Vorwürfe und Vorbehalte

JURKO PROCHASKO

Bis vor kurzem hätte man meinen können, der Kardinalfehler der meisten Deutschen in Bezug auf die Breitengrade östlich der EU-Ostgrenzen bestehe in zwei parallelen, unzertrennlich miteinander verbundenen und verflochtenen Tendenzen und Prozessen: einerseits die systematische und systemische Überschätzung, ja Idealisierung Russlands und andererseits die Unterschätzung, ja Entwertung anderer europäischer Länder im postsowjetischen Raum, insbesondere der Ukraine.

Es schien völlig hoffnungslos gegen dieses Ungleichgewicht anzukämpfen, es in Frage zu stellen. Zu groß waren die Unterschiede in Größe und Bedeutung, zu stark schienen die alten imperialen Reflexe. Die weit verbreitete Ignoranz gegenüber der Ukraine schien vollkommen folgerichtig und selbstverständlich. 

So sehr diese Ignoranz uns schmerzte, so sehr beruhte sie aber auch auf einem anderen Missverhältnis: die Ukrainer wissen über Deutschland und interessieren sich für Deutschland unvergleichlich mehr als es umgekehrt der Fall ist. Damit schien man sich in der Ukraine schon fast abzufinden, wie mit einer „natürlichen“ und „naturgegebenen“ Tatsache. Es ist eben so, dass unwichtigere und abhängigere Länder mehr Interesse und Leidenschaft für die wichtigeren und ausschlaggebenderen aufbringen als umgekehrt. Die Lösung schien demnach in einer langsamen Annäherung, am Zuwachs der deutschen Gewöhnung an die Faktizität der ukrainischen Existenz zu liegen, an der allmählichen „Normalisierung“ der Ukraine in den Augen der Deutschen im Laufe der Zeit, auch am Fortschreiten der Selbstverständlichkeit der ukrainischen Zugehörigkeit zu Europa und ergo die Anerkennung der Ukraine durch die Deutschen als „eine unter uns“.

Erst der große Angriff und die flächendeckende Invasion Russlands im Februar 2022 brachte die deutsche Gesellschaft dazu, mit aller Brutalität und Tragik mit den eigenen strukturellen Fehlwahrnehmungen konfrontiert zu werden: Deutschland hat – auf unterschiedliche Art und Weise – sowohl Russland als auch die Ukraine viel zu lange verkannt und missverstanden. Aber nicht nur das. Deutschland versteht nicht nur Russland und die Ukraine nicht, Deutschland versteht sich selbst weitgehend nicht.

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Die Liste ukrainischer Vorwürfe an „Deutschland“ und ukrainischer Vorbehalte gegenüber „den Deutschen“ ist ziemlich lang, unterschiedlich alt, recht imposant und durchaus vielfältig. Derart, dass es nicht möglich und auch nicht angebracht ist, sie hier in vollem Umfang und in ihrem historischen Ausmaß aufzurollen. Alleine die Vorwürfe neueren Datums, allesamt bereits aus den 2000er sind nicht nur erheblich und mitunter sehr schwerwiegend, sondern sie schienen sich innerhalb dieser Zeitspanne wie im Zeitraffer immer schneller und stärker zu häufen, um so immer gewichtiger zu werden. Ganz so als wenn sich eine unsichtbare historische Logik nun offenbaren und unheimlich beschleunigen würde.

Da ist die Verhinderung einer NATO-Mitgliedschaft-Verhinderung der Ukraine durch Deutschland (zusammen mit Frankreich) unter der Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Außenminister Steinmeier in Bukarest 2008, die aus heutiger Sicht vieler zur Katastrophe dieses Angriffs führte, aber von einigen schon damals prophezeit wurde.

Da ist das Unvermögen des gesamten Westens, Deutschland miteingeschlossen, in den gegen Tschetschenien geführten Kriegen das wahre Wesen des russischen Regimes herauszulesen, in dem gegen Georgien entfesselten Krieg und der darauffolgenden Besatzung und Spaltung des Landes etwas mehr zu sehen als einen lokalen Konflikt im postsowjetischen Raum, nämlich eine verhängnisvolle Verletzung der gesamten Weltordnung und vor allem das Austesten einer Vorlage und Blaupause für spätere Aggressionen gegen andere Länder und Völker, in Syrien und der Ukraine. Die Vorbehalte gegenüber Deutschland waren besonders stark gegen seine unerschütterliche Bereitschaft gerichtet, mit Russland trotzdem weiterhin ziemlich unbeeindruckt politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit immer weiter auszubauen.

Die ausgebliebene entschiedenere Reaktion auf die Krim-Annexion durch Russland und den Angriff auf die Ukraine 2014 und die damit in Verbindung gebrachten nicht ernst zu nehmenden „Sanktiönchen“ (in diesem Zusammenhang ist das Bonmot der Ukrainer der „tiefen Besorgnis“ legendär geworden). Das galt auch in Hinblick auf die Reaktionen auf den Abschuss des MH-17 Flugs über der Ukraine.

Die Aufnahme der Baupläne für die North Stream-2 Pipeline direkt nach der Krim-Annexion und das weitere sture und selbstgefällige Festhalten daran wie überhaupt an der privilegierten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Russländischen Föderation. Noch im Dezember 2021, als die russischen Truppen schon längst an den Grenzen der Ukraine standen, bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz ganz in der Tradition Gerhard Schröders, dass es sich bei der Pipeline um ein „privatwirtschaftliches Vorhaben“ handele – dabei hatte Moskau schon in den Jahren zuvor unmissverständlich klar gemacht, dass Nord Stream 2 ein gegen die Ukraine gerichtetes Projekt war.

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Natürlich gilt es, zwischen den ukrainischen Vorwürfen und Vorbehalten gegenüber dem heutigen Deutschland und dem historischen Deutschland, d.h. Deutschland zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte zu unterscheiden.

Denn es gibt auch reichlich Vorwürfe älteren Datums,  oder zumindest nachträglich zu solchen erhoben – von den zynischen Ausnutzungsstrategien des Deutschen Reiches gegenüber der Ukraine gegen Ende des Ersten  Weltkriegs, als die Anerkennung und Unterstützung ukrainischer Staatlichkeit nur gewährt wurde, um sich im Gegenzug an den Getreidevorräten zu bedienen.

Über die kolonialen, ausbeuterischen Absichten des „Lebensraums“, bei dem den ukrainischen Gebieten eine Schlüsselrolle zufiel, mit der anschließenden NS-Besatzung mit ihren Gräueltaten, mit den Deportationen und der Versklavung von Zwangsarbeitern, dem rassistisch motivierten Umgang mit der ukrainischen Zivilbevölkerung als „Untermenschen“, den Kriegsverbrechen, von dem zum entscheidenden Ausmaß gerade auf dem ukrainischen Territorium systematisch und vorsätzlich verübten Holocaust, auch dem durch die Kugeln, ganz zu schweigen.

Aber auch die bereitwillige, unmissverständlich von den eigenen mehr oder weniger verdrängten, mehr oder weniger unbewussten imperialen Haltungen bedingte Subsumierung der sowjetischen Völker, die gegen das Hitlerreich im Zweiten Weltkrieg kämpften, unter dem Gesamtbegriff der „Russen“. Diese Russifizierung der Sowjetunion hatte verheerende Folgen für die gesamte „Erinnerungspolitik“ der alten und neuen Bundesrepublik der Nachkriegsjahre, in der den „Russen“ die Rolle der eigentlichen Opfer des deutschen Nationalsozialismus zugeschrieben wurde. Den „Russen“ gegenüber habe man die gesamte historische Schuld zu tragen, sie seien die rechtmäßigen Besieger des deutschen Faschismus. In diesem Bild kamen die die Ukrainer entweder gar nicht erst vor, oder aber sie erschienen lediglich in der sehr fragwürdigen Gestalt von Kollaborateuren, willigen antisemitischen Handlangern und Helfershelfern der deutschen Nazis, also ausschließlich als Mittäter und Schuldträger, aber keineswegs als Opfer, Kämpfer gegen den Nationalsozialismus oder als Sieger über ihn. Der deutsche Kolonialismus und die Schuld gegenüber anderen Völkern Polens und der Sowjetunion gingen dabei aber vollkommen unter, genauso wie der gemeinsame deutsch-russische Imperialismus auf Kosten all jener Länder, die zwischen Russland und Deutschland lagen.

Kein Wunder daher, dass dem gesamten Befreiungskampf der Ukrainer gegen die Sowjets, der gesamten Dissidentenbewegung der 1960er – 80er Jahre, allen Versuchen, die Rechte der ukrainischen Sprache und den Status der ukrainischen Kultur in der Sowjetukraine zu stärken, von einem breiten Konsens in der Bundesrepublik äußerstes Misstrauen, Argwohn und oft genug offene Verurteilung entgegengebracht wurden.

Diese Haltung, gepaart und verstärkt durch die Dankbarkeit gegenüber Michail Gorbatschow für die Wiedervereinigung Deutschlands (auch übrigens ein Akt und ein Prozess, dem man schwer „den deutschen Nationalismus“ aberkennen kann) resultierte auch in den Bemühungen des Altkanzlers Helmut Kohl, die Werchowna Rada der USSR am 1. August 1991 von der Unabhängigkeitserklärung abzubringen und sie zum Verbleib in der UdSSR zu überreden.

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Genauso wichtig ist es, die spezifischen Vorbehalte der Ukrainer gegenüber den Deutschen von den allgemeinen Vorbehalten gegenüber dem Westen auseinander zu halten. Das ist nicht immer einfach, meistens aber ziemlich deutlich und auf jeden Fall notwendig. Denn sowohl die besonderen Bedeutungen, die Deutschland historisch in Bezug auf die Ukraine hatte, als auch der Anspruch, über eine besonders exzellente politische und wissenschaftliche Expertise über Osteuropa im Allgemeinen, Russland und die Ukraine im Besonderen zu verfügen, aber auch die selbständige und in vielem vom allgemein-westlichen Kurs und Diskurs abweichende politische Position und seine politischen Entscheidungen in den letzten Dezennien und Jahren, machen es unbedingt möglich und auch unbedingt notwendig, Deutschland als einen gesonderten und spezifischen Akteur zu behandeln.

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Es gibt aber ein Kapitel in den deutsch-ukrainischen Beziehungen der letzten Jahre, welches zwar eben nicht von spezifisch deutschen, sondern „allgemein-westlichen“ Reaktionen auf die ukrainischen Ereignisse und Geschehnisse gekennzeichnet ist, die Tatsache aber, dass auch Deutschland dabei eine besondere Rolle spielte, dass Deutschland sich überhaupt auch unter diesen Missverstehern befindet, löst bei den Ukrainern gerade deswegen ganz besonders großes Unbehagen aus und sorgt für eine ganz besonders ungläubige Verwirrung. Es handelt sich um die weit – viel zu weit in den viel zu großen Teilen der deutschen Gesellschaft verbreitete Verkennung der wirklich relevanten Inhalte, des zentralen Pathos und der allgemein-europäischen Bedeutung des Maidan-Geschehens 2013-2014. Und um die viel zu bereitwillige, viel zu gläubige Neigung, lieber den Putinschen propagandistischen Botschaften Glauben zu schenken in Bezug darauf, was wir Ukrainer die „Revolution der Würde“ nennen.

Das Schmerzvollste war: Deutschland hat unsere Revolutionen verkannt. Anstatt von Anerkennung und Begeisterung sind uns Angst und Rüge entgegengeschlagen.

Aber der größte und gröbste Vorwurf der Ukrainer an die Deutschen ist eben dieser: wieso habt ihr uns dermaßen verkannt? Oder noch schärfer und schmerzhafter: wieso wollt ihr eigentlich von uns nichts wissen?

Natürlich kann man weder Liebe noch Interesse noch Engagement erzwingen, das war uns immer schon klar. Selbstredend gebührt und gilt einem unvergleichlich größeren und wichtigeren Land wie Russland gleichsam naturgemäß auch größeres Interessenbedürfnis und daher größere Neugier. Auch das war uns immer klar, deswegen kann es sich gar nicht nur um eine einfache Eifersucht handeln.

Nicht um den Grad der Kenntnis geht es, sondern um den Grad der Unkenntnis. Denn wir fühlten uns von den Deutschen nicht nur lange und systematisch unterschätzt, sondern geradezu verzerrt missverstanden und profund verkannt. Dergleichen, dass es System aufweist.

Man könnte meinen, Deutschland hätte als erstes die Beschaffenheit von Putins Russland erkennen und davor zurückschrecken müssen - zurückschrecken nicht nur wegen des entsetzlichen politischen Regimes und der großflächig desolaten gesellschaftlichen Verfassung im Hier und Jetzt, nicht nur aufgrund der Monstrosität des menschenverachtenden Systems Putin und des weit verbreiteten Revanchismus und Ressentiments großer Teile der großrussischen Gesellschaft heute. Zurückschrecken nicht nur der auf Grund der besonderen Bedeutung, die Deutschland der Kooperation mit Russland in den letzten Jahrzehnten beimaß und die nun zu der Einsicht hätte führen müssen, was aus dem Freund und Partner geworden ist. Sondern auch aus einem sehr besonderen Grund zurückschrecken: weil wer, wenn nicht gerade Deutschland hätte aufgrund der eigenen Vergangenheit und deren angeblich musterhaften Bewältigung und Aufarbeitung besser die strukturellen Ähnlichkeiten erkennen und verurteilen müssen, die sich in so vielen Hinsichten zwischen dem „Dritten Reich“ und dem Reich von Putin auftaten.

In verschiedenen Abschnitten ihrer Geschichte sind die beiden Länder sich in diesen so erstaunlich ähnlich, vom verklemmten Imperialismus, Ressentiment, Revanchismus, Größenwahn mit historisch begründeten Ansprüchen, dem einem besessenen Führer Verfallen-Sein.

Nichts dergleichen aber geschah: das Äußerste, was deutsche Politiker wagten, waren vorsichtige Bedenken wegen der Menschenrechtenverletzungen und der endgültigen Demontage der eigentlich nie erreichten Rechtstaatlichkeit anzumahnen. Was aber die immer aggressiver und expansionistischer werdende Außenpolitik, die Art und Weise, wie Russland mit sehr deutlich imperialen Methoden und Mitteln seine angeblichen außenpolitischen „Interessen“, tatsächlich aber seine neo-imperiale Ambitionen durchsetzte, dem gegenüber blieb man in Deutschland erstaunlich und bewundernswert blind und taub.

Da versagte sowohl die viel gerühmte Osteuropa-Expertise (trotz der vielen Fachleute für Russland), da versagte schlicht die Vernunft, eine basale Beobachtungs- und Vergleichsgabe. Man war in Deutschland nicht fähig, weder die eklatanten aktuellen Verhältnisse angemessen einzuschätzen, noch historische Parallelen zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu ziehen.

Man könnte meinen, Deutschland hätte unter den ersten sein müssen, die den ukrainischen Freiheitsdrang erkennen und anerkennen – war Deutschland doch selbst geteilt und ein Teil davon so lange unfrei. Nichts dergleichen. Das Gegenteil war der Fall.

Für uns Ukrainer war das ein eindeutiges Warnsignal, dass so viele Teile der deutschen Gesellschaft diese ukrainische, europäische Revolution verkannten. Es war nicht nur ein Zeichen dafür, dass es um das deutsch-ukrainische Verhältnis nicht gut bestellt war, sondern dass die früheren „Missverständnisse“ keineswegs nur sporadisch und zufällig waren, sondern einen systemischen Charakter hatten, der wiederum höchstwahrscheinlich mit „dem deutschen historischen Komplex“ verbunden ist und vermutlich relativ tief in der Geschichte wurzelt und daher kaum reflektiert wird – dafür aber umso wirkmächtiger ist.

Gerade damals wurde der Ernst der Lage von uns Ukrainern erkannt, und einige von uns, aber auch unsere Diplomatie machten sich an eine nach Kräften systematische Aufdeck- und Aufklärungsarbeit für die deutsche Öffentlichkeit.

Gerade damals ist in der Ukraine auch der Typus des öffentlichen Intellektuellen aufgekommen und außerordentlich  oft wurden diejenigen befragt, die den Ukrainern die Deutschen und Deutschland zu erklären suchten: wieso konnte es überhaupt dazu kommen, dass Deutschland uns so profund verkennt? Welche Faktoren sind da im Gang?

Der große Krieg Russlands gegen die Ukraine, die flächendeckende Invasion seit 24. Februar 2022, aber auch die Zeit unmittelbar davor, als dieser Vormarsch in Vorbereitung lag und die ukrainischen Staatsgrenzen immer dichter von russischen Truppen umstellt waren, die Struktur ukrainischer Vorwürfe – aber auch umgekehrt, deutscher Vorbehalte gegenüber der Ukraine – in ein besonders krasses Licht gerückt.

Da war die unglaubliche Langsamkeit, die Verleugnung des Ernstes der Lage, die nicht zu fassende Zögerlichkeit der deutschen Politik, aber auch die offen ausgesprochenen Erwägungen, ob die Ukraine nicht lieber  gleich aufgeben sollte angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse, die weit verbreitete Resignation und die Bereitschaft, sich „den natürlichen Läufen der Geschichte“ zu fügen – bis dann der große Durchbruch kam, genannt die  „Zeitenwende“. Aber auch danach kommen aus verschiedenen, sehr unterschiedlichen Teilen der deutschen Gesellschaft immer wieder Apelle zur „Beendigung“ dieses Krieges.

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Es wäre irrig, verkehrt und völlig ungerecht, zu behaupten, Vorwürfe und Vorbehalte wären alles, was die Ukrainer gegenüber den Deutschen vorzuweisen haben. Ja, Vorwürfe stehen nicht einmal im Vordergrund und nicht sie bestimmen den Grundton und den Grundcharakter ukrainischer Einschätzungen und ukrainischer Einstellungen zu Deutschland, seiner Gesellschaft und seiner Politik.

Nein, die Liste enthält auch jede Menge Anerkennung und Dankbarkeit, unverfälschte Bewunderung und ehrlichen Respekt gegenüber Deutschland. Diese Liste ist mindestens genauso lang, nur beinhaltet sie eben andere Punkte. Es wäre nun wichtig, diese beiden Listen miteinander abzugleichen und vielleicht auch aufeinander zu beziehen. Nun zeugt dieses Respektieren deutscher Besonderheiten und dieser Respekt für deutsche Befindlichkeiten wirklich vom Verständnis dessen, was in den Deutschen vorgeht?

Und doch alleine die Beständigkeit dieser Vorbehalte, ihre strukturelle Wiederholung – wie die Wiederholbarkeit ihrer Anlässe – lassen darauf schließen, dass die ukrainische Einstellung zum heutigen Deutschland von einer Ambivalenz gekennzeichnet ist, die weder zu übersehen, noch weiter zu ignorieren und schon gar nicht zu vernachlässigen ist.

Denn wenn sich etwas verändert hat in der Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland, dann ist es die Gewichtung ihrer Bedeutung. Es ist nicht mehr möglich, die Ukraine als ein – im Vergleich mit Russland aber auch insgesamt – nebensächliches Land zu sehen, dessen Rolle nicht so entscheidend ist, sodass man sich auch weiterhin leisten kann, die vorhandenen und sehr wohl registrierten Spannungen und Verärgerungen geflissentlich zu ignorieren. Und das nicht nur etwa, weil die Ukraine sich plötzlich als so wichtig, etwa für die Sicherheit in Europa, für die Verteidigung von grundsätzlichen europäischen Werten, demokratischer Ordnung oder der liberalen Freiheiten herausgestellt hätte. Das natürlich auch. Aber auch deswegen, weil es sich erst jetzt, erst mit dem großen Krieg gezeigt hat, dass nicht alle ukrainischen Warnungen und Einschätzungen, wie auch nicht alles, was an Einschätzung aus Osteuropa kommt, unbedingt der Paranoia oder dem anti-russischen Ressentiment geschuldet sein muss. Denn es geht am Ende um das allgemeine Verständnis dessen, wie die heutige Welt beschaffen ist und was man davon zu erwarten hat. Und diese Sichtweisen scheinen sich in verschiedenen Teilen Europas dramatisch zu unterscheiden.

Aber vor allem, weil die Stellung und die Einstellung gegenüber der heutigen Ukraine etwas sehr Wichtiges an Deutschland selbst offenbart, viele seiner strukturellen mentalen Unwägbarkeiten besonders deutlich zum Vorschein bringt und daher vielleicht auch ein transformatives Potential für Deutschland und Europa bergen könnte, zumindest die Fähigkeit besitzt, sie dazu zu bringen, sich und einige eigenen Dispositionen in Frage zu stellen.

Ein guter Teil der Expertenanalysen und öffentlichen, publizistischen Debatten in der Ukraine über Deutschland ist der Frage gewidmet, warum Deutschland eine so merkwürdige Haltung einnimmt gegenüber diesem Krieg. Und das Deutschlandverstehen und das Deutschlanddeuten ist zu einem eigenen Zweig geworden, wo es mitunter sehr leidenschaftlich zugeht: Entrüstung mischt sich mit Verachtung, Entsetzen gesellt sich zum Ressentiment, alles von der Fertigkeit begleitet, mehr oder weniger treffende historisch-genetische Auslegungen zustande zu bringen.

Dass Deutschlands Haltung uns nicht nur nicht gleichgültig ist, sondern dass diese Haltung aufgrund der Bedeutung und des Einflusses Deutschlands sich auch existenziell auf das Schicksal unseres Landes auswirken kann, versteht sich von selbst.

Doch kann man beinahe zum ersten Mal deutlich beobachten, dass sich die Ukraine sehr vehement dagegen wehrt, ein bloßes Objekt der deutschen Einstellung zu sein und sich sehr intensiv bemüht, die Wahrnehmungen und Einschätzungen in Deutschland auch aktiv zu beeinflussen.  Es müsse darum gehen, die liebgewonnenen Einstellungen in Frage zu stellen und noch besser, sie zu dekonstruieren, ja, einige ukrainische Intellektuellen erheben den Anspruch, durch die Erklärung des Wesens und am Beispiel der Ukraine Deutschland zum Nachdenken über sich selbst zu bringen. Deutschland soll anhand der ukrainischen Position im Krieg sich selbst umgestalten und sein Bild von sich und der Welt transformieren.

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Freilich gibt es nicht nur ukrainische Vorwürfe und Vorbehalte gegenüber Deutschland, sondern auch deutsche Vorbehalte und Vorwürfe an die Adresse der Ukrainer. Allerdings dürften diese, allein schon wegen der geringen Kenntnisse der Ukraine und ihrer Geschichte weniger bedeutend sein als umgekehrt. Das Wichtigste dabei aber scheint: unsere Vorwürfe an die Deutschen sind die unmittelbaren Reaktionen auf ihre Einstellungen und Handlungen uns gegenüber, und diese sind wiederum meistens Folgen von deutschen Vorstellungen darüber, was die Ukraine und das Ukrainische ausmacht.

Dem auf den Grund zu gehen, was sie ausmacht, seien es historisch bedingte Vorurteile, geschichtlich gewachsene Reflexe, die Folgen von Ignoranz, oder aber berechtigte kritische Einschätzungen an den politischen Verhältnissen in der Ukraine, wäre eine wirklich wichtige Angelegenheit, gerade in den heutigen Tagen.

Zwei Dinge stehen aber fest: Erstens, dass die deutschen Vorbehalte gegenüber der Ukraine deshalb schon nicht so umfangreich sind wie es umgekehrt die ukrainischen gegenüber den Deutschen sind - einfach schon aus dem Grund, weil der Stellenwert der Ukraine in den Augen der Deutschen nicht im entferntesten mit demjenigen Deutschlands in der ukrainischen Wahrnehmung vergleichbar ist.

Zweitens: es hat ganz den Anschein, dass die deutschen Vorbehalte gegenüber der Ukraine zwar nicht so zahlreich sind, wie umgekehrt, dafür aber möglicherweise einen strukturellen Kern, ein systemisches Zentrum aufweisen, das in allen Verhältnissen und Wahrnehmungsmodi unterschwellig präsent bleibt, und diese unabdingbare Präsenz sorgt auch für die Beständigkeit deutscher Einstellungen, Einschätzungen und Verkennungen der Ukraine.

Dies lässt es als sehr plausibel erscheinen, dass die deutschen „Fehlleistungen“ der letzten Jahrzehnte in Bezug auf die Ukraine, bei aller tatsächlichen und anscheinenden Heterogenität doch mindestens ein gemeinsames Motiv aufweisen.

Und dieses Motiv ist womöglich die spezifische deutsche Lesart und das spezifisch historisch bedingte Verständnis des Begriffs Nationalismus, die dann im Falle der Ukraine in vielen falschen Auslegungen münden und eben zur Verkennung führen.

Natürlich kann man die ganze Menge dieser Einstellungen, falschen Einschätzungen und Fehlleistungen nicht auf ein einziges Motiv und eine einzige Ursache zurückführen und reduzieren. Und dennoch: vielleicht könnte die Aufklärung in diesem einen Sachverhalt dazu beitragen, die vertrackte Komplexität etwas durchsichtiger zu machen.

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Das Wichtigste, was aber festzuhalten ist: der Kardinalvorwurf, der wichtigste Vorbehalt und daher auch der Hauptquell des Misstrauens und oft auch der Missbilligung dem Ukrainischen gegenüber ist der Vorstellung und oft der Überzeugung entsprungen, alles Ukrainische sei sehr bis äußerst nationalistisch, die Träger der ukrainischen Identität seien verkappte Nationalisten, die nicht nur ihren vermeintlichen liberalen Schein vorgaukeln würden, sondern in ihrer Gesinnung und Weltsicht eigentlich modernitätsunfähig sind.

Zumindest im linken und liberalen intellektuellen und akademischen Milieu in Deutschland dominiert eine bestimmte Vorstellung der Idee des Nationalismus. Schon der Begriff ist äußerst negativ konnotiert, und wenn wir von nationalen Bestrebungen sprechen, stößt das auf eine ablehnende Wand.

Klar war bis Februar 2022 auch, dass Deutschland die Ukraine kaum kennt und kaum kennen will. Überdeutlich war auch, dass Deutschland ein besonderes Verhältnis zu Russland hat und haben will, dieses Russland aber auch überhaupt nicht kennt und nicht versteht, ein besonderes, partnerschaftliches Verhältnis aber unbedingt aufrechterhalten will, um jeden Preis. In dieser Vorstellung eines besonderen deutsch-russischen Verhältnisses wird die Ukraine entweder als Teil Russlands gedacht oder als anti-russisch.

Unmissverständlich war auch, dass Deutschland diese liebgewonnenen Einsichten und Eigenschaften nicht verlassen und nicht revidieren will. Denn sie sind ein integraler Teil seines Nachkriegsselbstverständnisses, das so schwer erarbeitet schien. Und in Wirklichkeit mit erstaunlicher Leichtigkeit kam.

Offenkundig wollte Deutschland zwar seine internationale Verantwortung nicht wahrnehmen, weil es sie nicht wahrhaben wollte. Und dennoch hatte Deutschland den Anspruch und erhob ihn auch immer wieder, in der Europäischen Union führen zu wollen auf der Grundlage von Überzeugungen und moralischen Prinzipien, die es sich nach 1945 erkämpft zu haben schien.

Nicht zu übersehen war die Selbstzufriedenheit und die Überzeugung, sich im Besitz der Wahrheit zu befinden und diese Wahrheit auch von der Kanzel predigen zu müssen, nicht nur zu können. Der Wohlstand und die Wiedervereinigung verstärkten diese Überzeugung und diese Hybris.

Dass dieser Wohlstand nicht nur auf der Arbeitsfähigkeit der Menschen, nicht nur auf der Geschicklichkeit der deutschen Politik, sondern auch auf Heuchelei und eigentlich der Verdrängung von Teilen der eigenen Geschichte fußte, wollte die deutsche Gesellschaft lieber nicht bemerken.

Die deutsche Vorstellung von Russland und der Ukraine sind dafür ein Beispiel: die beinahe automatische Dämonisierung des ukrainischen „Nationalismus“ ging einher mit der Verkennung und Verharmlosung des russischen Imperialismus. Diese beiden Linien ziehen sich erstaunlich langlebig durch die deutsche Mentalitätsgeschichte. Es ist nicht zu übersehen, dass sie sich auch gleichzeitig bedienen und bedingen.

Einer der Hintergründe dieser Entwicklungen – oder besser gesagt Konstanten – ist selbstverständlich der völlig unterschiedliche Grad der Kenntnis: während Russland – scheinbar, wie sich zeigen wird – bestens präsent, bekannt, erforscht schien, blieb die Ukraine bis zum dem 24. Februar 2022 wirklich eine Terra incognita. Durchaus verständlich: unterschiedliche Größe, unvergleichbare Gewichtung etc. Aber ist das nicht auch der Effekt des kolonialen Status der Ukraine? Und tut sich Deutschland nicht erstaunlich leicht, dieses Spiel erstaunlich leichtfertig und bereitwillig mitzuspielen? Liegt das nicht etwa am eigenen (verdrängten) überwunden geglaubten deutschen Imperialismus?

Das macht die Sache nicht einfacher, sondern viel vertrackter, weil die Fehlwahrnehmung der Ukraine nur möglich ist in dieser Koppelung mit der Ignoranz.

Aber nicht nur das. Diese Bereitschaft zu Entstellungen und Fehlinterpretation ist auch strukturell und historisch bedingt, und sie verrät einiges darüber, was die Deutschen vor sich selber zu verbergen haben. Genauso wie die erstaunliche Bereitschaft, Russland zu verklären und mit ihm zu kooperieren, seine Lesarten und Gesichtspunkte, seine propagandistischen Formen und Formulierungen nicht nur leichtfertig, sondern auch bereitwillig zu übernehmen und zu teilen. Bis hin zu der Behauptung, eine eigene Nation Ukraine gibt es schlichtweg gar nicht – oder in etwas gemilderter Ausprägung: ist bloß ein Teil, eine Spielart, eine (abtrünnige) Verirrung, ein schleunigst wiedergutzumachendes Missverständnis, ein verführtes Opfer von (feindlichen) irrtümlichen oder bösartigen Intrigen – und daher auch kein richtiger Staat. (Die Reflexe dieser Einstellung konnte man sogar ein Jahr nach der russischen Totalinvasion bei der Leuchte des liberalen Denkens vernehmen, Jürgen Habermas. In welchem Maß ist Habermas ein Maßstab? Jedenfalls ist er maßgeblich genug.)

Die Unkenntnis der Ukraine ist also nur zum Teil eine Folge der Ignoranz. Zum anderen Teil ist es ein Mechanismus, eine unbewusste Strategie, die Methode hat und viel verrät.

Die Angelegenheit mit dem Nationalismus-Verständnis in Deutschland ist komplex und vielschichtig, sie geht weit hinaus über die plumpe Beobachtung, das deutsche Verhältnis zum Patriotismus sei verkrampft, oder die Feststellung, die Deutschen haben ein Problem mit dem Nationalismus. Denn der deutsche gesellschaftliche und akademische und meinungsbildende Mainstream hat mehrere gewichtige Probleme mit dem Nationalismus. Diese Problematik weist aber einige entscheidende Momente aus:

Erstens kennt die deutsche Gesellschaft nach Napoleon keinen anderen eigenen Nationalismus als den imperialen und chauvinistischen: der Begriff des Nationalismus ist daher im deutschen Koordinatensystem sehr stark und aber auch äußerst exklusiv belastet. Dazu trägt nämlich auch die historische, begriffliche akustische und praktische Nähe zum Nationalsozialismus bei. Der deutsche Nationalismus ist innerhalb von diesem Paradigma rassistisch, verbrecherisch, räuberisch, kriminell, faschistisch, staatlich organisiert,unterstützt und ideologisch genährt. Der Quell allen Übels. Daher muss man sehr aufmerksam sein gegenüber allen seinen Erscheinungen und sie im Keim bekämpfen und ersticken, denn der Nationalismus führt ontologisch und teleologisch eben nur zu einem: zu Hitler, dem „Dritten Reich“, zum Krieg, Holocaust. Jedem Nationalismus ist daher zu misstrauen, und es ist allemal besser, jegliche mit „national“ assoziierten – sicherheitshalber auch kompromisslerische oder eher harmlose Erscheinungsformen aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Politisch heißt das postnational. Analytisch heißt das Reaktionsbildung.

Freilich war es dahin ein langer Weg. Erst in den 1990er Jahren setzte sich in der Erinnerungskultur Deutschlands das Schuldbekenntnis für die Verbrechen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieg wirklich durch. Daher war der Begriff des Nationalismus einer des Bösen und Objekt der Verurteilung, Verbannung, Ausrottung, Bekämpfung und Verfolgung. Es galt, den Nationalismus schleunigst auszutreiben.

Das war und bleibt alles sehr ehrlich und auch immens glaubwürdig.

Alleine: das hat Folgen. Unerwünschte wie unbewusste. Eine ist zur Genüge reflektiert worden: die deutschen Nationalgefühle finden sich über ihre Kanalisierungen zum Teil recht bizarre und oft beunruhigende Formen. Eine Reaktion ist ein extremer und neo-nazistischer Nationalismus, der in den letzten Jahren wieder enormen Aufwind hat. Eine eher harmlose Form ist der Stolz auf die deutsche Sprache und Kultur (das hindert aber trotzdem viele nicht im Geringsten daran, den Anderen, z. B. den Ukrainern, ihr Recht auf die eigene Sprache abzuerkennen und sich zu echauffieren, wieso man auf so atavistische Identitätsformen beharrt, das ist doch ein Ausdruck übelsten Nationalismus!).

Eine andere Form ist es aus der vermeintlich vorbildlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte die Legitimation abzuleiten, andere Länder zu rügen und zu belehren – in anderen Völkern nach Nationalisten und Kollaborateuren zu suchen und zu verlangen, dass man es dort genau den Deutschen gleichtut – verurteilt und verfolgt.

Für den deutschen Mainstream wie auch für die deutsche Vergangenheitsbewältigung und Schuldaufarbeitung, ist der Begriff des Nationalismus auch in den bestgemeinten Vorsätzen der Erinnerungspolitik, mit schwersten Verbrechen des Nationalsozialismus, des Hitler-Faschismus und des verbrecherischen Eroberungskriegs um den Lebensraum assoziiert.

Während der Aspekt des eigenen bösartigen Nationalismus überdeutlich herausgearbeitet, exponiert und verurteilt wird, werden gleichzeitig zwei andere, zwar mit dem deutschen Nationalismus in diesem Fall aufs Engste verquickte, aber grundsätzlich damit nicht zwingend gekoppelte Aspekte übersehen oder zumindest unterschätzt: der Imperialismus und der Kolonialismus, die ja prinzipiell auch ohne die nationalistische Zutat praktiziert und verübt werden können.

Nun ist der alte deutsche Nationalismus tatsächlich mit Chauvinismus, Imperialismus und Kolonialismus eminent verbunden, bildet mit ihnen eine beinahe nicht zu differenzierende Einheit, aber genau diese Komplexität, oder besser gesagt dieser Komplex macht es umso möglicher die gedankliche Operation der Vereinfachung und der Verkürzung: der Nationalismus wird gerne eingesehen, eingestanden und verurteilt, während die beiden anderen Phänomene umso leichter außer Acht geraten, bzw. verdrängt werden.

Infolgedessen gerät beispielsweise der von den deutschen Nazis gebrauchte Begriff des Nationalismus zur einzig möglichen, einzig denkbaren und praktizierten Form. Aber gerade diese Verdrängung macht die ganze Angelegenheit mit dem Umgang sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine so problematisch. Wir werden darauf noch eingehen.

Derweil ist auf jeden Fall festzuhalten, dass die neuere und neueste deutsche Geschichte keine andere Erscheinungsform des eigenen Nationalismus kennt als eben einen mit imperialistischen und kolonialistischen Aspekten aufs Intensivste vermengten. Mit dieser Spielart hängt nun die kollektive Erinnerung an das große kollektive Verbrechen des deutschen nationalen Kollektivs zusammen. Es ist daher nicht schwer – aber deshalb auch nicht unbedingt richtig – anzunehmen und an diese Annahme zu glauben, sie als einen Satz zu vertreten, jeder Nationalismus führe letzten Endes zum Verbrechen und Vernichtungskrieg gegen andere.

Dies ermöglicht aber auch die Sichtweise, die den Schrecken des Holocausts und eigene Schuld dafür ins Zentrum des verbrecherischen Kriegs und der Selbstwahrnehmung stellt, dabei aber geflissentlich eben seine imperialen und kolonisatorischen Aspekte marginalisiert, kleinredet, gering schätzt und übersieht, wie beispielweise den Kampf um den Lebensraum, die Vernichtung, Terrorisierung und Vertreibung der dort lebenden einheimischen Menschen oder deren Versklavung als Zwangsarbeiter für Deutschland.

Was der typischen deutschen Auffassung des Nationalismus aber auch komplett fremd ist und völlig abgeht, ist die Einsicht in die befreienden, freiheits- und unabhängigkeitsstrebenden, emanzipatorischen, aber eben antikolonialistische und antiimperialistischen Aspekte, Praktiken, Gesinnungen und Zielsetzungen – kurz Charakter – eines Nationalismus.

Der ukrainische Nationalismus ist in seinem historischen Werdegang, seiner Gestaltung und Gesinnung, seiner ganzen Genese und seinem Pathos vor allem gerade ein solcher.

Die mangelnde deutsche Erfahrung mit dieser Spielart des Nationalismus hat nicht nur komplettes Unverständnis, nicht nur mangelnde Empathie zur Folge, sondern – wie die Geschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen und bezeugen – führt – ja, geradezu verführt - diese Leerstelle der anderen Erfahrung und daher auch der politischen Imagination zu massiven Projektionen.

Die Deutschen projizieren in jedes Phänomen mit der Bezeichnung Nationalismus nämlich ihre eigenen Erfahrungen. Sie projizieren aber auch ihre durch die Reaktion gebildeten eigenen verbrecherischen Aspekte. Mit anderen Worten: sie sehen in den Ukrainern der Vergangenheit und aber auch der Gegenwart potenziell sich selbst in den schlimmsten und bösesten Zuständen und Erscheinungen.

Und sie wittern immer Böses – unterschwellig oder schon manifest – in allen Taten und Träumen und Bestrebungen der Ukrainer, weil sie überzeugt sind, diese sind vom bösen Nationalismus geblendete und getriebene, und das kann nur zu einer Katastrophe als Ergebnis führen.

Gleichzeitig und aus genau denselben Gründen solidarisieren sie sich mit der großrussischen Propaganda und ihren typischen Verleumdungen der national bewussten Ukrainer. Diese Solidarität hat zwei Gründe: einen ersichtlichen, bewussten, und einen unbewussten.

Der bewusste Grund ist: sie sehen in den Großrussen, irrtümlicherweise, Feinde und Bekämpfer des partikularen Nationalismus und die Wahrer und Vertreter des humanistischen Universalismus.

Daher können die Deutschen sich umso schneller auch mit deren Hass und Bekämpfung eines jeden ukrainischen Nationalismus identifizieren, weil sie darin die böse partikularistische Kraft sehen, die den Universalismus zu unterminieren und zu zersetzen sucht.

Der Punkt ist nicht einmal, dass auf diese Weise der genuin imperiale und kolonialistische Charakter des russischen Nationalismus übersehen und kleingespielt wird, sondern sein Chauvinismus.

Der eigentliche, der unbewusste Grund ist aber darin zu suchen, dass sich die Deutschen in Wirklichkeit vor allem mit dem großrussischen Imperialismus solidarisieren, weil der eigene verdrängt und negiert wird. Und diese Begegnung imperialer Gesinnungen sozusagen auf Augenhöhe, macht die großrussische imperiale Logik umso nachvollziehbarer.

So ist es ganz schwer für die Deutschen, das perfide Umkehrspiel der Großrussen zu durchschauen, in dem sich die imperialen Chauvinisten mit kolonisatorischen Ansprüchen als lupenreine Träger des Universalismus - im Sowjetreich hieß es (proletarischer) Internationalismus – gerieren und alle, die sich von diesem Imperialismus befreien, sich dagegen auflehnen, ihre Identität bewahren wollten und wollen gleich als Nazis und Zerstörer der vermeintlich universalen Einheit verunglimpfen.

Deshalb glauben so viele Deutsche dieses Spiel, in dem die guten und edlen Weltmenschen, die Großrussen, der nationalistischen Barbarei Halt gebieten wollen (und müssen!). Russland erscheint so als Träger eines „Antinationalismus“, mit dem man sympathisiert, während alle Träger des vermeintlich bösen, emanzipatorischen Nationalismus verdammt werden.

Ein wirklich sehr schwer zu durchschauendes Konstrukt, das aber gerade deshalb unbedingt einer Dekonstruktion harrt und bedarf.

Daher rührt dieses Misstrauen gegenüber den ukrainischen Ambitionen und politischen Projekten der letzten Jahrzehnte: sei es, die eigene staatliche Souveränität seit 1991, die Majdans von 2004 und 2013/14, die ukrainischen Revolutionen der Würde, ja, ihren Bemühungen, ihre territoriale Integrität und kulturelle Identität zu verteidigen.

Verstärkt wird dieser Prozess durch die Solidarität mit dem als ebenbürtig angesehenen Partner Russland, der jenen Imperialismus weiter betreibt, den Deutschland in der eigenen Geschichte verdrängt hat. Man findet im Gegenüber anziehend, was man sich selbst verbietet oder nicht mehr gestattet oder schlicht sich nicht mehr leisten kann.

Die Nationalisten sind immer diejenigen, die sich den „allgemeinen Menschenwerten“ entgegensetzen, sie angreifen und zerstören wollen. So haben stets die Großrussen und dann die Sowjets argumentiert, um den eigenen Imperialismus zu tarnen, schönzureden und zu verteidigen.

Allerdings wird alles noch komplizierter: denn natürlich gab es in der Geschichte der ukrainischen Nationalbewegung Zeiten und Formationen, die den schlimmen und wirklich faschistischen integralen Nationalismus vertraten. Dies waren aber sowohl zeitlich als auch hinsichtlich der Stellung und dem Einfluss nach erstens nicht die einzigen und zweitens nicht einmal die ausschlaggebenden Erscheinungsformen des ukrainischen Nationalismus.

Die einzige dieser Formationen hat sich in der frühen Zwischenkriegszeit etabliert, von den Ideen des italienischen Faschismus und auch den deutschen Nationalsozialismus inspiriert. Teile davon haben dann auch tatsächlich mit den deutschen Nazis kooperiert und kollaboriert. Die Tatsache, dass sie sich dann aber von den Deutschen abwandten als diese einen eigenen ukrainischen Nationalstaat nicht unterstützten und dann auch gegen NS-Deutschland kämpften, ist an dieser Stelle genau sowenig entscheidend wie die Tatsache, dass einige dieser Nationalisten von NS-Deutschland verfolgt und hingerichtet wurden. 

Entscheidend aber ist: es war die Strategie der Sowjets, ausgerechnet diese verhältnismäßig geringfügige, obwohl nicht immer marginale Strömung des historischen ukrainischen Nationalismus für den ukrainischen Nationalismus schlechthin auszugeben, in dem sich die wahre Natur aller ukrainischen Ambitionen zeigte. Und so kam es, dass der Wunsch, die eigene Sprache zu sprechen und pflegen zu dürfen, dem Nazismus deutscher Art und Prägung gleichgesetzt wurde und daher auch gleichkam.

So sind in der sowjetischen Propaganda alle national bewussten Ukrainer zu Bandera-Nazis geworden. Ja, sie wurden in diese enge Rolle genau deswegen auch getrieben, um dann noch triumphierend sagen zu können: ja, seht her, was haben wir euch denn gesagt -  das Ukrainische ist Ausdruck einer nazistischen Weltanschauung.

Das wäre nicht so verwunderlich, an und für sich nicht, denn das sind probate Mittel imperialer Propaganda, wenn nicht die auf den ersten Blick – aber nur auf den ersten – völlig kuriose und erstaunliche Identifizierung der Deutschen mit dieser Lesart der Ukrainer wäre.

Plötzlich waren es auch die Deutschen – und je aufgeklärter, je anti-nazistischer, je antifaschistischer, die in den Ukrainern, die nach Unabhängigkeit strebten, Nazis und Nazi-Handlanger sahen und sogar die sowjetischen und russischen Praktiken sie zu bekämpfen, guthießen.

Gleichzeitig waren viele Deutsche geneigt, die Sowjetunion mit Russland gleichzusetzen und sie als eine große und friedliche universalistische, internationalistische, antinationalistische und antifaschistische Macht zu sehen. Gegen so eine Größe war es leicht, sich zu der eigenen Schuld zu bekennen, es war auch sehr entlastend, mit einer solchen Größe „Ostpolitik“ zu betreiben.

Man muss nicht sehr schlau sein, um einzusehen, weshalb das aus vielen – viel zu vielen – Gründen für die Deutschen eine sehr gewinnbringende Sichtweise war.

Vor allem konnte man schon wieder eine Täter-Opfer Umkehr betreiben, indem man in den Ukrainern nicht die Gepeinigten und Verfolgten sah, sondern bestenfalls das eigene Ebenbild: sie sind so schlimm wie wir selbst es einmal waren. Im schlimmsten Fall wurde daraus der Schluss gezogen: recht ist es diesen Verbrechern geschehen!

Ja, mehr noch: jetzt hatte man die Einheimischen, denen man nun im Gestus des Lehrmeisters den richtigen Weg der eigenen Läuterung predigen konnte, ihren Nationalismus als barbarisches Festhalten an ihren archaischen Gelüsten verurteilen und ihn zum unüberwindlichen Hindernis erklären konnte, um zum modernen Europa dazuzugehören.

Das ist aber eben nur die eine Ebene. Denn es gibt noch mehr. Nicht nur die entlastende Schuld, wenn die Verantwortung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust mit anderen geteilt werden und so gezeigt werden kann. Nicht nur, dass sich Millionen von getöteten und versklavten Ukrainern besser verdrängen lassen, wenn man sie vor allem als Mittäter sieht.

Nicht einmal, dass man sich so seiner selbst vergewissern kann als Mensch mit klarem moralischen Kompass, der klar zwischen Böse und Gut unterscheidet, sich zu seinen Taten bekennt, sie bereut und Abbitte leistet, und das Böse aber gnadenlos verurteilt, das man in der Ukraine zu erkennen glaubt.

Sondern vor allem, dass man sich dadurch in einem sehr bequemen und positiven Weltbild einrichten kann: die (in Wirklichkeit sehr einseitige) Aufarbeitung eigener historischer Schuld, mit allen moralischen Gewinnen, die auch in jeder Hinsicht sehr gewinnbringende Ostpolitik und eine klare und aufgeklärte, sehr fortschrittliche weltanschauliche Orientierung darüber hinaus.

In diesem idealen Selbst- und Weltbild gab es keinen Platz für die Ukrainer als etwas Eigenem. Demnach gab es für sie nur zwei Möglichkeiten: entweder waren sie dort nicht vorhanden (wie auch die Ukraine vor 1991 für Deutschland nicht existierte, und am bequemsten wäre es gewesen, sie wäre auch gar nicht aufgetaucht), oder sie störten nur unheimlich, weil sie diese perfekten Verhältnisse durcheinanderbrachten und diese Selbstgewissheiten irritierten. Und dann auch noch Europa mit Revolutionen, vermeintlichen „Krisen“ und Kriegen überzogen – davon sind nicht wenige in Deutschland überzeugt. Die Ukraine ist in dieser Lesart vor allem ein Störenfried in den deutsch-russischen Beziehungen, die man sich wünscht – und zwar weitgehend unabhängig davon, wie Russland sich entwickelt.

Fassen wir zusammen: die spezifisch deutsche, historisch verwurzelte Lesart des Nationalismus, die strukturelle Schwierigkeit, sich einen anderen Nationalismus zu denken als den (ehemaligen) eigenen, imperialistischen und chauvinistischen, einen anderen Nationalismus nachzuempfinden, den befreienden, antiimperialen, antikolonialistischen und emanzipatorischen, inklusiven und auf der Vorstellung einer politischen Nation gründenden; die Unfähigkeit, die ukrainische Ausprägung des Nationalismus als mit den Erfordernissen der modernen Welt kompatibel zu sehen; die unbewusste Projektion dieser einzig zugänglichen Form des eigenen, zu eliminierenden Nationalismus auf Andere. Im Falle der Ukraine hat dies  zu weitreichenden Vorurteilen und Vorbehalten geführt, aber auch zu vielfältigen Fehlwahrnehmungen und anti-ukrainischen Stereotypen, die wiederum bei den Ukrainern Anlass werden für ihre Vorwürfe und Vorbehalte gegenüber Deutschland.

Mehr noch, die deutschen Vorbehalte gegenüber dem „ukrainischen Nationalismus“ ermöglichen den Deutschen ein sehr breites und recht flexibles Repertoire an Einstellungen: von offener Empörung und Ablehnung des vermeintlich so offensichtlichen Übels, über die Rationalisierung des Ausbleibens der Empathie und Solidarität, über das Wegrationalisieren der eigenen Schuld oder Pflicht gegenüber den Ukrainern, bis hin zur Resignation oder Begründung des eigenen Desinteresses.

Diesen Positionen gemeinsam ist aber eines: die Ukraine bleibt von den Deutschen weitgehend unverstanden. In dieser Hinsicht hat der 24. Februar 2022 vielleicht einiges geändert, aber zugleich sehen wir, dass neue Fehleinschätzungen gekommen sind, die vielleicht vorherbestimmt waren. Da wäre der schon genannte Habermas, aber auch die zahlreichen „offenen Briefe“, die die Persistenz der beschriebenen Fehleinschätzungen belegen. Im Tonfall der moralischen Überlegenheit erklären hier Deutsche den Ukrainern, dass sie mit dem Staat, der sie vernichten will, „verhandeln“ sollen. Die koloniale Arroganz gepaart mit einer erschreckenden Ignoranz gegenüber den Erfahrungen der Ukrainer geht weiter. Und darauf sind die neuesten ukrainischen Vorbehalte und Vorwürfe eine Reaktion.

Vortrag gehalten bei „Eine Brücke aus Papier“ in Uschhorod am 28.09.2023