UKRAINISCH-DEUTSCHES SCHRIFTSTELLER:INNENTREFFEN IM KRIEG
Das Literatur- und Kunstprojekt EINE BRÜCKE AUS PAPIER brachte seine ukrainisch-deutschen Schriftsteller:innentreffen auf den Weg, als die Ukraine 2014 von Russland in einen Krieg gezwungen wurde, der hierzulande bald vergessen war. Aber diese Begegnungen, die wir mit wechselnden Teilnehmenden jährlich in einer anderen Stadt veranstalteten, riefen den andauernden Kriegszustand in Teilen der Ukraine immer wieder ins Bewusstsein. Die Namen der Städte, die wir nach und nach aufsuchten, verweisen heute auf die Angriffe gegen das Land und die Zerstörungen, ausgeübt durch die russische Armee: Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Dnipro, Kyjiw, Charkiw, Mariupol. Das Treffen in Mariupol 2018 ist durch den Film Nachtzug nach Mariupol von Wanja Nolte dokumentiert, abrufbar auf paperbridge.de. Nachdem die Stadt nahezu dem Erdboden gleich gemacht wurde, trägt der Film nun den Charakter eines schmerzlichen historischen Dokuments. Allerdings hatten auch schon die Texte und Vorträge vorheriger Treffen die zunehmende Anspannung und Bedrohungslage in der Ukraine zum Thema gemacht.
Der am 24. Februar 2022 offen ausgebrochene russische Angriffskrieg, der nicht nur die gesamte Ukraine, sondern letztlich auch Europa trifft, hat verhindert, dass „Eine Brücke aus Papier“ in diesem Jahr wie vorgesehen in Mykolajiw nahe des Schwarzen Meeres veranstaltet werden konnte. Vielmehr entstand eine Fluchtbewegung in umgekehrter Richtung, innerhalb der Ukraine und aus der Ukraine nach Westen. Unter den oft traumatisierten Geflüchteten sind Schriftsteller:innen unseres Netzwerks – häufig begleitet von ihren Kindern und deren Großmüttern. Es lag nahe, sie zusammenzurufen und hierzulande mit den deutschen und deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Austausch zu bringen. Die in München stattfindende Veranstaltung „Mit dem Angstkoffer unterwegs“, Auftakt für die diesjährige Zusammenkunft, geht aus dieser Fluchterfahrung unmittelbar hervor. Ihr folgt ein dreitägiges „Ukrainisch-deutsches Schriftsteller:innentreffen im Krieg“, das erstmals in Weimar stattfindet – auf Einladung der Klassik Stiftung Weimar, insbesondere der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, und in Kooperation mit dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Weimar genießt als Klassik-, Musik- und Universitätsstadt auch in der ukrainischen Kulturwelt großes Renommee. Die thüringische Stadt mit ihrer wechselvollen Geschichte von Klassik und klassischer Moderne über die Weimarer Republik, die NS-Diktatur mit dem KZ Buchenwald und die DDR bis zum jetzigen Selbstverständnis als Kulturstadt ist bestens geeignet als Standort für den ukrainisch-deutschen Austausch, an dem wie immer auch Historiker:innen teilnehmen. Das Themenjahr Sprache der Klassik Stiftung, das Übersetzungen als Kulturleistung miteinbezieht und die Ostmitteleuropa-Orientierung der Bibliothek bieten Anknüpfungspunkte.
In Weimar stellen die Schriftsteller:innen Themen und Texte vor, die ihnen der Krieg mitten in Europa abverlangte. „Schreiben im Krieg – Kriegstagebücher“, „Schreiben im Exil“, „Ukrainische Literatur und Kultur in Zeiten des Angriffskriegs“, „Ukrainische Literaturgeschichte“ – so lauten manchen Überschriften, zugleich sind Themen der deutschsprachigen Literatur zu hören, die die Problematik der Gegenwart widerspiegeln. Eine Annäherung, nicht mehr und nicht weniger, eine Brücke aus Papier.
Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist eine Archiv- und Forschungsbibliothek für die Literatur- und Kulturgeschichte mit besonderem Schwerpunkt auf der Epoche zwischen 1750 und 1850. Sie ist heute Teil der Klassik Stiftung Weimar mit ihren Parkanlagen und Schlössern, ihren Museen und dem Goethe- und Schiller-Archiv. Dieses Ensemble bildet Sammlungszusammenhänge, die vor allem durch die Weimarer Zeit um 1800 geprägt wurden. Seit 1797 hatte Johann Wolfgang von Goethe die Oberaufsicht über die Bibliothek und förderte den Aufbau der Sammlung. Sie war zugleich Arbeitsbibliothek der Weimarer Klassik mit Wieland, Goethe, Herder und Schiller als Lesern, Ausleihenden und Übersetzern.
Herzogin Anna Amalia gab den Anstoß für die Unterbringung der herzoglichen Büchersammlung. Sie befindet sich seit 1766 im Grünen Schloss mit einem zentralen, mehrgeschossigen Bibliothekssaal, dem »Rokokosaal«. 1991 wurde die Bibliothek nach der größten Förderin in Herzogin Anna Amalia Bibliothek umbenannt, das Historische Bibliotheksgebäude gehört seit 1998 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Im Jahr 2005 konnte zusätzlich das neue Studienzentrum mit modernen Funktionsbereichen und dem »Bücherkubus« als Herzstück der Anlage bezogen werden.
Das 2004 durch den Brand schwer beschädigte historische Gebäude wurde bis 2007 saniert. Es bildet heute zusammen mit dem Magazin und dem Studienzentrum einen Bibliothekscampus. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek beherbergt Sammlungen vom 9. bis zum 21. Jahrhundert, die laufend ergänzt, erschlossen und mit aktuellen Forschungsdaten und -literatur zugänglich gemacht werden.
Durch die dichte Überlieferung an Literatur und Übersetzungen wird in der Sammlung Goethes Idee der »Weltliteratur« greifbar. »Übersetzen!« ist Thema auf dem »Schreiber-Sofa im Bücherkubus«, ein Format für Austausch und Gespräch im zentralen Raum der Bibliothek.
Deutschland
Marcel Beyer aus Dresden
Heike Geißler aus Leipzig
Thomas Lang aus München
Birgit Müller-Wieland aus München (nur am 05.10.2022 in München)
Kerstin Preiwuß aus Leipzig
Michael Zeller aus Wuppertal
Ukraine
Juri Durkot aus Lwiw
Oleksandr Irwanez aus Irpin, zurzeit Berlin
Khrystyna Kozlovska aus Iwano-Frankiwsk, zurzeit Leipzig
Andrej Krasnjaschtschich aus Charkiw, zurzeit nach Poltawa evakuiert
Kateryna Mishchenko aus Kyjiw, zurzeit Berlin (auch am 05.10.22 in München)
Halyna Petrosanjak aus Tscheremoschna/Karpaten, jetzt Basel/Schweiz
Jurko Prochasko aus Lwiw
Natalka Sniadanko aus Lwiw, zurzeit Marbach am Neckar (auch am 05.10.2022 in München)
Oksana Stomina aus Mariupol, zurzeit München
Margaryta Surzhenko aus Luhansk und Kyjiw, zurzeit Leipzig
Geisteswissenschaftler:innen
Guido Hausmann aus Regensburg
Steffen Höhne aus Weimar
Alexander Kratochvil aus Berlin und Prag
Tanja Penter aus Heidelberg
Karl Schlögel aus Berlin
Künstlerische Leitung
Verena Nolte, München
Projektbetreuung
Anita Fellner und Anton Fellner, München
Marit Borcherding, München
Filmdokumentation
Wanja Nolte, München
Dolmetscher:innen
Anna Kauk
Halyna Kotowski
Natalya Kulabucha
Moderation
Chrystyna Nazarkewytsch
Verena Nolte
Ernest Wichner
Die Übersetzer
Deutsch-Ukrainisch
Juri Durkot
Oleksandra Kovaleva
Ludmyla Nor
Halyna Petrosanyak
Jurko Prochasko
Vasyl Lozynskyj
Natalija Shymon
Natalka Sniadanko
Ukrainisch–Deutsch
Claudia Dathe
Rita Grinko
Beatrix Kersten
Alexander Kratochvil
Jutta Lindekugel
Maria Weissenböck
Jakob Wunderwald
Russisch–Deutsch
David Drevs
Stefan Schneider
Herzogin Anna Amalia Bibliothek – Bücherkubus
Platz der Demokratie 4
99423 Weimar
Das Treffen ist öffentlich.
Es wird simultan gedolmetscht.
Der Eintritt ist frei.
Angebot der Klassik Stiftung Weimar an „Eine Brücke aus Papier“:
18.00–20:00 Uhr
„Den Osten übersetzen“
Ein Gespräch mit Olga Tokarczuk, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein in der Reihe „Übersetzen! Das Schreiber-Sofa im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek“
10.00–13.00 Uhr
Begrüßung und Einführung
Leseperformance: Vorstellung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Lesungen und Gespräch
10.00–11.30 Uhr
Oksana Stomina
„Mariupol. Tagebuch einer Überlebenden“
Juri Durkot
„Eine Niederlage kommt für uns nicht in Frage“ ... Aus dem Kriegstagebuch in Die Welt
Marcel Beyer
„Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha“
Oleksandr Irwanez
„Auf der Suche nach einem russischen Jaspers“
Kerstin Preiwuß
„Heute ist mitten in der Nacht“
Khrystyna Kozlovska
„Gemäß den Vertragsbedingungen“
Jurko Prochasko
„Vorstellungsvermögen und Grauen“
11.30 Uhr
Pause
11.45–13.00 Uhr
Andrej Krasnjaschtschich
„Charkiw: Unter Bomben. Poltawa: Evakuiert“
Michael Zeller
„Die Kastanien von Charkiw“ – Platz des 23. August“
Natalka Sniadanko
1947 ... aus dem Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“
Heike Geißler
„Ja, wir sterben jetzt“ aus dem Roman „Die Woche“
Halyna Petrosanjak
„Du liegst/zerrissen/eingewickelt/im kalten Todeshemd/aus schwarzem Plastik“ – Gedichte
Thomas Lang
Brief an meine Eltern, 3. Mai 2021 „dies ist der erste Brief, den ich euch seit etwa vierzig Jahren schreibe“
Margaryta Surzhenko
„Apartment der Kyjiwer Sünden“
15.00–17.00 Uhr
Exkursion (nur Teilnehmende)
mit Paul Kahl, Literatur- und Kulturhistoriker
17.30–18.30 Uhr | Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Vortrag – Steffen Höhne
„Von ,Halb-Asien’ nach ,Europa’: Die Bukowina als europäische Kulturregion“
Diskussion
10.00–11.00 Uhr
Vortrag – Tanja Penter
„Olgas Tagebuch (1941–1944): Deutscher Vernichtungskrieg und doppelte Diktaturerfahrung“
Diskussion mit den anwesenden Autorinnen/Autoren von Kriegstagebüchern 2022
11.30 Uhr
Pause
11.45–12.45 Uhr
Vortrag – Guido Hausmann
„Kollektive Erinnerungen an militärische Tote in der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert“
Diskussion
14.00–16.00 Uhr
Exkursion (nur Teilnehmende)
Führung durch die Herzogin Anna Amalia Bibliothek mit Reinhard Laube
19.00–21.30 Uhr
Lange Lesenacht
mit allen teilnehmenden Schriftsteller:innen
10.00–12.30 Uhr
Exkursion (nur Teilnehmende)
in die Gedenkstätte des KZ Buchenwald
14.30 Uhr
Vortrag – Karl Schlögel
„Wie von einem Blitzstrahl erhellt. Deutsche Szene nach dem 24. Februar 2022
Diskussion
15.45 Uhr
Pause
16.00–17.00 Uhr
Vortrag – Alexander Kratochvil
„Übersetzen in Zeiten des Krieges“
Diskussion
17.30–18.00 Uhr
Resümee des Treffens, Planung 2023
Förderung
Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland
Kulturreferat der Landeshauptstadt München
Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V.
Kooperation
Klassik Stiftung Weimar – Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Deutsches Literaturinstitut Leipzig
Münchner Volkshochschule
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt
Literaturportal Bayern
Lviv City of Literature