11. März
Ich zaubere ständig. Nicht absichtlich, sondern eher unterbewusst beschwöre ich die Rückkehr Dimas. Ich stelle mir vor, wie er jetzt, genau in diesem Moment auftaucht, hereinkommt, mich ruft. Und ich laufe ihm entgegen – umarme, berühre, sehe ihn an, um mich zu überzeugen, dass er am Leben ist. Manchmal funktioniert das. Bisher hat es funktioniert – und heute auch. Ich umarme, berühre, sehe ihn an. Ich danke Gott.
Und dann fahren wir zum Laden „1000 Kleinigkeiten“. Das ist die Kreuzung der Alleen des Friedens und der Bauarbeiter – des Friedens, den es nicht mehr gibt, und der Bauarbeiter, deren Arbeit jetzt beharrlich von russischen Truppen zerstört wird. Einige Tage lang gab es hier Netz, schwach und instabil zwar, aber dennoch: ich weiß nicht wie, aber ich weiß, dass wir es einem der freiwilligen Helden zu verdanken haben, der jeden Tag herkommt und hier, im Büro von „Kyivstar“ [eines ukrainischen Mobilfunkanbieters – Anm. d. Übers.], einen eigenen Generator einschaltet.
Leute aus der ganzen Stadt kommen unter Beschuss von Grad-Raketen, Minenwerfern und Luftangriffen hierher, um sich wenigstens ab und zu, wenigstens einmal alle paar Tage zu melden, ihren Familienmitgliedern aus anderen Städten etwas mitzuteilen, zu versuchen, sie zu beruhigen, ihre Stimmen ein letztes Mal zu hören. Einer dieser Menschen, die ich jetzt sehe, wird nicht zurückkehren, wird es nicht mehr zu seinem Bunker schaffen, zu seinem Haus, er wird auf der Straße liegen bleiben – einsam, klein, nicht mehr am Leben, lange nicht identifiziert und nicht beerdigt. Sie alle – so verwundbar und zerbrechlich – stehen an der Ecke an der Bushaltestelle, und wir fahren an ihnen vorbei, weil wir heute ein anderes Ziel haben.
Wir haben einen Soldaten zu seinem bettlägerigen Vater gebracht, der Hilfe braucht. Außer ihm sitzt auf der Rückbank die dünne, liebe, verweinte Julia – Soldatin der Territorialverteidigung und Mutter einer vierjährigen Tochter, die sie schon mehrere Tage nicht mehr finden kann. Das Mädchen war bei ihrer Oma, die bei einem Beschuss „aufgesprungen, durchgedreht und mit dem Kind auf dem Arm irgendwohin gelaufen“ ist. Das hatten Julia ihre Nachbarn erzählt, und sie gibt es mir sehr leise und langsam wieder, als würde sie sich bei jedem gesprochenen Wort ins Stocken geraten. Ich sehe, wie viel Mühe es sie kostet, nicht zu weinen. Aber sie schafft es: sie darf nicht, sie ist doch in Uniform!
Wir parken im Hof des Ladens und während der Soldat seinen Vater besucht, beschließe ich, um die Ecke zu gehen, um zu telefonieren. Die Kanonade hört nicht auf, und das Schlimmste ist, dass ein Flugzeug über uns kreist. Aber ich habe die Stimme meiner Tochter schon so lange nicht mehr gehört! Sie und Mama machen sich furchtbare Sorgen. Ich muss, nein, ich will sie einfach anrufen, um sie nur ein bisschen, zumindest für eine Sekunde zu beruhigen – meine Stimme an ihre gequälten Herzen zu legen. Ich laufe über den Hof – so scheint es mir sicherer. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich im Fall eines Beschusses in einen der Häusereingänge laufen kann. Gegen einen direkten Treffer würde es nicht helfen, aber es würde mich vor tödlichen Schrapnellwunden bewahren. Vielleicht. Oder auch nicht.
Mit diesen Gedanken laufe ich zur Ecke mit der Absicht, das Gebäude von der anderen Seite zu umgehen, zur Bushaltestelle zu laufen und die Nummer zu wählen. Ich komme ein wenig zu spät: das Flugzeug fängt an, Bomben abzuwerfen. Nein, nicht das Flugzeug, sondern der Pilot – der Mann im Flugzeug, jemandes Sohn, jemandes Ehemann, jemandes Vater… Man hat ihm den Befehl gegeben, aber er hätte sich weigern können, ihn zu befolgen, hätte sich weigern können, in ein fremdes Land zu fahren, eine Stadt zu bombardieren, hätte wenigstens die Bomben auf das Ödland in der Nähe werden können. Aber nein! Dieser Mensch (??) vernichtet gezielt Wohnviertel und tötet, tötet, tötet…
„Hey du da oben, ich will, dass du unter schrecklichen Qualen stirbst!“, schoss mir durch den Kopf – ein Gedanke, der für das Vorkriegs-Ich ganz und gar nicht typisch war.
Doch schneller als dieser Gedanke „schieße“ ich durch den Hof und ducke mich in den nächsten Häusereingang, kauere mich in die am weitesten entfernte Ecke, hocke mich hin und bedecke mein Gesicht mit den Händen. Das Gesicht ist wichtig, denn daran kann man im Fall der Fälle den Leichnam identifizieren, denke ich, und in diesem Moment beben die Wände vom nahen Einschlag. Ich denke mich mehr, sondern springe mit diesem Gesicht auf die Straße, renne zum Auto, zu Dimka. Das Auto ist unversehrt, aber Dimka ist nicht darin. Noch eine Bombe und ich sprinte zur nächsten Tür. Dort ist Dimka auch nicht, aber die dünne Julia ist da.
„Wo ist Dima??“, rufe ich ihr zu.
„Er ist los, um dich zu suchen!“, ruft sie zurück.
Und ich springe erneut aus meinem illusorischen Unterschlupf und renne, und sehe meinen Mischka, und rufe ihn, so laut ich kann. Wir nehmen uns an den Händen (gemeinsam zu sterben ist nicht mehr so beängstigend), sprinten über den Hof, sammeln unsere Leute ein und kehren zum Auto zurück. Dann rasen wir. Rasen nicht irgendwohin, sondern weg – weg vom barbarischen Bombardement. Wir wissen noch nicht, dass die „freundliche“ russische Bombe diesmal auf die Bushaltestelle gefallen ist, wo erst eine Minute zuvor gequälte Mariupoler versucht haben, ihre Familien anzurufen, friedliche Stadtbewohner, russischsprachige Ukrainer, dieselben, die die russischen faschistischen „Friedenstruppen“ „beschützen“ wollten.
Wir brettern über die mit Kratern übersäte Allee, an meinem Elternhaus vorbei. Dort wohnt mein Papa. Besser gesagt, wohnte. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht: wir haben uns seit dem 24. Februar weder gesehen noch gehört. Auch jetzt schweift mein Blick über seinen Balkon und ich sehe, dass dieser noch ganz ist. Die nächsten 5 Minuten fühle ich so etwas wie Erleichterung.
Auf dem Weg zum Freiwilligenzentrum „Halabuda“, wohin mein Mann mich fährt, kommen wir zum zweiten Ort in der Stadt, wo es Netz von „Kyivstar“ gibt. Hier fliegt ebenfalls ein Flugzeug, die Leute laufen davon, aber wir steigen aus dem Auto aus und wählen die gewünschte Nummer. Wir rufen unsere Tochter an. Julia ist der Sinn unseres Lebens, unsere beste Freundin, und jetzt auch unsere Verbindung zur Außenwelt, unser Fenster in die andere Realität außerhalb von Mariupol. Ich schaffe es nicht, aber Dimka erreicht sie unerwartet und wir reden, beeilen uns, so viel Wichtiges wie möglich zu sagen: über die Liebe, „alles wird gut“ und „wir sehen uns bald“. Erst danach kommen wir zum Punkt: wir berichten über die Situation in der Stadt und erfahren, was in der Welt passiert. Wir möchten hören, dass man uns zu Hilfe kommt, dass der Durchbruch der Blockade in den kommenden Tagen geplant ist, dass andere Städte sich halten, dass unsere Truppen in alle Richtungen zurückschlagen. In Wirklichkeit ist alles nicht so einfach und rosig, aber Julia weiß, wie sie uns aufmuntern kann, ohne zu lügen. Ich danke Gott für diesen kurzen Augenblick der Freude, meine Tochter zu hören, für das Glück, so eine Tochter zu haben. Und auch zum ersten Mal in meinem Leben auch dafür, dass sie heute nicht bei mir ist!
Im Freiwilligenzentrum herrscht wie immer reges Treiben. Seltsam ist die Welt: während die einen Menschen vernichten, tun andere alles dafür, um sie zu retten. Ist das irgendein geheimer Plan des Allmächtigen? Funktioniert so das Gesetz des universellen Gleichgewichts? Wenn das so ist, dann ist das ein sehr seltsames Gesetz, tut mir leid!
Aber Gott sei Dank besteht die Welt aus wunderbaren Leuten! Hier sind sie, schwirren herum wie Bienen in einem Schwarm und fliegen dabei hin und wieder hinaus. Dima Tschitschera, der diese kleine Welt zusammenhält, Katja Suchomlinowa, die unter Beschuss Menschen aus den Stadtteilen Liwyj Bereh und Wostotschnyj hinausbringt, Ira Koska, die durch Mariupol rast, um Hilfe in Krankenhäuser und Spitals zu bringen. Eine andere Katja sammelt alles Notwendige in der Stadt zusammen, Lilja packt Hilfsgüter ein und bearbeitet gemeinsam mit mir Anfragen. Witja und Eduard sind unsere Apotheker-Engel, die einzigen, die eine medizinische Ausbildung haben und sich mit Medikamenten auskennen… Dann gibt es noch Halja und Olja, Max, Anschelika, Dascha und mehrere Nataschas, Mischa und Witalik, und viele-viele weitere meiner persönlichen Helden für immer!
***
Das Schwierigste an unserer Arbeit ist es, Bescheid zu wissen. Bei uns fließt jedwede Information über Mariupoler zusammen, die Hilfe brauchen. Längst nicht alles davon – es ist nur ein Tropfen im Meer. Doch das genügt, um über das entsetzt zu sein, was geschieht. Es tut weh, unerträglich weh, zu beobachten, wie hilflos gewöhnliche Menschen angesichts des Wahnsinns des Krieges und der Grausamkeit der Okkupanten sind.
Da ist eine Notiz aus einem der Luftschutzbunker, und wir wissen bereits, dass dort jeden Moment ein neuer Mariupoler das Licht der Welt erblicken wird. Wenn er überlebt, wird er später erfahren, dass er in einem Keller zur Welt gekommen ist.
Hier eine weitere Anfrage, und wir stellen uns einen Menschen mit Behinderung vor. Er kann sich nicht allein fortbewegen, deshalb hängt sein Leben von denen ab, die bei ihm sind und ihn unter keinen Umständen zurücklassen, ihn aus dem brennenden Gebäude holen, unter Ruinen hervorziehen würden. Alles, was wir für ihn tun können, ist, ihm einige Erwachsenenwindeln zu besorgen. Nicht mehr als sechs, damit genug für andere übrigbleibt.
Sechs frisch operierte Kinder in der städtischen Kardiologie. Sie haben gerade erst eine Herz-OP hinter sich und können nicht transportiert werden. Niemand kann sie aus der Reanimation des Krankenhauses holen, die bereits von Eindringlingen umzingelt ist. Daher müssen dringend Medikamente und Benzin für den Generator dorthin gebracht werden, der das Beatmungssystem antreibt, das die Babys am Leben hält.
Und da sind junge Mamis, die vor Stress keine Muttermilch mehr geben können. Sie bitten darum, für ihre Neugeborenen Babynahrung zu besorgen, und wir schicken ihnen erst 3, dann 2, dann eine Dose pro Baby. Bald geht uns die Babynahrung aus, und die unglücklichen Frauen weinen hilflos oder schreien verzweifelt vor der Tür des Freiwilligenzentrums.
Diese Information raubt uns den Atem, das Herz wird davon schwer und träge, sie lähmt den ganzen Körper, weit mehr als die Säcke und Kisten, die wir Tag für Tag tragen.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Rita Grinko