Mannerheimlinie

Serhij Zhadan

Serhij Zhadan – Gesang

Eugene Turchinov – Gitarre

Oleg Kadanov – Gitarre


Fünfzehn ist sie
 
Fünfzehn ist sie und verkauft Blumen vorm Bahnhof.
Die Luft bei den Schächten ist süß von Sonne und Beeren.
Die Züge machen kurz halt und rollen weiter.
Soldaten fahren nach Osten, fahren nach Westen.
 
Keiner bleibt in der Stadt.
Keiner nimmt sie mit.
Wenn sie morgens wie immer vorm Bahnhof steht, merkt sie,
dass eigentlich auch dieser Ort wertvoll und gefragt ist.
 
Dass sie hier eigentlich nicht für lange weg will,
dass sie sich hier festkrallen will,
dass der alte Bahnhof und das leere Sommerpanorama
für die Liebe reichen.
 
Keiner sagt ihr, was der Grund ist.
Keiner legt ihrem großen Bruder Blumen aufs Grab.
Schlafend spürt sie, wie sich im Dunkeln das Vaterland formt
wie das Rückgrat eines Halbwüchsigen in der Sonderschule.
 
Licht und Dunkel trifft zusammen und formt sich.
Die Sommersonne strömt in die Winter.
Was da gerade mit ihnen passiert, das heißt Zeit.
Das alles passiert mit ihnen, das muss man verstehen.
 
Es formt sich ihre Erinnerung, ihre Freude.
Alle, die sie kennt, wurden in dieser Stadt geboren.
Vorm Einschlafen geht sie alle durch, die weggegangen ist.
Kommt ihr keiner mehr in den Sinn, schläft sie ein.
 
 
Süd-West-Bahn
 
Süd-West-Linie.
Drei Uhr morgens, fast noch Nacht.
Eine Schaffnerin für zwei Wagen,
sie betreut die Fahrt.
 
Läuft wie Mutter Theresa,
launisch wie das Wetter im Herbst,
taumelnd – dunkel und trunken –
verscheucht sie die Träume.
 
Ich liege ganz in der Mitte,
eingekeilt wie der Kumpel in der Sohle,
Pythons Kopf in der Tasche,
der schwarze Chemiker aus Losowa.
 
Früher war er der große Hydraulikmacker,
mit Lieferanten im Ausland
er lebte lässig und kontrollierte die Ströme
zwischen Tiraspol und Krasnodon.
 
Mit seinem scharfen Surrogat
hat er die Moldawier und Usbeken erledigt
und war sogar Abgeordneter
mit einem Direktmandat für die Sozen.
 
Ich kann nicht schlafen, obwohl es spät ist
ich träume dreimal
und höre, wie Barthaare an seinem Kopf
weiterwachsen.
 
„Na, Alter, wie isses?“, frage ich, „bisschen geschlafen?
Soll ich dir vielleicht ‚ne Kippe schnorren?“
„Ach, was“, sagt er, „mach dich locker,
rauchen, bei meinen Problemen.“
 
„Und, ist es gruselig, da drüben?“, frage ich ihn.
„Nö“, sagt er, „einfach ungewohnt.
„Gruselig war’s letztes Jahr,
in Rostow, als die Schaschlykbude brannte.
 
Hier ist es, als hätten sie dir was vorenthalten,
die Erinnerung saust wie ein Fallschirm.
Du läufst und vergisst die Vergangenheit.
Versuchst zu vergessen, doch es klappt nicht.
 
Du fühlst mit dem letzten Nerv,
mit Zähnen und Fettpolstern
den schmalen Grat, der am Himmel
Lebende und Nichtlebende trennt.
 
Also bring mich heim, Kumpel,
in diesem liedleisen Waggon,
mit meiner ganzen unendlichen Erschöpfung
und den schwerelosen Erinnerungen.
 
Gib mich bei meinen Waffenbrüdern ab,
sollen diese traurigen betrunkenen Banditen
unter sich ausmachen,
was sie mit meinem Kopf anstellen.
 
Sollen sie an meine Gewohnheiten denken,
an die tiefen eiskalten Stimmenseen
und an die handschuhschwarze Lunge
eines heillos geschlagenen Boxers.
 
Sag dieser Frau, die lieben konnte,
sie soll nicht mehr trauern.
Alles was ich für sie tun konnte, war,
möglichst fern von ihr zu sterben.
 
Das ist jetzt der Unterschied zwischen uns beiden.
Schieb mir mal die Kippe in den Mund.
Der Tod, er ist so wie unsere Schaffnerin –
für sie ist das nur ehrliche Arbeit.
 
Warme Träume, zufällige Tage.
Alles, was du dir gemerkt hast,
alles, was du mit ansehen musstest,
lebt nach dem Tod weiter wie die Haare.
 
Sprich mit mir, Alter.
Ein verkohlter Sneaker, ein altes Palästinenser-Tuch.
Die Nacht fließt, das Dunkel schwankt,
die Luft atmet ein
und aus.“
 
 
Mein Alter
 
Mein Alter, der seine Lunge in Brocken ausgespuckt hat und verreckt ist,
hat bis zum Schluss nicht kapiert, was mit seinem Land passiert ist,
was die Finanzhaie mit ihm angestellt haben,
die es jetzt ungeniert Stück um Stück verscherbeln.
 
Meine Mutter, die seine ganzen Sachen irgendwann verkauft hat
und mit einem Typen in wilder Ehe lebt,
hält ihre Erinnerungen und Altfrauenseufzer vor mir geheim,
schließt sich nachts ein, damit ich sie ja nicht belausche.
 
Noch immer trifft er mich mit seinem Husten wie mit Dornen.
Erscheint mir im Traum, sein schwarzes Auge fixiert mich.
Und ich weiß: das Schwerste, das wir haben, ist unsere Erinnerung.
Und das Schlimmste ist, dass sie von Jahr zu Jahr schwerer wird.
 
Er nennt mir die Namen der Ärzte, die ihn auf dem Gewissen haben.
Setzt sich aufs Nachbarbett und fordert Rache.
„Mein Junge“, sagt er zu mir, „du hast keine Wut und keine Kraft.
Du hast ihnen deine Wut gegeben wie dem Schaffner das Bettzeug.
 
Du hast kein Erbe, mein Junge, und kein Land,
und deine ganzen Freunde, mein Junge, verglühen wie Kometen.
Ihr verirrt euch wie die Zigeuner und verschwindet wie die Karaäer.
Wenn sowieso alles hin ist, versuch doch wenigstens anständig zu sterben.
 
Wie lange willst du noch diese Stimmen auf der Treppe,
die Wecker und Brillen, die warmen Alltagsdinge ertragen!
Reiß ihnen das Herz raus und halt endlich die Luft an!
Verbrenn den ganzen Kram im Bett wie Makulatur!“
 
Also hole ich Benzin und schwere Schiffstaue
und lege im Zimmer einen Brand, der uns alle erfasst,
Ich weiß: nichts hat mehr Gewalt über uns
als die Stimme des Blutes, die in der Kehle aufsteigt.
 
Gut, wenn du von Untergrundkämpfern und Helden träumst.
Schlecht, wenn ihr Erscheinen dich bedrängt.
Diese Machthaber verstärken meine Liebe zu kalten Waffen.
Dieser Staat raubt mir das Gefühl fürs Vaterland.
 
Dieses Land, in dem Überleben als Kunst gilt,
in dem deine ganze Biografie eine endlose Liste von Schulden und Toten ist,
nennt mich jetzt gehässig Mörder und Simulant,
ruft Zeugen auf, die entkommen sind, und sucht Spuren von Gift.
 
Soll mir die Staatsanwaltschaft ruhig ihren ganzen Spam schicken.
Soll die steinige Straße ruhig im steigenden Wasser untergehen.
Sollen die Blauhelme ruhig kommen und die heißen
Kraftwerke meiner rastlosen Stadt mit schwarzem Napalm vernichten.
 
Sollen sie das doch alles ohne uns wieder zusammenfügen.
Sollen sie doch auf die traurigen Himmelsschwankungen reagieren.
Das heilige Feuer der Sonne flutet die Räume.
Helden sterben nicht von einem Aufenthalt im Krankenhaus.
 
 
Roma-Mädchen
 
Tastenhandy. Familienbande.
Wie findest du eigentlich mein Vaterland?
In der Sommerluft schwinden die zähen Spinnfäden.
Du drückst warme Lumpen gegen die Brust wie den Sohn des Höchsten.
 
Was siehst du aus deinem Vorhang heraus?
Die Stimme zum Stängel und das Herz zur Krone.
Erschossene Staffeln sprengen aus der Nacht.
Die Totengräber schaufeln. Und bringen sich in Stellung.
 
Es wird Herbst, und du wirst anders werden.
Außer mir wird keiner nach dir weinen.
Die Menschen besitzen mehr und mehr Waffen.
Wenn ich könnte, fände ich neue Helden.
 
Es wird Winter, und die Kinder werden singen.
Der Horizont färbt sich ockerbraun und oliv.
Grün ist der Nebel und rot aller Regen.
In den Hymnen höeren wir Zigeunermotive.
 
Zwanzig Jahre suchen wir an der Donau nach der Mündung.
Ich durchquere das Delta und halte mich zu den anderen.
Siehst du, vom Sinai fliegen Schwalben heran.
Glaub mir, es gibt weder
Anfang noch Ende.
 
Alles wird so wie beim ersten Mal, alles bleibt für immer.
Ein junger Mond über den goldenen Ähren.
Juni-Dämmerungen mit Engelsakkorden.
Bequeme Familienmöbel, voll von deinen Haaren.
 
Du trägst dein Herz, deine Leiden.
Du reihst dich ein in das nächtliche Laufen.
Auch du würdest das Dunkel gern durchschreiten,
Der Tod kommt,
ganz gleich, von welcher Seite.
 
 
Wo ist deine Linie?
 
1. Strophe
Unsere Ketzerei speist sich aus Glauben.
Die Säuberungen werden live übertragen.
Die ersten Pogrome, verbrannte Boote.
Die Verteidigungslinie wird gezogen.
 
Dir bleibt nichts weiter
als ein brüchiges Gelände für Kampf und Liebe.
Der Himmel verwandelt sich in einen Schlagring.
Der kalte Krieg beginnt von neuem.
 
Die Hitze versengt Balkons und Terrassen.
Dämonen ziehen von den nächtlichen Trassen.
Sie legen einen Brand in deiner alten Schule,
und schieben ein Kruzifix aufs Tanzparkett.
 
Der Dämon erwächst dem Gemetzel unter Freunden.
Die Bewegungen des Dämons sind geübt und träge,
Das Herz des Dämons ist warm und blutig.
Der Dämon heult auf und wendet sich an dich:
 
Refrain: 
Wo ist deine Mannerheim-Linie?
Wo ist deine Mannerheim-Linie?
Beutebeutel, Monatsquote.
Auf Gleis eins tummeln sich die Boten.
 
Trennungslinie, Leidenslinie,
Linie, die dich permanent peinigt.
Das Himmlische Palästina, das innere Libyen.
Wo ist deine Linie, wo ist deine Linie?
 
2. Strophe
Die Welt verläuft dort, wo du grade stehst.
Die Welt reicht tiefer als tief.
Die Welt formt sich aus Licht und Dunkel.
Die wahre Geschichte entfalten Kinder.
 
Luft besteht aus Wasser und Licht.
Weiter zurück können wir nicht.
Vierzig Stimmen birgt die Luft.
Die Zeit bricht ein, reißt ab und fällt aus.
 
Die Zeit ist erschöpft und geht keinen Schritt.
Wie ein beschossenes Schlachtschiff stoppt sie ihren Lauf.
Wo ist deine Schicksalslinie, wo?
Wem bestelle ich einen Gruß von dir?
 
Hingabe braucht das gebrochene Herz,
auf einer Feldtrompete bläst der Dämon.
Der Mond steigt auf, kalt wie ein Leichnam.
Er leuchtet dir und begleitet dein Lied.
 
Julihitze prasselt vom Himmel.
Wo läuft deine Himmelslinie,
Linie der Erinnerung, Linie der Entwurzelung,
die Linie, die Wolken in Eis kehrt?
 
Die Vögel über dir sehen aus wie Steine,
die Strahlen der Sonne versengen die Dämonen.
Gras und Aluminium formen die Sonne.
Gott wagt nicht, die Linie zu queren.

Refrain: 
Wo ist deine Mannerheim-Linie?
Wo ist deine Mannerheim-Linie?
Beutebeutel, Monatsquote.
Nahtwärts entzwei reißt die Landseruniform.
 
Trennungslinie, Leidenslinie,
Linie, die dir permanent nachgeht.
Schwarze, ausgebrannte Zeitgenossen,
wo ist deine Linie, wo ist deine Linie?
 
Wo ist deine Mannerheim-Linie?
Wo ist deine Mannerheim-Linie?
Beutebeutel, Monatsquote.
Auf Gleis eins tummeln sich Boten.
 
Trennungslinie, Leidenslinie,
Linie, die dich permanent peinigt.
Das Himmlische Palästina, das innere Libyen.
Wo ist deine Linie, wo ist deine Linie?

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Claudia Dathe