Klaras Katze

Wladimir Rafejenko

Die Stadt verlassen oder nicht? An manchen Tagen war klar, dass es wohl sein muss. Mitte März wurde auf einer Kundgebung im Stadtzentrum Dmitrij Tschernjawskij umgebracht, ein ukrainischer Patriot, noch ein Junge. Hoffnung gibt es immer weniger, Kämpfer immer mehr. Sie werden von der lokalen Miliz und vom Geheimdienst unterstützt. Ein Großteil der Separatisten kommt aus dem kriminellen Milieu wie Gorki aus dem Volk. Dann sind da noch die Berater, die Mitarbeiter der russischen Geheimdienste, die professionellen Söldner und die Romantiker des Prozesses. Letztere können einem unendlich leidtun, was Chomas intellektuelle Zerrissenheit nur noch verstärkt.
Vielleicht haben sie ja recht, denkt er schwermütig. Vielleicht ist der Westen ja an allem schuld? Vielleicht ist er das. Aber aus irgendeinem Grund ist der Westen im Westen geblieben. Dafür kommen aus dem Osten immer mehr Leute. Die Kriminellen und die Verrückten der Stadt setzen sich durch. Nachts Schießereien und Plünderungen, tagsüber Losungen, Kundgebungen und Plakate. Suschkin betrachtete die Bewaffneten voller Angst. Sie waren dreist geworden von der Hochstimmung, die durch Waffen und Macht entsteht. Fühlten sich als Helden, weil sie eine Großstadt kampflos eingenommen hatten. Choma machte sich Gedanken um Europa, das an der Schwelle eines großen Krieges stand. Aber wenn er die betrunkenen Fremdarbeiter aus Rostow sah, dachte er, dass das Inferno seine Leute gefunden hat. Und bei allem, was passierte, machte ihm das am meisten Angst.

*

Das ganze Frühjahr und zu Beginn des Sommers kippte der von einer schrecklichen Zukunft erfüllte Himmel nach unten. Schluchzte im Regen. Es goss unerbittlich. Im Park neben dem Haus krochen so viele Nacktschnecken herum, dass einem ganz anders wurde. Die Schnecken und Regenwürmer wimmelten nur so durcheinander. Immer wieder liefen riesengroße, dreiste graue Mäuse über die Wege. In den fünfundvierzig Jahren, die Suschkin in dieser Stadt lebte, hatte er nie etwas Ähnliches gesehen. Die Obstbäume und auch die anderen trieben gleichzeitig Blüten, völlig ungeachtet der von der Natur dafür vorgesehenen Zeiten. Es blühten die Linden und Kirschen, die Faulbeer- und Apfelbäume, Kastanien und Flieder, Ebereschen und Aprikosen. So ungestüm und haltlos, dass einem die Tränen kamen. Die Natur verabschiedete sich vom Leben derer, die sich in den nächsten Monaten in die Erde legen sollten. Kompensationsmechanismen des Seins.
Von den Anhängern der Russischen Welt hielt sich Choma fern. Er konnte sich nicht in ihre Realität einleben. Sie blickten ihn mit den Augen von Aquariumfischen an. Schwammen vorbei auf den Wellen der Lethe, streiften mit ihren Flossen die Prospekte und Straßen, die Gebäude und Bäume, kosteten mit ihren weichen Lippen die Gehirne der Passanten. Sie hefteten ihren schwarz-roten Laich an die Mauern des Seins, an die Linden und Kastanien, die in voller Blüte standen. Sie brachten die wie Drahtseile gespannten Nerven ins Schwanken, sangen ihre Lieder, verbreiteten Unsinn, in den sich mitunter ein paar durchaus vernünftige Gedanken mischten. „Weg mit den Idioten!“ las Suschkin einmal auf einem schmuddeligen Transparent am Gebäude der Gebietsverwaltung. Ach ja, dachte er bewegt, das wäre doch gut. Die Frage ist nur, inwiefern das unter den Bedingungen der Okkupation machbar ist.
Und auf dem Platz schallende Stimmen. Ein sonniger Wind. Der Duft blühender Linden. Ein heiseres Lautsprecherecho. Das Heulen der riesigen Boxen. Verse sowjetischer Dichter und die Lieder der Kriegsjahre. Suschkin verspürte ein seltsames Wiedererkennen und verstand kurz darauf, worum es eigentlich ging.
Das Imperium hatte existiert und war verschwunden. Der Untergang war mit seiner Kindheit und Jugend zusammengefallen. Manchmal konnte man ein bisschen wehmütig werden, wenn man die farbigen Bildchen der Diashow betrachtete, auch Erinnerung genannt. Da sind Mama und Papa. Der Strand, die Nehrung, der Sommer im Tau, die Hände in den Himbeeren. Milch in Dreieckspackungen. Dickmilch in Glasflaschen. Das Politbüro. Die Knetemännchen aus den sowjetischen Trickfilmen. Das Märchen, wie dreißig Dreckskerle ihr Glück suchten. Aber der kleine Mann braucht keine Angst zu haben. Schlaf, mein Kleiner, heia heia, du bist doch Mamas Goldjunge. Die Kämpfer, die dieses Frühjahr in die Stadt gekommen waren, sahen schrecklicher aus.
Die Kundgebungen im Frühjahr verströmten einen bekannten Duft. Ein herbes Déjà-Vu. Was da in der Luft der Stadt Z lag, konnte man mit dem einfachen und warmen Wort „Schwindel“ bezeichnen. Es erinnerte an die roten Halstücher, die Fahnenappelle, an Sprechchöre voller Elan. Die Besten das sind wir hier, die Leninpioniere. Ein Albtraum, aber eher ein gleitender, wie der Wind an den Schläfen. Die Gehirne der Kinder berührt er kaum. Denn für sie ist das Wichtigste doch eine große Kindheit und nicht die traurige Tatsache, dass sich die Zionisten mit der amerikanischen Soldateska verschworen haben.
Ja, das war es. Stockfinster und dreist, typisch sowjetisch. Es nicht zu erkennen, war fast unmöglich. Es war immer dagewesen. In der Zeit, die die Sowjetunion brauchte, um mit dem vergossenen Blut zu versickern, war dieser Schwindel nie verschwunden. In den Neunzigern, als der langsam verfaulende Kommunismus überall stand wie kleine Aquarellpfützen, brach über Z eine Revolution der Kriminellen herein. Das Inferno erfüllte die Stadt wie ein schwarzer Penis einen weißen Hosenschlitz, fiel als pulsierendes Netz auf die Region, verschmolz mit dem Sowjetschwindel und verwandelte sich in etwas Drittes.
Auf den Fernsehschirmen wurde über die Unabhängigkeit der Ukraine geredet. Aber in Z wurde die Abhängigkeit immer stärker. Sie war drückend, beinahe narkotisch. Menschen kamen um, am Leben gebliebene, aber arg mitgenommene Geschäftsleute und Patrioten verließen die Region. Das Volk ließ sich nicht so einfach unterkriegen. Aber von wegen, ihr Kleinen, von wegen.
Haltet durch, Mitbürger, die Zukunft wird wunderbar, tönte der aktuelle Staatspräsident von den Bildschirmen. Aber die Einwohner von Z verschwanden einfach. Sie wurden auf verwilderten Friedhöfen verbuddelt. Aus nächster Nähe auf den in abendloses Licht getauchten Boulevards erschossen. Sie wurden einbetoniert, ertränkt, an den Bäumen der alten sowjetischen Schonungen aufgehängt. Ein schwarzer Wirbelsturm, der über der Stadt kreiste, sog sie ein. Und trug sie fort in wundersame Weiten, von denen Choma nur eine sehr vage Vorstellung hatte. In die Stadt Z kam das Inferno, und die Sonnenuntergänge waren wunderschön. Und die Zeit verging wie immer, aber jetzt stand nicht mehr das Gesetz über allem, sondern der Mafia-Kodex.
Und nur die Kuppeln der Kirchen. Die frühen und die späten Liturgien. Glockengeläut, Sturmläuten, Sabbat und Ramadan. Nur die Gebete der Gerechten, die der Herr trotz allem immer noch hatte, hielten den Himmel über der Stadt und der Steppe, die trunken war von der Süße des bitteren Wermuts, dem Rauschen des Windes im Gras und dem leisen Gesang der Quellen.

*

Suschkin versuchte, Ljusja zu beruhigen, streichelte ihr Haar, küsste ihren weichen, nach Minze duftenden Schamhügel und flüsterte hinein. Das geht alles vorbei, das ist bestimmt bald zu Ende. Wir haben Karneval. Ich scheiß auf solche Karnevals, sagte Ljusja. Sie sah ihn an mit ihren Augen, die groß und schwarz waren wie die Nächte über der annektierten Krim. Nichts wird zurückkommen und nichts wird bleiben.
Kannst du dich an Slawik und Klara erinnern? Letzte Nacht sind bei denen drei mit Maschinengewehren aufgetaucht. Haben sie gewarnt, dass sie ihnen eine Kugel in den Bauch jagen, wenn sie sich auf ihrer Seite noch einmal abfällig über die russische Idee äußern. Und? Suschkin setzte sich aufs Sofa und ratschte mit seinem Feuerzeug. Ja und. Ljusja zuckte mit den Schultern. Sie haben ihre Sachen gepackt, am Morgen sind sie gefahren. Als du geschlafen hast, habe ich mit Klara telefoniert. Sie hat die Schlüssel bei ihren Kollegen gelassen. Hat mich gebeten, die Katze zu nehmen und die Blumen zu gießen. Und irgendwelche Papiere aus dem Safe in ihrem Büro zu holen. Was für Papiere? Wichtige, hat sie gesagt. Ljusja zuckte wieder mit den Schultern. Na toll. Suschkins Gesicht verfinsterte sich. Deine Freundinnen, wie immer.
Das ist noch mal gut gegangen, fügte Ljusja hinzu. Sie hätten die beiden auch in den Keller des SBU-Gebäudes stecken können. Sind da nicht schon genug Leute? Und was wäre dann aus ihren Kindern geworden? Choma seufzte und blickte auf die Sonnenflecken, die über die Wand liefen.
Laut und fröhlich quietschte das Karussell vor dem Fenster. Ein Hund bellte. Ljusja wartete, dass Choma irgendwas sagt, aber er sagte nichts. Sie stand auf und ging hinaus. Fünf Minuten lang hörte Suschkin Wasserrauschen aus dem Badezimmer. Der warme Wind bauschte die Vorhänge auf. Draußen auf dem Spielplatz schrien und lachten die Kinder. Seine Augen taten weh und er dachte daran, dass er schon seit Nächten nicht mehr richtig schlafen konnte. Im Zentrum wird nachts geschossen. Er hätte gern gewusst, wer und warum und vor allem – wohin. Vielleicht ist es auch besser, das nicht zu wissen, dachte er plötzlich. Die Verteidiger der Russischen Welt plündern zu viel. Banken, Geschäfte, Privatunternehmen. Aber bei weitem nicht alle. Nur in Auswahl. Und das macht es noch schlimmer. Man erkennt die Stadt nicht wieder. Hat keine Ahnung mehr, wie man in ihr leben und was man von ihr erwarten soll.
Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Die Mitarbeiter der Stadtwerke pflanzen Blumen, reinigen die Straßen, fahren den Müll ab. Diejenigen, die Z nicht verlassen haben, gehen jeden Tag zur Arbeit. Es herrscht erstaunlich viel Ordnung, obwohl sich niemand darum kümmert. Die Menschen bleiben Menschen. Und die Stadt, die, voll wie ein Kelch, mit ihren Quellen, Teichen und Flüsschen plätschert, mit den grellgrünen Blättern der Bäume rauscht und betäubend nach Blumen duftet, bleibt eine Stadt. Obwohl sie immer mehr an eine Bühnenkulisse erinnert.
Die Regierungstruppen rücken auf Z vor und bald wird es hier Kämpfe geben. Der Krieg kommt her. Ringsum sterben längst Menschen, aber hier – Springbrunnen und Blumen. Leben im Auge des Taifuns. Ein blaues, regloses Auge, die Ruhe vor dem Sturm.
Der Duft der Blumen ist zu kräftig. Er macht einem das Atmen und das Leben schwer. Der starke Geruch beschleunigt den Puls. Schweiß und Schwüle. Der Geschmack der alltäglichsten Nahrungsmittel – Brot und Bier – ist intensiver geworden. Der Zucker ist viel zu süß, das Salz über die Maßen salzig. Von dem Tiefblau des Himmels brennen die Frontallappen, zittern die Pupillen und man bekommt Durst. Geräusche und Gefühle steigern und isolieren sich wie ein langer Schmerz. Jeder Geschlechtsverkehr wird unerträglich. Gespräche, Lächeln, Musik, der Wind. Eine wunderschöne Welt in fehlender Harmonie.
Ljusja war zurückgekommen und hatte sich aufs Sofa gesetzt, sie blickte durch die sperrangelweit geöffnete Balkontür.
Etwas ist zerbrochen, sagte Suschkin. Und das kann niemand reparieren. Kein Hamlet, keine Ophelia und auch nicht die OSZE. Jetzt nach Kopenhagen fahren, sagte Ljusja. Sich im Tivoli auf eine Bank setzen und eine rauchen. Ich will doch so gern leben, Suschkin! Na, wir leben ja irgendwie. Wir leben nicht, wir überleben. Und es wird nur noch schlimmer. Das ist erst der Anfang. Vertrau meiner Intuition.
Ljusja hat recht, dachte Choma. Obwohl es für sie leichter ist, Z zu verlassen. Außer Suschkin hat sie hier niemanden. Aber Choma hat seinen Onkel und Lisa, die Adoptivtochter seiner verstorbenen Schwester. Sie werden nicht weggehen.
Bleiben oder fliehen. Das ist die Frage. Wenn man nur wüsste, sagte Suschkin und lächelte schuldbewusst, was von all dem Traum ist und wo die Realität beginnt. Ljusja zuckte erschöpft mit den Schultern, zündete sich eine Zigarette an, verschwand in dem Rauch. Wann entscheidest du dich endlich? Verstehst du nicht, dass wir nicht bleiben können?! Morgen rede ich mit meinem Onkel. Choma versuchte, nicht in Ljusjas große Augen zu sehen und zog sich an.

*

Den ganzen Tag lang hatte er keine Zeit gefunden anzurufen. Er kam nach Hause, als es dämmerte. Seine Schritte hallten in dem leeren Hof. Die Fenster der Wohnung waren dunkel. Er ging hoch, kochte Kaffee und versuchte anzurufen. Ohne Erfolg. Er trank drei Tassen Kaffee und aß ein belegtes Brot. Setzte sich an den Beistelltisch im Wohnzimmer, zündete sich eine Zigarette an und rief vierundzwanzig Mal hintereinander an. Ging auf den Balkon, holte tief Luft und tätigte dann drei erfolgreichere Anrufe bei anderen Leuten. Dann rief er ein Taxi. Es kam ein leicht zerbeulter Schiguli. Er warf sich auf den Beifahrersitz und nannte die Adresse.
Was rufst du da ein Taxi? Der Fahrer spuckte verärgert aus dem Fenster und blickte Suschkin finster an. Das ist doch gleich um die Ecke. Da bist du zu Fuß schneller! Ich hab’s eilig! Eilig! Choma schrie, seine Stimme überschlug sich, er musste husten. Darf ich rauchen? Also, entweder, der Fahrer holte gemächlich ein Feuerzeug aus dem Handschuhfach und gab ihm Feuer, du gibst mir ’nen Fünfziger oder wir fahren gar nicht erst los. Gut, mach ich, willigte Choma sofort ein.
Irgendwo in der Ferne, wie es sich anhörte hinter den Stadtteichen, wurden Gewehrsalven abgefeuert. Vor der Windschutzscheibe lief, leicht schwankend im warmen Licht der Straßenlaterne, ein angetrunkenes Pärchen vorbei. Die Frau lachte und warf ihren Kopf in den Nacken. Sie hielt eine Zigarette zwischen zwei Fingern, deren Funken vom Winde verweht wurden.
Ich kann das ja verstehen, nickte der Fahrer. Er wendete und blickte in den Rückspiegel. In diesen Zeiten, da will man abends nicht unbedingt im Zentrum rumlaufen. Aber du musst mich auch verstehen. Mach ich ja. In Suschkins Mund vermischte sich der Tabakrauch mit dem Speichel, in dem zu viel Koffein war. Sein Herz pochte erbarmungslos. Der süßsäuerliche Geschmack von Brasilien. Er brauchte dringend einen Kognak.
Sag mal … Der Fahrer steckte sich eine zerdrückte Zigarette in den von einem roten Bart zugewachsenen Mund. Wenn’s nicht lange dauert … Also, wenn du noch einen Zwanziger drauflegst, warte ich vor dem Büro auf dich. Das ist doch ein Bürogebäude? Ja, ein Büro – Choma nickte erleichtert. Ein Büro, natürlich ein Büro. Also abgemacht? Der Taxifahrer lächelte unerwartet warm. Abgemacht, Suschkin lächelte bleich, abgemacht. Weißt du, redete er dann wie im Fieber drauf los, meine Freundin ist verschwunden. Sie ist bei einer Freundin auf Arbeit vorbeigefahren. Vor einer Stunde hat sie zuletzt jemand in dem Gebäude gesehen und jetzt ist sie immer noch nicht zu Hause. Ans Handy geht sie auch nicht! Suschkin verstummte, nahm ein paar schnelle Züge und warf die Kippe aus dem Fenster. Sie kann sonst nirgendwo sein. Verstehst du, außer mir hat sie in dieser Stadt doch niemanden … Er unterbrach sich, als er merkte, dass der Fahrer nur mit halbem Ohr zuhörte. Aber er konnte sich nicht stoppen. Kraftlos fuhr er fort, wobei er deutlich spürte, wie sinnlos das war. Ich ruf wieder an, aber sie geht nicht ran. Und dann noch mal und noch mal … Da geht einem natürlich so einiges durch den Kopf …
Wir sind da! Der Fahrer sah ihn geduldig, aber spöttisch an. Steigst du jetzt aus oder wie? Ja, natürlich. Choma fasste mit feuchter Hand nach dem Türgriff und blickte sich um. Jetzt geh schon, der Taxifahrer nickte ihm zu, ich warte. Aber beeil dich, echt jetzt. Ich geb’ dir zehn Minuten, nicht mehr. Welcher Stock? Der zweite, sagte Suschkin. Da brennt Licht im zweiten, sagte der Fahrer. Jetzt geh endlich. Aber dalli.
Auf dem Pförtnerplatz war niemand. Der Flur war leer wie die Prosa Murakamis. In den zerschlagenen Fenstern pfiff der Wind. Jeder Schritt hämmerte in den Schläfen. Die Toilettentür stand offen. Irgendwer hatte den Wasserhahn nicht richtig zugedreht, das Wasser tröpfelte vor sich hin. Suschkin drehte ihn ordentlich zu, schaltete das Licht aus und schloss die Tür. Er wollte die Treppe nehmen, drückte aber den Fahrstuhlknopf.
Die Tür zum Zimmer fünfunddreißig stand offen, ein dünner Lichtstrahl fiel in den dunklen Flur. Dunkel und leer führte er ins Endlose. Eine Tageslichtlampe brummte synkopisch. Ljusja, rief Suschkin, Ljusja. Er machte drei Schritte geradeaus und ging durch die Tür.
Sie war mit einer Axt oder etwas Ähnlichem umgebracht worden. Die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt lag sie am Fenster. Ein Bürovogel, der versucht hatte zu fliegen. Das Blut bildete einen schwarzen Spiegel. Daneben eine rote Handtasche. Ihre Jeans waren blutverschmiert, aber die Bluse leuchtete strahlend weiß.
Suschkin presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Langsam rutschte er nach unten, wobei er durch das T-Shirt die kalte, raue Oberfläche spürte. Er fasste seinen Kopf mit beiden Händen, atmete tief ein, erst dann schrie er. Irgendwo in der Ferne heulte im gleichen Ton eine Fabriksirene auf. Unter dem Tisch hervor blickte eine Katze den schreienden Suschkin aus ihren grünen Augen leidenschaftslos an. Sie roch an dem Blut, lief zur Seite und starrte aus dem Fenster, vor dem langsam ein dicker, gelber Mond vorbeiglitt.

Auszug aus dem Roman Die Länge der Tage, 2017

Übersetzung aus dem Russischen: Lydia Nagel
für Eine Brücke aus Papier, Mariupol 2018