Todeslisten

Andrij Ljubka

In der dritten Nacht nach Beginn der großangelegten Invasion schlief ich mit einer Axt unter dem Kopfkissen.
Dem vorausgegangen war eine ziemlich merkwürdige Situation, die heute kurios erscheint, die ich damals aber als sehr unheimlich erlebt habe. Ich werde versuche, alles von Anfang an zu erzählen.
Also, der Beginn der großangelegten Aggression erwischte mich in Kyjiw, doch bereits einen Tag später fuhr ich nach Tscherniwzi, wo sich zu der Zeit meine Frau mit unserer Tochter bei ihrer Mutter aufhielt. Am Morgen des 26. Februar läutete mein Telefon und auf dem Bildschirm erschien eine unbekannte Nummer. Ich nahm den Anruf an und hörte eine Frauenstimme mit starkem kaukasischen Akzent. In gebrochenem Russisch fragte die Frau, ob ich schon zu Hause in Tscherniwzi sei und sie versuchte, Einzelheiten über meinen Aufenthaltsort herauszufinden. Das war sehr merkwürdig, unhöflich und klang sogar bedrohlich. Insbesondere ab dem Moment, als die Frau auf meine Gegenfrage den Anruf abbrach und die Nummer anschließend nicht mehr erreichbar war (und im Übrigen auch sonst keinerlei digitale Spuren in den Messengern hinterlassen hatte).
In einer Atmosphäre der allgemeinen Psychose löste diese Situation bei meiner Frau und mir einige Anspannung aus. Ich möchte daran erinnern, dass hochrangige amerikanische Beamte nur wenige Tage vor der Invasion - am 21. Februar 2022 - angekündigt hatten, dass Russland sogenannte "Todeslisten" angefertigt habe mit Namen von Ukrainer*innen, die als Erste liquidiert werden müssten. Angeblich standen auf den Listen Regierungsvertreter*innen, ATO-Veteran*innen, Anführer*innen patriotischer Bewegungen in verschiedenen Regionen und bedeutende Personen aus dem Kulturbereich.
Obwohl ich zu keiner der genannten Gruppen gehöre, habe ich doch in meiner Biografie eine spezielle Geschichte. 2017 war ich von einer mir unbekannten russischen Journalistin eingeladen worden, als Experte nach Moskau zu fliegen und an irgendeiner Talk Show teilzunehmen. Meine Antwort war eher sarkastisch als schroff: Ich sagte, nach Moskau käme ich höchstens zu Putins Beerdigung. Diese Information gelangte damals in die breite Öffentlichkeit und wurde viel von den Massenmedien in der Ukraine und in Russland zitiert. Im Sommer desselben Jahres bekam ich eine Einladung, bei einem Lyrikfestival in Armenien aufzutreten; das war zu der Zeit ein prorussisches Land, das mit der Russischen Föderation (RF) eine militärische Allianz eingegangen war, deswegen entschied ich mich, ukrainische Diplomat*innen zu konsultieren und zu prüfen, ob es sich hierbei um eine Art hybride Propagandaveranstaltung handelte. Die Veranstaltung selbst stellte sich als vollkommen in Ordnung heraus, doch riet man mir davon ab, nach Armenien zu reisen, sie sagten, das Land habe eine gemeinsame Polizeibasis mit Russland, wenn also in der RF ein Strafverfahren gegen mich wegen Verunglimpfung der Regierung eingeleitet worden wäre, dann könnten sie mich direkt auf dem Flugplatz in Jerewan verhaften. Da ich bereits 2006 wegen Teilnahme an Unruhen gegen die Regierung in Belarus dort zur Persona non grata geworden war, wog ich alle Für und Wider ab und flog diesmal doch nicht nach Armenien.
In den ersten Kriegstagen startete Russland eine psychologisch ziemlich effektive Informationsoperation, die zum Ziel hatte, in der ukrainischen Gesellschaft Panik zu säen. Über Telegram-Kanäle wurden Informationen verbreitet, die sehr schnell auch die wichtigsten Massenmedien erreichten, darüber, dass in allen Gebieten des Landes verdeckte Sabotage- und Spionagetruppen aktiv seien, die Markierungen aufstellten und Orientierung für russische Raketeneinschläge gäben. Diese Markierungen - in weißer und fluoreszierender Farbe - fand man auf Infrastrukturobjekten, auf Häusern und sogar schlicht auf dem Asphalt im ganzen Land. Daher herrschte die Überzeugung, dass russische Agent*innen, Saboteur*innen und Mörder*innen so gut wie hinter jeder Ecke lauerten. Die tatsächlichen Ausmaße der Bedrohung waren zu der Zeit niemandem klar, deshalb - ich wiederhole mich - war es vollkommen logisch anzunehmen, dass russische Killer*innen mit "Todeslisten" Ukrainer*innen in jedem beliebigen Winkel des Landes zu töten vermochten. Das hätte wirklich Panik geschürt und die ukrainische Gesellschaft noch mehr desorientiert.
Und genau das war der Informationsstand, der psychologische Hintergrund, vor dem ich am Abend des 26. Februar bei meinem Freund und Redakteur Oleksandr Bojtschenko zu Hause in Tscherniwzi saß. Gemeinsam mit ihm und einem anderen Autor, Oleksandr Myched, besprachen wir die Idee zur Gründung einer Freiwilligeninitiative, die Kulturvertreter*innen aus der Ostukraine helfen sollte, eine Unterbringung bei ihren Kolleg*innen in der Westukraine zu finden. Eben da kam ein Anruf von meiner Frau: Mit erschrockener Stimme berichtete sie, dass vor einer halben Stunde ein Auto mit verdunkelten Scheiben vor ihrem Haus in der verschlafenen und menschenleeren Straße in einem Vorort von Tscherniwzi geparkt habe. Es war schon dunkel draußen, niemand war aus dem Auto gestiegen - alles sah danach aus, als ob sie jemanden beobachteten oder auf jemanden warteten. Augenblicklich brachte mein Hirn den morgendlichen Anruf mit dem kaukasischen Akzent, die Nachrichten über russische Sabotage- und Spionagetruppen in allen Gebieten des Landes und das dunkle Auto vor den Fenstern des Hauses meiner Schwiegermutter miteinander in Verbindung.
Um die Situation vor Ort zu klären machten wir - Bojtschenko, Myched und ich - uns Hals über Kopf auf den Weg. Der Plan war folgender: Unser Schriftsteller-Kampftrupp rast mit dem Auto in die Straße, versperrt die Durchfahrt, schaltet das Fernlicht ein, um die Saboteure zu blenden, und ich steige mit einem Messer aus und überprüfe das mysteriöse Auto. Bojtschenko sitzt am Steuer, ich stürme los, und Myched soll mir mit irgendeinem Eisenteil zu Hilfe kommen, wenn sich eine Schlägerei entwickelt.
Es lief auch alles genauso ab, wenn man außer Acht lässt, dass die Situation an eine schwarze Komödie erinnerte. Mit dem Auto rasten wir in die Straße, ich sprang heraus und Bojtschenko würgte aus irgendeinem Grund den Motor ab und die Scheinwerfer erloschen. Während er mit den Scheinwerfern beschäftigt war, sprach ich schon mit dem Fahrer des "russisch-tschetschenischen-Sabotage-und-Spionage-Autos". Das war ein junger ukrainischer Kerl, neben ihm saß ein ganz junges Mädchen. Es stellte sich heraus, dass die beiden ein Date hatten und sich vor fremden Blicken schützen wollten und deswegen in eine leere Seitenstraße hineingefahren waren. Ich prüfte seinen Ausweis und stellte tatsächlich fest, dass er unter einer Adresse nicht weit von hier gemeldet war. Heute klingt das lustig, aber in dem Moment standen mir wegen dieser Situation die Haare zu Berge. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass ich in dieser Nacht für alle Fälle eine große Axt unter mein Kopfkissen legte - immerhin eine Waffe für den Fall eines plötzlichen Angriffs.
Ein halbes Jahr nach Beginn der Invasion haben wir uns mittlerweile vergewissert, dass die Todeslisten mit ukrainischen Namen nicht ausgedacht und kein böser Traum waren, sondern dokumentierte Realität. Im Herbst 2022, als die ukrainische Armee die besetzten Gebiete um Charkiw befreite, ereignete sich eine für den dort ansässigen ukrainischen Schriftsteller Wolodymyr Wakulenko tragische Geschichte.
In der zweiten Woche des Krieges, schon am 7. März, hatte die russische Besatzung sein Heimatdorf Kapytoliwka eingenommen. Schon nach kurzer Zeit kam eine bewaffnete Gruppe der Eindringlinge auf Wakulenkos Hof und nahm den Schriftsteller und seinen kleinen Sohn zum Verhör mit. Sie verhörten Wolodymyr und schlugen ihn, aber nach einigen Stunden ließen sie ihn doch wieder nach Hause. Daraufhin vergrub er sein persönliches Tagebuch im Garten unter dem Kirschbaum - etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass schreckliche Zeiten bevorstünden. Als Schriftsteller wollte er eigene Spuren hinterlassen, deshalb sorgte er sich am meisten um sein handgeschriebenes Tagebuch, einem schriftlichen Zeugnis der Besatzung.
Am 24. März kamen sie ein zweites Mal, um Wolodymyr zu holen und brachten ihn weg, in eine unbekannte Richtung. Niemand hat ihn je wieder gesehen. Erst nach der Rückeroberung fand man im Dienstbuch der nächstgelegenen kommunalen Bestattungsabteilung einen Eintrag über die Bestattung des Schriftstellers unter der Nummer N°319. Die Richtigkeit des Eintrags bestätigte später auch ein DNA-Test. Wolodymyr Wakulenko war durch zwei Kugeln aus einer Makarow-Pistole getötet worden. Erschossen.
Ob er gefährlich war? Nein, Wolodymyr war ein Dichter und Kinderbuchautor, ein Mensch mit aufbrausendem Charakter, aber einem guten Herzen. Er hatte einige Literaturpreise, aber als berühmt oder einflussreich kann man ihn nicht bezeichnen - seinem Lebensstil nach war Wakulenko ein Punk, gegen kulturelle Konventionen und weit entfernt von Establishment und offiziellen Standpunkten.
Wofür haben sie ihn also getötet? Dafür, dass er ein ukrainischer Dichter war. In niederträchtigen Zeiten ist das eine unerhörte Frechheit und eine kolossale Bedrohung für die Okkupanten. Es hat sich gezeigt, dass die Russen tatsächlich den Befehl hatten, Jagd auf Kulturschaffende zu machen, einen Genozid zu verüben, indem sie in den besetzten Gebieten die ukrainische kulturelle Elite vernichten. Töten für Gedichte, Erschießen für Kinderbücher - die Gefahr, die davon ausgeht lässt sich mit einem einzigen Fakt erklären: Sie sind auf Ukrainisch.


Die Königin in Kriegszeiten

Es gibt eine traurige, aber auf gewisse Weise sogar komische Wahrheit: Literaturliebhaber*innen haben es im Krieg schwerer, weil ihre Wohnungen und Häuser nach einem Raketeneinschlag schneller ausbrennen. Bücher brennen, Papier entflammt schnell und das Feuerwehrauto schafft es nicht rechtzeitig.
Die häufigste Frage, die ich von ausländischem Publikum höre, lautet: "Welche Rolle spielt die Literatur in Zeiten des Krieges?" Die Antwort liegt auf der Hand: De facto eine miserable, denn unter den Umständen eines totalen Genozids wählen Kugeln und Raketen ihre Opfer nicht aus, sie töten wahllos - Leser*innen und Analphabet*innen, Schriftsteller*innen und ihre Kritiker*innen.
Natürlich hat Literatur ihren Einfluss in einem größeren Kontext, so kann sie ein Land und sein Volk im Ausland repräsentieren. Jeder Krieg in der Welt erzeugt Interesse für diesen Flecken Erde und im Handumdrehen erscheinen Buchübersetzungen, musikalische Aufführungen und Museumsaustellungen in verschiedenen Ländern. Literatur vertieft, erklärt und vermittelt, insofern ist sie ein ideales Medium für (kulturelle) Diplomatie in Zeiten der Erschütterung.
Es gibt sogar eine Geschichte darüber, wie ein Buch einem Soldaten das Leben gerettet hat. Ich habe es selbst in den sozialen Netzwerken gesehen: Da ist ein Foto von einem Mann, der ein Buch in der Hand hält und darin steckt eine Kugel. Das ist ein Motiv, das schon zur wandernden Legende geworden ist - ich habe es sowohl mit einem philosophischen Buch von Seneca als auch mit einem Roman von Ernst Jünger schon gesehen und selbstverständlich mit der Bibel. Ähnliche Beispiele kennen wir aus vielen Kriegen, folglich ist es entweder die Reproduktion einer Fabel, angewendet auf den lokalen Hintergrund, oder ein Buch kann in der Tasche des Lesers tatsächlich den Schuss eines Scharfschützen abfangen.
Dennoch schützt eine kugelsichere Weste trotzdem besser vor einer Kugel als ein Buch. Und eine Waffe in der Hand ermöglicht es, gegen den Aggressor zurückzuschlagen und den blutrünstigen Besatzer zu verjagen. Deswegen bitte ich bei meinen Auftritten im Ausland das Publikum immerzu: Sagen Sie Ihren Regierungen, dass wir mehr Waffen brauchen! Könnte ich zwischen einer Tonne Bücher von Platon und einer Tonne kugelsicherer Westen wählen, nähme ich, als Schriftsteller, die Schutzwesten. So sind die Gesetze in Kriegszeiten.
Ja, ein Krieg ist nicht die Zeit für Literatur. Während des Krieges ist es schwer oder komplett unmöglich Texte zu schreiben. Es ist schwierig sich zu konzentrieren und einen logischen Gedankengang beizubehalten: Unter der Masse an Nachrichten und Stress wird das intellektuelle Leben bruchstückhaft und chaotisch, man pendelt emotional von einem Extrem ins entgegengesetzte. Unter solchen Umständen ist es praktisch unmöglich einen Roman zu schreiben, der mehrere Jahre konzentrierter Arbeit bedarf. Mehr als das: Unter diesen Umständen ist es sogar schwierig, so einen Roman aufmerksam zu lesen!
Doch es gibt eine Art der Literatur, die in Kriegszeiten plötzlich an Stärke gewinnt und sich ihre seit der Antike verlorene Position zurückholt. Das ist die Poesie, die Königin in Kriegszeiten. Vergessen und von allen vernachlässigt, verschlossen im höchsten Regalfach der Exklusivität, der Nischenhaftigkeit, des Von-niemandem-gebraucht-Werdens in der heutigen Welt. Ja, ausgerechnet die Poesie rückt seit den ersten Tagen des Krieges in den Vordergrund.
Von vielen Bekannten, die zu Flüchtlingen geworden sind und die, wenn auch nur für eine bestimmte Zeit, ihre eigenen Häuser verlassen mussten, habe ich gehört, dass sie in ihrem "Notrucksack" ein Buch dabeihatten. Das Buch stand in dem Moment symbolisch für Gemütlichkeit, für die Intimität der heimischen Büchersammlung, für das Zuhause. Am häufigsten war dieses Buch ein kleiner Gedichtband.
Warum? Weil Poesie auf den ersten Blick unnötig ist, unpraktisch, unangemessen. Das macht sie auch gerade so sehr symbolisch: Wenn schon etwas mitnehmen, dann genau so etwas Erlesenes, explizit Unpraktisches, Erhöhtes. Um zu beweisen, dass da kein aufgescheuchtes Tier vor Bomben und Feuer flieht, sondern ein Mensch.
Dank ihrer lakonischen Art eignet sich die Poesie selbst im Luftschutzkeller zum Lesen. Im Licht der Taschenlampe kannst du für zwei Minuten ein Gedicht lesen und es noch lange auf der Zunge und in Gedanken verkosten. Du machst das Buch zu, bis zum nächsten Mal, doch das Gedicht bleibt bei dir. Eine Gedichtsammlung wird zum unendlichen Abenteuer, das man auswendig lernen kann, das man öffnen kann wie es gerade kommt, das man sich im Rhythmus immer wieder aufsagen kann.
Ich erinnere mich, wie ich selbst zum ersten Mal begann, ein Buch zu lesen. Das war in der zweiten Kriegswoche. Es war der Geburtstag von Taras Schewtschenko, deswegen wollte ich ein weniger bekanntes Zitat von ihm finden und es in den sozialen Netzwerken posten. Aus dem Regal griff ich den "Kobsar" und fing an zu blättern. Las ein Gedicht, ein zweites und suchte weiter. Drei Stunden später ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich "klebengeblieben" war, mich nicht wieder losreißen konnte - so sehr handelten diese vor zweihundert Jahren geschriebenen Gedichte von mir, von uns, von unserer Zeit. Mich überzog ein Schauer, ich bekam Gänsehaut - so wirkten diese Strophen. Die Genialität dieser Zeilen musste man nicht beweisen, sie wirkten auf physischer Ebene.
Von da an kehrte ich zum aktiven Gedichtelesen zurück: Schewtschenko, Stus und andere von Russland getötete und verfolgte ukrainische Dichter; die seit jeher beliebten, aber fast vergessenen Dichter Ovid und Kavafis; Ginsberg, Verlaine, Miłosz und Zadura. "Odyssee" und "Ilias" von Homer als Hörbuch bei langen Autofahrten am Steuer. Ein absolut chaotischer Mix, ohne Reihenfolge, aber das ist auch ein Vorteil von Gedichten - man kann eins lesen und Pause machen, zu etwas anderem springen, sich je nach Stimmung etwas aussuchen oder einfach beliebig eine Sammlung aus dem Regal ziehen.
Und das wichtigste ist: Poesie kann man nicht nur lesen, sondern auch schreiben! Ein Gedicht entsteht im Kopf, im Herzen, dafür braucht man keine besonderen Bedingungen, keine Technik, keine Werkstatt. Nach anderthalb Jahren Krieg hat die Poesie zu ihrem ursprünglichen Wesen zurückgefunden: Leuten zu helfen sowie Schmerz, Sehnsucht und Gedanken zu teilen. Von allen Arten der Kunst ist gerade die Poesie zu einem massentauglichen Instrument für die psychologische Selbsttherapie geworden.
Ja, häufig sind diese Gedichte nicht perfekt, holprig, kakofonisch, banal. Doch sie erfüllen die Hauptfunktion von Kunst: Es geht um den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, um den eigenen seelischen Zustand, um Sorgen und Hoffnungen. Das sind keine Gedichte für die Literaturgeschichte, Snobs und Kritiker*innen würden sie als Ergebnis von Schreibzwang bezeichnen, aber sie verschaffen Erleichterung, andere Menschen erkennen sich darin wieder, es kommt zum Zusammenwirken und die Magie des Wortes entfaltet sich. (Etwas Ähnliches findet im Übrigen auch bei Malerei statt: Ganz besonders Kinderzeichnungen bergen heute eine unglaubliche emotionale Kraft, oft bringe ich welche von den Kindern an die Front zu ihren Soldaten-Vätern und es ist unmöglich, sich ein besseres Bild vorzustellen als eines, das von ungeschickter Kinderhand gemalt wurde. Wenn du dir so ein "primitives" Gemälde anschaust, denkst du unwillkürlich: Durch ihre Hand malt Gott!")
Vor Kurzem habe ich auf Instagram die Stories von einer Bekannten angesehen, wo sie einen Screenshot vom Chatverlauf mit ihrem Mann gepostet hatte, der gerade im Krieg ist. Er hatte Wachdienst und schrieb ihr in der Nacht, als er keine Möglichkeit hatte zu schlafen, ein Gedicht über die Liebe und den Morgen. Als sie aufwachte, war dieses Gedicht in ihrem Messenger das Erste, was sie sah. Beim Lesen musste die Frau weinen. Dieses Gedicht mag gar witzig sein in seiner Einfachheit, aus literarischer Sicht mag es einfach furchtbar sein, doch wie wundervoll ist es aus Sicht eines einzelnen Menschen!
Ich glaube, dass die großen Romane über diesen Krieg erst im Nachhinein geschrieben werden, denn für gute Prosa braucht es Zeit, Abstand und emotionale Distanz. Poesie hingegen erfordert genau das Gegenteil: Unmittelbarkeit, Nähe und emotionale Involviertheit. Für Poesie muss man fühlen, brennen, und zwar sofort, in genau diesem Moment. Dank dieser Eigenschaften wurde die Poesie aufgrund ihres Wesens und aufgrund ihrer Kraft zur Königin der Kriegszeit, zur Regentin aller Künste.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Annegret Becker