Mariupol: Neuinterpretation der Identität (Politik, Gesellschaft, Erinnerung)

Sergej Pachomenko

Nicht Ukraine und nicht Rus, 
ich habe Angst vor dir, Donbas

Diese Zeilen, die der Donezker Literaturwissenschaftler Alexander Korablew zitiert, sind lange vor dem Krieg entstanden. Sie spiegeln sehr plastisch die Wahrnehmung dieser Region durch ukrainische Intellektuelle wider. In diesen Zeilen werden drei kulturelle, territoriale, identitätsbezogene Realitäten ausgedrückt – Ukraine, Russland, Donbas. Der Donbas steht hier als etwas Drittes da. Etwas Anderes, Unverständliches, Bedrohliches.

Findet sich in diesen drei Realitäten auch ein Platz für Mariupol? Das Paradoxe daran ist, dass Mariupol in verschiedenen Perioden seiner Geschichte ein Teil von diesen drei Identitäten war, ihre Eigenschaften verinnerlicht hatte, aber mit keiner von den dreien vollständig verschmolz. Deswegen muss diese Triade meiner Meinung nach um ein viertes Element ergänzen werden. Das vierte Element ist Mariupol, aber seine Selbstwahrnehmung ist unscharf, verschwommen zwischen den drei Identitäten, nicht endgültig herausgebildet. Es bildet keinen Gegenpol zu der Triade als etwas Anderes, es schaut wie ein Schatten hinter dem „Rücken“ jeder dieser Identitäten hervor – der ukrainischen, der russischen und der sogenannten „Donbasser“.

In der Politikwissenschaft und in der Geopolitik gibt es den Begriff „borderland“ – ein Grenzgebiet, ein spezifisches Territorium, das mit den Nachbarn eng verbunden ist und von ihnen einige wirtschaftliche und kulturelle Eigenschaften übernimmt.

Wenn man den Donbas als Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Russland betrachten kann, so kann man Mariupol als „borderland“ im „borderland“ bezeichnen, als Grenzgebiet zwischen der Ukraine, Russland und dem Donbas. Die Identität des Grenzlandes ist beweglich. Auf den ersten Blick kann man sie leichter steuern, tatsächlich aber wird ein Grenzland nie auf seine Eigenschaften verzichten. Wie es schon Napoleon formuliert hat: „Geografie ist Schicksal.“

Um zu verstehen, wie sich Mariupols Geografie mit kulturellen Inhalten und Symbolen füllte, sollten wir uns der Geschichte dieser Stadt zuwenden. Man kann einige Zeitperioden markieren, die das besondere „Gesicht“ der Stadt geprägt haben.


Die erste Periode: „griechisch“ (Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts).

Bis heute streitet man über das Datum der Stadtgründung. Laut der offiziellen Sichtweise wurde Mariupol 1778 gegründet. Die alternative, sogenannte „griechische“ Version lautet: Die Stadt wurde von Griechen 1780 gegründet. Jedenfalls war die Rolle der Griechen bei der anfänglichen Herausbildung des Stadtraums entscheidend.

Charakteristisch für diese Periode sind folgende Merkmale:
1. Kirchliche und in einem gewissen Maße territoriale Autonomie.
2. Überwiegender Anteil von ethnischen Griechen an der Gesamtbevölkerung.
3. Enge Bindung an das bäuerliche Umland und das Meer im wirtschaftlichen Leben, die Anfänge der Kaufmannschaft.
4. Entstehen von „Mythen“ und „Helden“. „Russland hat seine Glaubensbrüder – christliche Griechen – vom Tatarenjoch gerettet“, ihr geistlicher und politischer Führer Metropolit Ignatius, der die Umsiedlung von der Krim organisiert hat, gilt als „Moses“ der Griechen von Mariupol.

Die „griechische“ Periode der Stadtgeschichte unterscheidet Mariupol stark von anderen Städten im Donbas, die auf eine ganz andere Entstehungsgeschichte zurückblicken. Andererseits soll ihr Stellenwert in der heutigen Erinnerungskultur der Stadt nicht überbewertet werden. Ihre Symbole und „Mythen“ sind vor allem in der griechischen Gemeinde aktuell.


Die zweite Periode: „imperial“ (die erste Industrialisierungswelle, Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1917)

Wichtige Merkmale:
1. Abschaffung der „griechischen Autonomie“ und Russifizierung.
2. Bau der Hüttenwerke „Nikopol“ und „Providence“.
3. Änderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung, Zuwanderung der Fabrikarbeiter aus russischen Gouvernements (Ukrainer zogen weniger gerne in die Städte um und blieben lieber der Landwirtschaft verbunden).

In dieser Zeit werden die Grundzüge des modernen Stadtbilds gelegt: Russisch als dominante Sprache, industrieller Charakter der Wirtschaft und „proletarischer“ Charakter von Alltag und Freizeit eines Großteils der Stadtbevölkerung, enge wirtschaftliche Bindung an den Donbas. Die geschichtliche Erinnerung und Symbole aus dieser Zeit, die heute betont werden, sind der Wasserturm als Stadtzeichen oder die Architektur im Stadtzentrum. Die Mitarbeiter des Landeskundemuseums legen besonderen Wert vor allem auf die „imperiale“ Periode.


Die dritte Periode: Revolutionszeit (1917-1920)

Charakteristische Merkmale:
1. Wiederholte Machtwechsel (gilt auch für das gesamte ehemalige Russische Reich).
2. Starker Einfluss der Bolschewiken (Kommunisten) wegen des hohen Anteils des Proletariats.
3. Eine sehr starke Machno-Bewegung (Nestor Machno, Anarchist, Anführer der Bauernaufstände in der Revolutionszeit).

Da sich die Sowjetmacht am Ende dieser Periode durchsetzen konnte, wurde anschließend eine kommunistische Mythologie für diesen Abschnitt der Stadtgeschichte geschaffen – mit Akteuren der revolutionären bolschewistischen Bewegung als Helden (Kusma Apatow, Warganow, Petrowskij). Man gestaltete den Stadtraum im Einklang mit der kommunistischen Ideologie. Als Beispiel dafür lässt sich der Gedenkstein für Mitglieder eines „Prodotrjad“ im Theaterpark anführen (“Prodotrjads” waren die von den Bolschewiken 1918-1920 ins Leben gerufenen paramilitärischen Trupps, die mit Zwangsrequirierungen der Lebensmittel bei Bauern beauftragt wurden).
Die sehr starke Machno-Bewegung wurde dagegen aus der offiziellen Geschichtsschreibung und geschichtlichen Erinnerung gestrichen und wird heute im Grunde genommen nicht mehr mit Mariupol assoziiert.


Die vierte Periode: sowjetisch (1921-1991, mit Unterbrechung durch die deutsche Besatzung 1941-1943)

Besondere Merkmale:
1. Zweite Industrialisierungswelle in den 1930er-Jahren, der Bau von „Asowstal“ trägt zur weiteren Betonung des „proletarischen Stadtbilds“ bei.
2. Herrschaft der kommunistischen Ideologie; die Stadt wird in Schdanow umbenannt (1948). Andrej Schdanow war kommunistischer Funktionär, Mitstreiter von Stalin, geboren in Mariupol.
3. Soziale und kulturelle Aspekte des städtischen Lebens werden vernachlässigt.
4. Russifizierung unter dem Motto des „Internationalismus“ und Ignorieren (nach einer kurzen Periode der „Korenizazija“) der ethnischen (griechischen) Wurzeln der Stadt.

Diese Zeit hat das heutige Mariupol am stärksten geprägt, und die Nostalgie nach der sowjetischen Vergangenheit wurde zu einem wichtigen Bestandteil der spekulativen Rhetorik in der unabhängigen Ukraine.


Die fünfte Periode: in der unabhängigen Ukraine bis zur Revolution der Würde (1991-2014)

Spezielle Merkmale:
1. Die formelle Zugehörigkeit zur Ukraine führte nicht zur Ukrainisierung des kulturellen und öffentlichen Raumes.
2. Das ideologische und identitätsbezogene Vakuum nach der Abkehr von der kommunistischen Ideologie wurde aus mehreren Richtungen gefüllt:

A. Aktualisierung der griechischen Komponente in der Stadtentwicklung dank der aktiven Tätigkeit der griechischen Gemeinde und Unterstützung aus Griechenland (in den 1990er-Jahren). Das passte zur Tendenz der sogenannten „pluralistischen Kultur“ der Stadt, tatsächlich war es aber ein neues ideologisches „Abwehrinstrument“ gegen die Ukrainisierung.

B. Mit dem Aufstieg einer starken regionalen Elite (finanziell-industrielle Gruppe von Rinat Achmetow und lokale Politiker) wurde das Konzept der „Donbasser regionalen Identität“ und des „Donbasser Patriotismus“ entwickelt. Kennzeichnend für diese Identität sind eine doppelte ethnische Zugehörigkeit (die Mehrheit der Bevölkerung hat gemischte russisch-ukrainische Wurzeln); ein äußerst niedriger Stellenwert der ethnischen Identität in der Hierarchie unterschiedlicher Identitäten; Priorität für territoriale und soziale Identität; Russischsprachigkeit; komplementäres Verhältnis zur sowjetischen Vergangenheit; industrielle Kultur; patriarchales Bewusstsein; hohe Loyalität zu lokalen Eliten („Bandit, aber unser Bandit“)

Die regionalen politischen Eliten haben aus diesen Merkmalen ein einheitliches Konzept für eine „Donbasser Identität“ konstruiert und dabei zwei Ziele verfolgt: eine ideologische Begründung für die bedingungslose Herrschaft in der Region und die Erpressung politischer Gegner im Wahlkampf durch Andeutungen eines möglichen Separatismus.

Mariupol wurde zweifellos in den territorialen Rahmen von diesem Donbas eingegliedert. Diese Prozesse wurden intensiver, nachdem sämtliche Hüttenwerke in die Hände von Achmetow, und der Stadtrat vollständig unter die Kontrolle der „Donezker“ gerieten.
Einerseits passten mehrere Elemente der Donbasser Identität zur Weltanschauung vieler Stadteinwohner, was die Propaganda der regionalen Eliten noch verstärkte. Andererseits gehört Mariupol weder geografisch noch historisch zum Kohlerevier Donbas. Dieses Argument fand aber keine große Verbreitung.


Die sechste Periode: militärisch (ab 2014)

Die „Revolution der Würde“ zerstörte das Machtmonopol der Partei der Regionen in der Stadt und förderte die Entstehung einer aktiven Zivilgesellschaft.
Eine Folge des Krieges war die Präsenz der Armee und der freiwilligen Bataillone in der Stadt. Das führte zu einer einmaligen Situation – zu einer Neuinterpretation der Identität zugunsten der ukrainischen Komponente.