Säcke

Bandy Sholtes

Seit dem vierundzwanzigsten Februar...
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie oft wir in unseren Gesprächen und Texten eine solche Klarstellung einbauen?
Natürlich, denn es ist doch wichtig, zu verdeutlichen, dass ein Ereignis vorher oder nachher stattgefunden hat. Das gibt den Geschichten, die wir erzählen und schreiben, zusätzliche Nuancen und Farbtöne.
Ist Ihnen auch aufgefallen, wie sich die Wahrnehmung der Zeit verändert hat?
Fast alles, was vor dem 24. Februar 2022 passiert ist, scheint viel länger her zu sein, als es tatsächlich her ist.
Ich habe diese Wahrnehmung für mich so formuliert: Heutzutage werden die Erinnerungen in drei Kategorien eingeteilt: die Erinnerungen an ein früheres Leben, die Erinnerungen an das Leben davor und die Erinnerungen an das zwanzigste Jahrhundert.

Es ist klar, dass nach dem Vierundzwanzigsten eine ganze Menge passiert ist. Für alle. Ich werde versuchen, aus dieser Fülle wenigstens eine Geschichte zu erzählen.
In den ersten Monaten und bis heute wurde ich oft von ausländischen Journalisten angesprochen. Aus Frankreich, Lettland, Holland, Amerika, England, Polen und Österreich. Vielleicht habe ich das eine oder andere Land nicht erwähnt, weil mein Hirn - wie bei allen - überlastet ist.
Aus einigen Ländern haben mich gleich mehrere Medien kontaktiert. Sie fragten nach dem Leben in einer Stadt im Hinterland, nach dem Leben eines Schriftstellers, nach den Ungarn in den Karpaten, nach den Vertriebenen und Geflüchteten, nach allem, was mit dem Krieg zusammenhängt. Ich habe sechs Mal mit Journalisten zusammengearbeitet, als Übersetzer, Assistent, Logistiker und Organisator.
Ich habe mich nie geweigert, jemandem zu helfen oder Interviews zu geben, denn ich glaube, je mehr ausländische Medien auf die Ukraine aufmerksam werden, desto größer sind unsere Chancen, Hilfe zu bekommen und der Welt zu zeigen, wie dieser Krieg aussieht und wie grausam die russische Armee ist.
Im März 2022 rief mich ein Bekannter an. Er betreibt einen beliebten Videoblog - in seinem früheren Leben hat er einmal ein Video über Uschhorod gedreht, in dem auch ich auftrete.
Serhij sagte, dass er am Abend mit französischen Journalisten von Le Monde in Uschhorod ankommen würde, und die französischen Journalisten mit den Einheimischen sprechen wollten.
„Kannst Du zu dem Treffen kommen?“
„Natürlich kann ich kommen.“

Aber es gibt da noch eine kleine Vorgeschichte.
Ein paar Tage vor Serhij rief mich die Schwester meiner Mutter an. Sie ist seit vielen Jahren die Leiterin eines forensischen Labors. Sie kennt viele ihrer Kollegen in der ganzen Ukraine.

Meine Tante erzählte, dass sie ein befreundeter Gerichtsmediziner aus Charkiw kontaktiert und gebeten habe, einige spezielle Säcke für den Transport von Leichen zu besorgen.
„Weißt Du, in Charkiw gibt es so viele Leichen, sie liegen auf der Straße, und die Leichensäcke sind schon längst aufgebraucht“, sagte Tante Olja, „man wickelt die Leichen jetzt schon in Decken oder Teppiche ein. Aber so kann man Leichen schließlich nicht lagern. Vielleicht hast Du irgendwo Freunde
oder Verbindungen und kannst solche Säcke auftreiben?“
Das ist eine ziemlich ungewöhnliche und ungewohnte Anfrage - ich habe noch nie mit solchen Säcken oder Ähnlichem zu schaffen gehabt. Aber in jenen Wochen war alles ungewöhnlich. Schrecklich - ungewöhnlich.
Natürlich habe ich versprochen, es zu versuchen und bat meine Tante um mehr Informationen zu diesen Säcken, denn ich hatte keine Ahnung, und sie hatten doch spezielle Eigenschaften. Ich begann, Leute anzuschreiben und anzurufen, von denen ich hohe, dass sie in der Lage sein würden, solche Säcke irgendwo zu suchen, nachzubohren, aufzutreiben.
Ich rief sogar ein paar Mal den Gerichtsmediziner in Charkiw an, um einige Details zu klären. Seine Stimme klang furchtbar müde. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen. Vielleicht hat sich die Situation geändert, aber es stellte sich damals heraus, dass es nicht einfach war, solche Säcke zu bekommen - sowohl in der Ukraine als auch im Ausland. Es gab bürokraJsche Hindernisse, d. h. man konnte nicht einfach in ein Geschäft gehen und Leichensäcke mit den entsprechenden Eigenschaften zu kaufen, denn man brauchte auch entsprechende Dokumente von gewissen Organisationen. Wir versuchten, sie ausfindig zu machen, aber es gelang nicht. Jemand wusste zwar, wo man solche Säcke auftreiben konnte, aber es waren
nicht die richigen. Also habe ich mehrere Tage damit verbracht, verschiedene Leute zu kontaktieren, doch ergebnislos.
Natürlich wurde ich auch mit anderen Fragen konfrontiert.
Das nur nebenbei. Eine der neuen Angewohnheiten, die ich mir nach dem Vierundzwanzigsten zu eigen gemacht habe, ist, dass ich Anrufe von einer unbekannten Nummer stets annehme, weil höchstwahrscheinlich jemand meine Hilfe braucht. Und in den meisten Fällen ist es auch so.

Zur vereinbarten Zeit traf ich in der Bar ein, wo Serhij und die Journalisten - eine Frau und zwei Männer - bereits auf mich warteten. Wir bestellten ein Bier und unterhielten uns auf Englisch.
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Fragen, die sie mir stellten. Aber da ich mich in jenen Tagen mit dem Thema Leichensäcke beschäftigte, erzählte ich ihnen davon. Sie hörten interessiert zu, und einer der Journalisten sprach dann auf Französisch mit der Frau - ihr Name war Florence, Florence Aubenas, und sie hatte offensichtlich das Sagen. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste,
warum.
Sie schickten von ihrem Handy eine Nachricht an jemanden. Sie fragten mich nach Details. Sie besprachen etwas miteinander.
Wir unterhielten uns weiter, sie fragten mich nach meinen Büchern. Ich gab ihnen kurz und bündig Auskunft und fügte noch hinzu, dass ich jetzt nicht mehr schreiben würde, weil ich keinen Sinn darin sehe. Nun, so war es damals auch.

Florence sagte, dass sie auch Bücher veröffentlicht habe und eines davon kürzlich in Frankreich verfilmt worden sei. Ich fragte sie nach dem Titel und schrieb ihn mir auf, denn ich beschloss, ihn mir anzusehen - das war interessant.
Kurz gesagt, wir sprachen über Uschhorod, den Krieg und Flüchtlinge, und zwischendurch schrieben sie jemandem.
Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als Florence etwa zwei Stunden später sagte, sie hätten Leichensäcke gefunden.
Genau die richtige Sorte.
Sie hätten Bekannte und Freunde angeschrieben, die sich mit solchen Sachen auskennen würden, und nach so und so viel Handshakes, also nach einer gewissen Anzahl von Messages, die jemand irgendwo in Frankreich an Dritte und Vierte weitergeleitet hatte, die sie allerdings nicht kannten, seien Leichensäcke aufgetrieben worden.
Aber abgesehen davon - welch Wunder - befänden sich diese Säcke gerade in der Slowakei auf einem Lastwagen, der in der Schlange an der Grenze zu Uschhorod wartet.
Es handelte sich um einen Lastwagen mit humanitärer Hilfe, der von der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ in die Ukraine unterwegs war. Die Säcke hätten noch keinen konkreten Adressaten oder Empfänger, und wenn sie in Charkiw gebraucht würden, würde man sie dorthin bringen und den Leuten übergeben, die ich ihnen nennen würde.
Alles, was ich machen musste, war auf eine E-Mail von jemandem zu antworten und die Kontaktdaten der Person anzugeben, die die Säcke brauchte. Und sie wird sie bekommen.
Es sind zwar nur fünfzig Leichensäcke, aber das ist besser als nichts.

Ich erinnere mich, dass wir in der Bar an einem Tisch saßen, uns alle freuten und über die Wunder staunten, die geschehen können während man in einer Bar in Uschhorod sitzt, und via Frankreich die Lieferung von Leichensäcken
nach Charkiw organisiert.

Natürlich war es glückliche Fügung und Fortune, denn wie sonst hätte es diese unglaubliche Konstellation geben können, dass die benötigte Ladung nicht nur in die Ukraine unterwegs war, sondern sich bereits an der Grenze befand?
Obwohl, wie Woody Allen sagt: Achtzig Prozent des Erfolgs besteht darin, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Und natürlich lag in all dem ein gewisser Prozentsatz an Absurdität und Alptraum, denn wir sprachen über, mein Gott, spezielle Säcke für Leichen.

Für die von den Russen getöteten Ukrainer, die irgendwo unter den Trümmern oder auf den Straßen von Charkiw liegen.
Charkiw, wo ich einen Monat lang in einem Schriftstellerhaus arbeitete und das ich aufrichtig liebte, obwohl ich vor fünf Jahren, also im Leben davor, zum ersten Mal dort gewesen war.
All dies verband uns auf besondere Weise, denn es war für uns alle das erste Mal, dass so etwas passierte. Eine Art Initiation, wenn dieses Wort hier passt, denn es gibt kein passendes Wort dafür.
Aber das ist noch nicht alles.

Wir trennten uns, zufrieden mit dem Gespräch und was sich daraus alles ergeben hatte. Sie setzten ihren Weg fort, und ich ging nach Hause, um jene E-Mail zu beantworten.
Am nächsten Tag googelte ich die Bücher, die Florence geschrieben hatte und um ihren Film zu finden, den ich mir ansehen wollte.
Und es stellte sich heraus, dass
- sie neun Bücher veröffentlicht hatte und mit vier Literaturpreisen ausgezeichnet worden war,
- sie im Jahr 2005, als sie über den Krieg im Irak berichtete, entführt und fünf Monate lang gefangen gehalten worden war,
- das Buch, auf dem der Film basiert, autobiografisch ist - ein wichtiger Punkt,
- die Geschichte heißt „Le Quai de Ouistreham“ 2010 (dt. Putze, mein Leben im Dreck), und der gleichnamige Film (dt. Wie im echten Leben) wurde von Emmanuel Carrère gedreht.
Aber es war etwas anderes, das mich am meisten beeindruckt hat.
Die Tatsache, dass die Hauptfigur - also Florence selbst - von der Ausnahmeschauspielerin Juliette Binoche gespielt wird.
Für ihre Rolle in diesem Film wurde sie für zwei Filmpreise in drei Kategorien nominiert.

Aber nochmal - die bekannte Journalistin und Schriftstellerin, die von Juliette Binoche gespielt worden war, saß mit mir bei einem Bier in Uschhorod und half mir, innerhalb weniger Stunden Leichensäcke aus dem Ausland zu besorgen, die meine Tante für ihren Kollegen in Charkiw brauchte.
Wie man so schön sagt, so etwas passiert nur einmal im Leben und nicht jedem.
Wenn mir das jemand vorher gesagt hätte, hätte ich es nie geglaubt.
Es würde mich nicht wundern, wenn Sie es auch nicht glauben.
Es ist gut, dass ich Zeugen habe.

P. S.: Ich habe den Film immer noch nicht gesehen. Ich weiß nicht, warum.
Besser gesagt, ich weiß es, und Sie haben es wahrscheinlich schon erraten.

Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil