NACHRUF

Trauer um Victoria Amelina

Schriftstellerin, Dichterin, Kriegsverbrechen-Rechercheurin

*01.01.1986 in Lwiw
† 01.07.2023 in Dnipro

Ihre Lebensdaten – geboren am 1. Januar 1986 in Lwiw, am 1. Juli 2023 in Dnipro gestorben – lassen nicht vermuten, wie bewegt ihr kurzes Leben gewesen ist, aber sie sagen doch aus, dass es eng mit der Ukraine verbunden war. Obwohl sie als Jugendliche ihrem Vater nach Kanada folgte, kehrte sie bald zurück in die Ukraine, in ihre Geburtsstadt Lwiw. Dort traf ich sie auch zum ersten Mal, in einem Café in der Armenischen Straße. Juri Durkot hatte mir von ihrem zweiten Roman erzählt, „Ein Haus für Dom“, für den er sich sich um einen deutschen Verlag bemühte. Ihre Biografie las sich nicht wie die einer Schriftstellerin und führte doch, über den Umweg eines Masterstudiums in Computertechnologie und Ausübung des erlernten Berufs, zielgenau dorthin. Das Schreiben lag in ihr, es hielt sich nur zurück, bis es kein Aufhalten mehr gab. Als wir uns trafen hatte sie schon zwei Romane und zwei Kinderbücher geschrieben. Sie war begehrt bei Literaturfestivals und wurde schnell mit Preisen ausgezeichnet. 2021 erhielt sie den ukrainisch-polnischen Joseph Conrad Literaturpreis. Seit 2022 schrieb sie auch Gedichte, die Juri Durkot und vor allem Chrystyna Nazarkewytsch ins Deutsche übertrugen.

Nach unserer ersten Begegnung in Lwiw, folgte Victoria der Einladung zum Treffen von „Eine Brücke aus Papier“, das wir 2019 zum ersten Mal in Deutschland, in München und Berlin, veranstalteten. Victoria fiel uns durch ihre Zartheit und Zurückhaltung auf. Gleichzeitig flößte sie uns Respekt ein, weil sie große Eigenständigkeit ausstrahlte. Sie war weltgewandt und doch scheu. Heute wissen wir, wie stark sie war. Sie, die Westukrainerin, hatte ihren Blick auf die Ostukraine und die Krym gerichtet, wo sich der russische Angriffskrieg 2014 als erstes in seiner Grausamkeit zeigte. Nach der erweiterten Invasion 2022, als klar wurde, dass Russland vor keinem noch so großen Verbrechen zurückschreckte, schloss sie sich den Truth Hounds an. Diese Initiative zeichnet vor Ort, unter erheblicher Gefahr, Kriegsverbrechen auf, um zu verhindern, dass sie in Vergessenheit geraten. An dieser Mission nahm Victoria Amelina teil, reiste immer wieder an die Orte der russischen Kriegsverbrechen und kümmerte sich um Kinder im Kriegsgebiet mit Programmen, die sie für sie erfand. Sie versuchte das literarische Leben im Donbas wiederzuerwecken, als sie es unternahm, das Festival New York/ Nju-Jork, eine Kleinstadt in der Nähe von Bachmut im Donezk Gebiet, neu zu beleben.

Ich erfuhr erstmals von Victorias Recherche, als sie das vergrabene Tagebuch des von Russen ermordeten Schriftstellers Volodymyr Vakulenko zusammen mit seinen Angehörigen aufspürte. Erst danach wurde Vakulenkos Leichnam in einem der Gräber von Isjum identifiziert. Wieder war es Victoria, die das Grab aufsuchte, um Zeugnis abzulegen. Ist es Zufall, dass ihr Todestag, der 1. Juli, mit dem Tag seiner Geburt zusammenfällt? Ich hatte gehofft, Victoria auf meiner Reise in diesem Frühjahr in Lwiw zu treffen. Sie antwortete mir auch sofort, als ich ihr schrieb, aber sie war gerade auf dem Rückweg von einer ihrer Missionen und kam nicht durch Lwiw. Mitte Mai führten wir dann ein Videogespräch. Sie war bei ihrem Söhnchen in Polen und wollte auch bleiben. Ich fand, dass sie erschütternd mitgenommen aussah, aber sie lächelte meine Besorgnis weg. Sie würde vorerst bei ihrem Kind bleiben, wollte sie mich trösten. Und doch saß sie in jener „Ria Lounge“ Pizzeria in Kramatorsk, als die russische Missile einschlug.

Eine Brücke aus Papier 2019 | Fotos: © Mila Pavan

Am 8. Juli erschien der Nachruf des Ukrainisten Alexander Kratochvil auf Victoria Amelina (1986-2023) in der Berliner taz. Hier wird das Werk der von einer russischen Rakete getöteten Schriftstellerin gewürdigt.

Im Kratochvils Nachruf für Victoria wird auf unsere Website verlinkt und auf den Auszug aus ihrem Roman „Ein Haus für Dom" hingewiesen, der in der Übersetzung von Juri Durkot unter Lektüre nachzulesen ist.