Viktoria Amelina

Juri Durkot

Uschhorod, den 30. September, abends

Vor einigen Jahren gingen wir zu dritt – Viktoria Amelina, die Übersetzerin und Germanistin Chrystyna Nazarkewytsch und ich – nach einer Lesung auf ein Glas Wein. Ohne es uns lange zu überlegen, landeten wir in der Lesja-Ukrajinka-Straße. Es war eine spontane, aber gleichzeitig naheliegende Entscheidung. Diese Gasse am Rande der Altstadt war zu jener Zeit bereits aus der postsowjetischen Lethargie erwacht, hatte sich aber – anders als die Armenische oder Serbische – noch nicht in ein neues Mekka für Touristen verwandelt, die von überall her in immer größeren Mengen in die Stadt strömten. Es war ein warmer Septemberabend, unsere Wahl fiel auf eine kleine Kneipe mit ein paar minimalistischen Holztischen und -stühlen, die dicht an der Hausmauer auf dem Kopfsteinpflaster standen. Einfache, rechteckige geometrische Formen, stabil und ohne unnötigen Schnickschnack. Einige davon waren rot, andere schwarz.
Wir setzten uns auf rote Stühle an einen roten Tisch. Damals weckte Rot noch keine Assoziationen von Blut, es kontrastierte bloß mit Viktorias wie üblich schwarzer Kleidung. Wir sprachen über gute Literatur und gelungene Übersetzungen, spülten unsere Gedanken mit feinem transkarpatischen Wein herunter und genossen einen köstlichen transkarpatischen Käse. Wir witzelten und lachten, unsere Unterhaltung war leicht und entspannt, wie es so nach dem Regen oft ist. Wir haben ja nicht über Julien Sorel gesprochen. Viktoria mochte Hunde sehr. Ein charmanter Pudel Dominik, oder einfach Dom, der Haupterzähler in ihrem Roman “Ein Haus für Dom” sagt einmal, dass “ein Hund wie auf einer Landkarte pulsierende Stellen und ganze Flecken von Schmerz ... aufzeigen kann”. Die aktuellen russischen Verbrechen in der Ukraine zu dokumentieren wäre wohl zu viel für einen Pudel gewesen. Da waren andere Hunde gefragt – die Jagdhunde. „Truth Hounds“, die Wahrheitsjäger. Kein Zufall, dass Viktoria eine davon war. Die brutalsten, unmenschlichen Verbrechen der einen sind ganze Flecken von Schmerz für die anderen. Nein, nicht für die anderen – für uns alle. Nun blickt Viktorias schneeweiße Hündin, die „Wölfin“, von einem Foto auf dem Computerbildschirm, mitten auf einer verschneiten Wiese stehend, nicht nur verspielt und leicht verwirrt, sondern – wie es jetzt scheint – traurig und wie vorwurfsvoll, als würde sie fragen, wie es passieren konnte, wieso wir ihr Frauchen nicht gerettet, nicht beschützt haben ...
Im westukrainischen Uschhorod, bei der diesjährigen „Brücke aus Papier“, einem ukrainisch-deutschen Schriftstellertreffen, war alles fast genauso wie vor einigen Jahren in Lemberg. Gute Literatur und gelungene Übersetzungen, leichter transkarpatischer Wein und würziger Käse, interessante Begegnungen und geistreiche Witze, warme Septembersonne und eine Stadt, in der keine Raketen einschlagen. Nur Viktoria war nicht da. Sie wollte kommen, hatte es aber nicht geschafft. Sie wurde ein weiteres Teilchen unseres Schmerzes. Als wir ihrer gedachten, stellten wir uns vor, dass sie nur zu spät dran war. Als wir ihre Gedichte lasen, wünschten wir uns, dass es nur der Zug war, der aus irgendeinem Grund mitten auf der Strecke stehen geblieben war. Wir wussten, dass das nicht stimmte, aber wir konnten nicht anders. Denn anders wäre es schwer. Anders wäre es gar nicht möglich gewesen.

Seit dem ersten Kriegsmorgen hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine aus seinem Kriegstagebuch in Die Welt  auf dem Laufenden. 

Die Übersetzung ins Ukrainische ist von Halyna Petrosanyak.