollten Manuskripte nicht brennen? Doch wenn mein Tagebuch, dieser auf die Schnelle und im Dunkeln kreuz und quer vollgeschriebene Notizblock, unter Beschuss und Bombardierung „überlebt“, nicht im feindlichen Feuer verbrennt, nicht vom direkten Einschlag in Stücke gerissen wird, nicht unter Trümmern begraben, im Massengrab beerdigt oder zusammen mit meinem Rucksack von Plünderern gestohlen wird, die in dem Chas ihr Unwesen treiben, dann will ich, dass es aus dieser Hölle die lebendige, von Propaganda unbeschädigte Wahrheit herausträgt. Die Wahrheit darüber, welches Ausmaß stumpfe Grausamkeit annehmen kann, die methodisch der russischen Gesellschaft aufgezwungen und dann jenseits der Grenzen Russlands angewandt wird. Aber auch darüber, wie Standhaftigkeit und Mut, Selbstlosigkeit und Liebe zum Leben in den schwersten Stunden aufblühen, aller Grausamkeit zum Trotz. Und das Wichtigste: darüber, wie zart und verletzlich diese von Menschen geschaffene Welt ist! Gerade war sie noch da, und heute ist sie niedergebrannt, vollständig bis zur schrecklichen grauen Asche, die erst in den Mund gelangt und dann ins Herz und in die Seele. Und man weiß nicht, was (oder wer?) diese Asche gerade noch war. Und du, seist du ein noch so weit entfernter und wohlhabender Franzose, Deutscher, Italiener oder Tscheche, könntest sie morgen schon selbst kosten. Der Krieg kommt ohne Einladung, vergiss das nicht, Finne, Spanier und Pole! Solange die Wahnsinnigen Staaten regieren und der Rest es ihnen erlaubt, bist du, Belgier, Litauer, Amerikaner und Ungar, niemals sicher! Das kann ich dir sagen! Das weiß ich jetzt genau!


11. März 2022

Ich zaubere ständig. Nicht absichtlich, sondern eher unterbewusst beschwöre ich die Rückkehr Dimas. Ich stelle mir vor, wie er jetzt, genau in diesem Moment auftaucht, hereinkommt, mich ruft. Und ich laufe ihm entgegen – umarme, berühre, sehe ihn an, um mich zu überzeugen, dass er am Leben ist. Manchmal funktioniert das. Bisher hat es funktioniert – und heute auch. Ich umarme, berühre, sehe ihn an. Ich danke Gott.

Und dann fahren wir zum Laden „1000 Kleinigkeiten“. Das ist die Kreuzung der Alleen des Friedens und der Bauarbeiter – des Friedens, den es nicht mehr gibt, und der Bauarbeiter, deren Arbeit jetzt beharrlich von russischen Truppen zerstört wird. Einige Tage lang gab es hier Netz, schwach und instabil zwar, aber dennoch: ich weiß nicht wie, aber ich weiß, dass wir es einem der freiwilligen Helden zu verdanken haben, der jeden Tag herkommt und hier, im Büro von „Kyivstar“ [eines ukrainischen Mobilfunkanbieters – Anm. d. Übers.], einen eigenen Generator einschaltet.

Leute aus der ganzen Stadt kommen unter Beschuss von Grad-Raketen, Minenwerfern und Luftangriffen hierher, um sich wenigstens ab und zu, wenigstens einmal alle paar Tage zu melden, ihren Familienmitgliedern aus anderen Städten etwas mitzuteilen, zu versuchen, sie zu beruhigen, ihre Stimmen ein letztes Mal zu hören. Einer dieser Menschen, die ich jetzt sehe, wird nicht zurückkehren, wird es nicht mehr zu seinem Bunker schaffen, zu seinem Haus, er wird auf der Straße liegen bleiben – einsam, klein, nicht mehr am Leben, lange nicht identifiziert und nicht beerdigt. Sie alle – so verwundbar und zerbrechlich – stehen an der Ecke an der Bushaltestelle, und wir fahren an ihnen vorbei, weil wir heute ein anderes Ziel haben.

Wir haben einen Soldaten zu seinem bettlägerigen Vater gebracht, der Hilfe braucht. Außer ihm sitzt auf der Rückbank die dünne, liebe, verweinte Julia – Soldatin der Territorialverteidigung und Mutter einer vierjährigen Tochter, die sie schon mehrere Tage nicht mehr finden kann. Das Mädchen war bei ihrer Oma, die bei einem Beschuss „aufgesprungen, durchgedreht und mit dem Kind auf dem Arm irgendwohin gelaufen“ ist. Das hatten Julia ihre Nachbarn erzählt, und sie gibt es mir sehr leise und langsam wieder, als würde sie sich bei jedem gesprochenen Wort ins Stocken geraten. Ich sehe, wie viel Mühe es sie kostet, nicht zu weinen. Aber sie schafft es: sie darf nicht, sie ist doch in Uniform!

Wir parken im Hof des Ladens und während der Soldat seinen Vater besucht, beschließe ich, um die Ecke zu gehen, um zu telefonieren. Die Kanonade hört nicht auf, und das Schlimmste ist, dass ein Flugzeug über uns kreist. Aber ich habe die Stimme meiner Tochter schon so lange nicht mehr gehört! Sie und Mama machen sich furchtbare Sorgen. Ich muss, nein, ich will sie einfach anrufen, um sie nur ein bisschen, zumindest für eine Sekunde zu beruhigen – meine Stimme an ihre gequälten Herzen zu legen. Ich laufe über den Hof – so scheint es mir sicherer. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich im Fall eines Beschusses in einen der Häusereingänge laufen kann. Gegen einen direkten Treffer würde es nicht helfen, aber es würde mich vor tödlichen Schrapnellwunden bewahren. Vielleicht. Oder auch nicht.

Mit diesen Gedanken laufe ich zur Ecke mit der Absicht, das Gebäude von der anderen Seite zu umgehen, zur Bushaltestelle zu laufen und die Nummer zu wählen. Ich komme ein wenig zu spät: das Flugzeug fängt an, Bomben abzuwerfen. Nein, nicht das Flugzeug, sondern der Pilot – der Mann im Flugzeug, jemandes Sohn, jemandes Ehemann, jemandes Vater… Man hat ihm den Befehl gegeben, aber er hätte sich weigern können, ihn zu befolgen, hätte sich weigern können, in ein fremdes Land zu fahren, eine Stadt zu bombardieren, hätte wenigstens die Bomben auf das Ödland in der Nähe werden können. Aber nein! Dieser Mensch (??) vernichtet gezielt Wohnviertel und tötet, tötet, tötet…

„Hey du da oben, ich will, dass du unter schrecklichen Qualen stirbst!“, schoss mir durch den Kopf – ein Gedanke, der für das Vorkriegs-Ich ganz und gar nicht typisch war.

Doch schneller als dieser Gedanke „schieße“ ich durch den Hof und ducke mich in den nächsten Häusereingang, kauere mich in die am weitesten entfernte Ecke, hocke mich hin und bedecke mein Gesicht mit den Händen. Das Gesicht ist wichtig, denn daran kann man im Fall der Fälle den Leichnam identifizieren, denke ich, und in diesem Moment beben die Wände vom nahen Einschlag. Ich denke mich mehr, sondern springe mit diesem Gesicht auf die Straße, renne zum Auto, zu Dimka. Das Auto ist unversehrt, aber Dimka ist nicht darin. Noch eine Bombe und ich sprinte zur nächsten Tür. Dort ist Dimka auch nicht, aber die dünne Julia ist da.

„Wo ist Dima??“, rufe ich ihr zu.

„Er ist los, um dich zu suchen!“, ruft sie zurück.

Und ich springe erneut aus meinem illusorischen Unterschlupf und renne, und sehe meinen Mischka, und rufe ihn, so laut ich kann. Wir nehmen uns an den Händen (gemeinsam zu sterben ist nicht mehr so beängstigend), sprinten über den Hof, sammeln unsere Leute ein und kehren zum Auto zurück. Dann rasen wir. Rasen nicht irgendwohin, sondern weg – weg vom barbarischen Bombardement. Wir wissen noch nicht, dass die „freundliche“ russische Bombe diesmal auf die Bushaltestelle gefallen ist, wo erst eine Minute zuvor gequälte Mariupoler versucht haben, ihre Familien anzurufen, friedliche Stadtbewohner, russischsprachige Ukrainer, dieselben, die die russischen faschistischen „Friedenstruppen“ „beschützen“ wollten.

Wir brettern über die mit Kratern übersäte Allee, an meinem Elternhaus vorbei. Dort wohnt mein Papa. Besser gesagt, wohnte. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht: wir haben uns seit dem 24. Februar weder gesehen noch gehört. Auch jetzt schweift mein Blick über seinen Balkon und ich sehe, dass dieser noch ganz ist. Die nächsten 5 Minuten fühle ich so etwas wie Erleichterung.

Auf dem Weg zum Freiwilligenzentrum „Halabuda“, wohin mein Mann mich fährt, kommen wir zum zweiten Ort in der Stadt, wo es Netz von „Kyivstar“ gibt. Hier fliegt ebenfalls ein Flugzeug, die Leute laufen davon, aber wir steigen aus dem Auto aus und wählen die gewünschte Nummer. Wir rufen unsere Tochter an. Julia ist der Sinn unseres Lebens, unsere beste Freundin, und jetzt auch unsere Verbindung zur Außenwelt, unser Fenster in die andere Realität außerhalb von Mariupol. Ich schaffe es nicht, aber Dimka erreicht sie unerwartet und wir reden, beeilen uns, so viel Wichtiges wie möglich zu sagen: über die Liebe, „alles wird gut“ und „wir sehen uns bald“. Erst danach kommen wir zum Punkt: wir berichten über die Situation in der Stadt und erfahren, was in der Welt passiert. Wir möchten hören, dass man uns zu Hilfe kommt, dass der Durchbruch der Blockade in den kommenden Tagen geplant ist, dass andere Städte sich halten, dass unsere Truppen in alle Richtungen zurückschlagen. In Wirklichkeit ist alles nicht so einfach und rosig, aber Julia weiß, wie sie uns aufmuntern kann, ohne zu lügen. Ich danke Gott für diesen kurzen Augenblick der Freude, meine Tochter zu hören, für das Glück, so eine Tochter zu haben. Und auch zum ersten Mal in meinem Leben auch dafür, dass sie heute nicht bei mir ist!

 Im Freiwilligenzentrum herrscht wie immer reges Treiben. Seltsam ist die Welt: während die einen Menschen vernichten, tun andere alles dafür, um sie zu retten. Ist das irgendein geheimer Plan des Allmächtigen? Funktioniert so das Gesetz des universellen Gleichgewichts? Wenn das so ist, dann ist das ein sehr seltsames Gesetz, tut mir leid!

Aber Gott sei Dank besteht die Welt aus wunderbaren Leuten! Hier sind sie, schwirren herum wie Bienen in einem Schwarm und fliegen dabei hin und wieder hinaus. Dima Tschitschera, der diese kleine Welt zusammenhält, Katja Suchomlinowa, die unter Beschuss Menschen aus den Stadtteilen Liwyj Bereh und Wostotschnyj hinausbringt, Ira Koska, die durch Mariupol rast, um Hilfe in Krankenhäuser und Spitals zu bringen. Eine andere Katja sammelt alles Notwendige in der Stadt zusammen, Lilja packt Hilfsgüter ein und bearbeitet gemeinsam mit mir Anfragen. Witja und Eduard sind unsere Apotheker-Engel, die einzigen, die eine medizinische Ausbildung haben und sich mit Medikamenten auskennen… Dann gibt es noch Halja und Olja, Max, Anschelika, Dascha und mehrere Nataschas, Mischa und Witalik, und viele-viele weitere meiner persönlichen Helden für immer!

***

Das Schwierigste an unserer Arbeit ist es, Bescheid zu wissen. Bei uns fließt jedwede Information über Mariupoler zusammen, die Hilfe brauchen. Längst nicht alles davon – es ist nur ein Tropfen im Meer. Doch das genügt, um über das entsetzt zu sein, was geschieht. Es tut weh, unerträglich weh, zu beobachten, wie hilflos gewöhnliche Menschen angesichts des Wahnsinns des Krieges und der Grausamkeit der Okkupanten sind.

Da ist eine Notiz aus einem der Luftschutzbunker, und wir wissen bereits, dass dort jeden Moment ein neuer Mariupoler das Licht der Welt erblicken wird. Wenn er überlebt, wird er später erfahren, dass er in einem Keller zur Welt gekommen ist.

Hier eine weitere Anfrage, und wir stellen uns einen Menschen mit Behinderung vor. Er kann sich nicht allein fortbewegen, deshalb hängt sein Leben von denen ab, die bei ihm sind und ihn unter keinen Umständen zurücklassen, ihn aus dem brennenden Gebäude holen, unter Ruinen hervorziehen würden. Alles, was wir für ihn tun können, ist, ihm einige Erwachsenenwindeln zu besorgen. Nicht mehr als sechs, damit genug für andere übrigbleibt.

Sechs frisch operierte Kinder in der städtischen Kardiologie. Sie haben gerade erst eine Herz-OP hinter sich und können nicht transportiert werden. Niemand kann sie aus der Reanimation des Krankenhauses holen, die bereits von Eindringlingen umzingelt ist. Daher müssen dringend Medikamente und Benzin für den Generator dorthin gebracht werden, der das Beatmungssystem antreibt, das die Babys am Leben hält.

Und da sind junge Mamis, die vor Stress keine Muttermilch mehr geben können. Sie bitten darum, für ihre Neugeborenen Babynahrung zu besorgen, und wir schicken ihnen erst 3, dann 2, dann eine Dose pro Baby. Bald geht uns die Babynahrung aus, und die unglücklichen Frauen weinen hilflos oder schreien verzweifelt vor der Tür des Freiwilligenzentrums.

Diese Information raubt uns den Atem, das Herz wird davon schwer und träge, sie lähmt den ganzen Körper, weit mehr als die Säcke und Kisten, die wir Tag für Tag tragen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Margaryta Grinko